"Transfer" - читать интересную книгу автора (Lem Stanislaw)IDas ging bereits seit vier Tagen so. Vom ersten Augenblick an. Stets blieb ich hinter allem, was geschah, zurück, und der ständige Versuch, irgendein Gespräch oder eine Situation zu verstehen, verwandelte meine Spannung allmählich in ein Gefühl, das der Verzweiflung verdammt nahe kam. Ich war fest überzeugt, daß die anderen dasselbe fühlten. Aber wir sprachen nicht darüber, auch nicht, wenn wir allein waren. Es wurde nur über unseren Kraftüberschuß gewitzelt, übrigens mußte man sich wirklich in acht nehmen: am Anfang, als ich aufstehen wollte, sprang ich bis zur Decke, und jedes Ding, das ich in die Hand nahm, kam mir leicht wie Papier vor. Ich lernte dann ziemlich schnell den eigenen Körper zu kontrollieren. Bei der Begrüßung zerquetschte ich keinem mehr die Hand. Das war einfach. Leider aber am unwichtigsten. Mein Nachbar von links, korpulent, braungebrannt, mit etwas allzu leuchtenden Augen — vielleicht hatte er Kontaktlinsen —, verschwand urplötzlich, weil sich sein Sessel an den Seiten erweiterte: die Lehnen gingen hoch und vereinigten sich dann, indem sie eine Art eierförmiger Kokon bildeten. Noch ein paar Leute verschwanden in derartigen Kabinen. Sie erinnerten an aufgequollene Sarkophage. Was machten sie nun da drin? Auf derartige Erscheinungen stieß ich immerzu und versuchte — wenn sie nicht unmittelbar mit mir zu tun hatten —, sie nicht anzustarren. Interessant: Menschen“ die uns — als sie erfahren hatten, was wir eigentlich sind — anglotzten, behandelte ich eher gleichmütig. Ihr Staunen ging mich wenig an, obwohl mir sofort klar wurde, daß kein Funke Bewunderung dahintersteckte. Unangenehm wirkten viel eher die, die uns umsorgten — Mitarbeiter des ADAPT. Den stärksten Widerwillen erweckte Doktor Abs, da er mich behandelte wie der Arzt einen anomalen Patienten, indem er — übrigens recht glaubhaft — vorgab, es mit einem völlig Normalen zu tun zu haben. Wenn dies nicht mehr möglich war, machte er Witze. Ich hatte von seinem jovialen Gehabe genug. Jeder Passant — bildete ich mir ein —, der darüber befragt werden würde, hätte mich oder Olaf als seinesgleichen angesehen — nicht wir selbst waren ihm unheimlich, sondern unser vergangenes Schicksal: das war das Ungewöhnliche. Doktor Abs aber, wie jeder ADAPT-Mitarbeiter, wußte es besser — er wußte, daß wir tatsächlich anders sind. Dieses Anderssein war keine Auszeichnung, sondern ein Hindernis bei der Verständigung, beim einfachsten Wortwechsel“ ach was — beim Offnen einer Tür, da doch die Türklinken vor — ich weiß nicht mehr genau — fünfzig oder sechzig Jahren zu existieren aufgehört haben. Der Start erfolgte unerwartet. Die Schwere änderte sich um keinen Deut, in das hermetisch abgeschlossene Innere drangen keinerlei Töne, über die Decke liefen rhythmisch die Schattenvielleicht infolge der mehrjährigen Routine meines alten Instinkts wußte ich in einem gewissen Augenblick, daß wir im Raum schwebten; denn das war eine Gewißheit, keine Vermutung. Noch etwas interessierte mich aber. Ich ruhte, halbliegend, die Beine ausgestreckt, reglos. Allzu leicht ließen sie mir das durchgehen. Sogar Oswamm hatte sich nicht besonders dagegen gesträubt. Die Gegenargumente, die ich von ihm und von Abs zu hören bekam, konnten nicht überzeugen — ich selbst würde da schon bessere finden. Sie beharrten nur darauf, daß jeder von uns einzeln fliegen müßte. Und nicht einmal die Tatsache, daß ich Olaf rebellisch stimmte — denn sonst wäre er wohl einverstanden gewesen, noch länger dort zu bleiben-, nahmen sie mir übel. Das gab mir zu denken. Ich erwartete Komplikationen, irgend etwas, was im letzten Moment meinen Plan zunichte machen würde. Aber nichts dergleichen geschah, und nun flog ich. Diese letzte Reise sollte in einer Viertelstunde zu Ende gehen. Augenscheinlich hatte das, was ich mir ausgedacht hatte, wie auch die Haltung, die ich einnahm, um eine frühere Abfahrt zu erzwingen, sie kaum überrumpelt. Sie hatten wohl diesen Typ der Reaktion katalogisiert, es war eine Verhaltensstereotype, die solchen Draufgängern wie mir eigen war und die sie auf ihren psychotechnischen Tafeln mit einer entsprechenden Ordnungszahl versahen. Sie erlaubten mir zu fliegen — warum? Weil die Erfahrung ihnen sagte, daß ich damit nicht fertig werden würde? Wie konnte es aber dazu kommen, wenn diese ganz „selbständige“ Eskapade nur aus dem Flug von einem Bahnhof zum anderen bestand, wo bereits jemand vom irdischen ADAPT warten sollte, und alles, was ich zu tun hatte, darauf hinauslief, jenen Menschen an der verabredeten Stelle zu finden? Da geschah etwas. Ich hörte erhobene Stimmen. Ich lehnte mich hinaus aus meinem Sessel. Ein paar Reihen vor mir schubste eine Frau die Stewardeß weg, die mit einer verlangsamten, automatischen Bewegung, wie unter Einfluß dieser — gar nicht so starken — Abwehrbewegung zwischen den Sesseln rückwärts ging. Die Frau wiederholte: „Nein, das laß ich nicht zu! Dies soll mich nicht berühren!“ Das Gesicht der Schreienden konnte ich nicht sehen. Ihr Reisegefährte faßte sie an der Schulter, redete beruhigend auf sie ein. Was bedeutete diese Szene? Die anderen Passagiere beachteten sie nicht. Wieder einmal überkam mich das Gefühl unwahrscheinlicher Fremdheit. Von unten sah ich die Stewardeß an, die bei mir stehengeblieben war und mich — wie schon vorheranlächelte. Es war kein rein äußerliches Lächeln der pflichtschuldigen Höflichkeit, das die Aufregung über den Vorfall maskierte. Sie gab nicht vor, ruhig zu sein, sie war es wirklich. „Möchten Sie etwas trinken? Prum, Extran, Morr, Cidre?“ Eine melodische Stimme. Ich schüttelte verneinend den Kopf. Ich wollte ihr gerne etwas Nettes sagen, brachte es aber nur zu der abgedroschenen Frage: „Wann landen wir?“ „In sechs Minuten. Möchten Sie etwas essen? Sie brauchen sich nicht zu beeilen. Man kann hier auch nach der Landung bleiben.“ „Danke, nein.“ Sie ging. In der Luft, dicht vor meinem Gesicht, auf dem Hintergrund der nächsten Sessellehne, leuchtete — wie mit dem Ende einer glühenden Zigarette geschrieben — die Aufschrift STRATO auf. Ich beugte mich vor, um zu sehen, wie diese Inschrift entstanden war, und zuckte zusammen. Die Sessellehne hinter meinem Rücken paßte sich an und umfaßte mich elastisch. Ich wußte bereits, daß die Möbel jeder veränderten Haltung entgegenkommen, nur vergaß ich es immer wieder. Es war nicht angenehmungefähr so, als ob jemand jede meiner Bewegungen verfolgen würde. Ich wollte zu meiner vorherigen Haltung zurückkehren, tat es aber wohl zu energisch. Der Sessel verstand es falsch und klappte fast auseinander, wie ein Bett. Ich fuhr hoch. So eine Dummheit! Mehr Beherrschung! Die rosa STRATO-Buchstaben zuckten und flossen schon in andere hinüber: TERMINAL. Keine Erschütterung, Warnung, kein Pfiff. Nichts. Nun erklang ein ferner Ton wie von einem Posthorn, vier ovale Türen am Ende der Gänge zwischen den Sitzplätzen öffneten sich, und in das Innere drang ein dumpfes, allumfassendes Rauschen: Meeresrauschen. Die Stimmen der sich von ihren Sitzen erhebenden Passagiere versanken in diesem Rauschen spurlos. Ich blieb sitzen, sie aber gingen hinaus, die Silhouettenreihen leuchteten auf dem Hintergrund der äußeren Lichter grün, lila, purpurn aufein Maskenball. Nun waren alle draußen. Ich stand auf. Mecha nisch zog ich meinen Pullover herunter. Ein irgendwie dummes Gefühl, so mit leeren Händen dazustehen. Durch die offene Tür zog ein kühler Hauch. Ich drehte mich um. Die Stewardeß stand an der Trennwand, ohne sie mit dem Rücken zu berühren. Auf ihrem Gesicht blieb dasselbe heitere Lächeln, nun zu den leeren Sesselreihen zugewandt, die sich jetzt langsam zusammenzurollen und — zulegen begannen, wie fleischige Blumen, die einen schneller, die anderen etwas langsamer — es war die einzige Bewegung in dem alles erfüllenden, durch die ovalen Oeffnungen drängenden langgezogenen Rauschen, das an offenes Meer denken ließ. „Ich will nicht, daß dies mich berührt!“ Plötzlich fand ich etwas Ungutes in ihrem Lächeln. Am Ausgang sagte ich: „Auf Wiedersehen…“ „Stets zu Diensten.“ Die Bedeutung dieser Worte, die im Munde einer hübschen, jungen Frau recht eigenartig klangen, wurde mir nicht sofort klar, während ich, ihr schon den Rücken kehrend, mich aus der Tür hinauslehnte. Ich wollte meinen Fuß auf die Treppenstufe setzen, aber es gab keine Stufe. Zwischen dem Metallkörper und dem Bahnsteigrand gähnte eine meterbreite Tiefe. Ich verlor das Gleichgewicht — auf eine derartige Falle unvorbereitet —, machte einen tolpatschigen Sprung und, bereits in der Luft, spürte ich den Zug einer unsichtbaren Kraft, die mich von unten auffing, so daß ich über die Leere hinwegschwebte und dann ganz weich auf eine weiße Oberfläche gestellt Wurde, die mir elastisch nachgab. Bei diesem Flug mußte ich wohl kaum ein intelligentes Gesicht gemacht haben; ich fühlte belustigte Blicke — so schien es mir jedenfalls —, drehte mich dann schnell um und ging den Bahnsteig entlang. Das Geschoß, mit dem ich gekommen war, ruhte in einem tiefen Bett, von dem Rand der Bahnsteige durch eine absolut ungesicherte Leere getrennt. Wie von ungefähr näherte ich mich dieser Leere und fühlte zum zweiten Male den unsichtbaren Druck, der mich die weiße Fläche nicht überschreiten ließ. Ich wollte nun die Quelle jener sonderbaren Kraft suchen, doch urplötzlich war mir, als ob ich erwachte: ich befand mich auf der Erde. Die Welle der Vorbeigehenden zog mich mit sich: geschubst, begab ich mich im Gedränge vorwärts. Es verging eine Weile, ehe ich die riesigen Ausmaße dieser Halle richtig erkannte. War es übrigens eine Halle? Keinerlei Wände; eine weiße, glitzernde, in der Höhe aufgehaltene Explosion von unwahrscheinlichen Flügeln, zwischen ihnen — Säulen, die nicht aus irgendeinem Material, sondern aus schwindelerregender Bewegung aufschossen. Hochstürmende, riesige Wasserfälle einer Flüssigkeit, die dichter als Wasser war, von innen her mit bunten Scheinwerfern erleuchtet? Nein; gläserne senkrechte Tunnel, durch die verwischte Unmengen von Fahrzeugen nach oben flitzten? Nun wußte ich nichts mehr. Immerfort geschubst und geschoben in der emsig eilenden Menge, versuchte ich auf einen leeren Platz zu gelangen, aber leere Plätze gab es hier keine. Um einen Kopf größer als die, welche mich umringten, sah ich, wie das nun leere Geschoß sich entfernte — nein, wir waren es, die mitsamt dem ganzen Bahnsteig vorwärts schwammen. Von der Höhe schossen Lichter herab, in denen die Menge funkelte und irisierte. Nun eine Fläche, auf der wir zusammengedrängt standen, die aber nach oben zu führen begann. Unten, weit schon, sah ich doppelte weiße Streifen, voller Menschen, mit schwarzen, gähnenden Hohlräumen, die reglosen Schiffskörper entlang — solche Schiffe wie das unsere gab es Dutzende —, der bewegliche Bahnsteig kurvte, beschleunigte sein Tempo, ging zu höheren Ebenen über. Schnelle längliche Schatten flatterten darüber — ihr Luftzug sträubte den Stehenden das Haar-, zitterten über unglaubliche, jeder Stütze entbehrende Viadukte mit länglichen Streifen von Signallichtern; dann teilte sich die uns tragende Ebene, sie trennte sich entlang unsichtbarer Striche, mein Teil glitt durch Innenräume voller stehender und sitzender Menschen, die von vielen kleinen Glitzerlichtern umgeben waren, als ob sie lauter buntes Feuerwerk wären. Ich wußte nicht, wo ich hinsehen sollte. Vor mir stand ein Mann in etwas Flaumigem, das unter Lichteinwirkung wie Metall opalisierte. Er hatte sich bei einer scharlachrot gekleideten Frau untergehakt. Ihr Kleid hatte ein Muster aus großen Augen, fast wie Pfauenaugen, und diese Augen zwinkerten. Nein, es war keine Illusion: die Augen ihres Kleides öffneten und schlossen sich wirklich. Der Gehsteig, auf dem ich hinter den beiden anderen unter Dutzenden von Menschen stand, beschleunigte seine Fahrt noch mehr. Zwischen weiß-rauchigen Glasflächen öffneten sich bunt beleuchtete Passagen mit durchsichtigen Decken, die ohne Unterlaß durch Hunderte von Füßen auf dem höheren, nächsten Stock getreten wurden; das allumfassende Rauschen ergoß oder verdichtete sich wieder, wenn Tausende mir unverständliche, menschliche Stimmen und Töne — die aber für die anderen von Bedeutung waren — wieder von einem Tunnel auf dieser Reise mit unbekanntem Ziel verschluckt wurden. Tiefer, auf weiteren Ebenen, wurde die Umgebung ständig von vorbeifliegenden, mir unbekannten Fahrzeugen durchkreuzt — vielleicht Flugkörpern — da sie manchmal schräg nach oben oder nach unten gingen, sich in den Raum hineinbohrten, derart, daß ich instinktiv einen fürchterlichen Zusammenprall erwartete, denn ich sah keine Führungsschiene, überhaupt keine Schienen —, falls es Luftbahnen sein sollten. Hörten diese verschwommenen Orkane der Eile auch nur für einen Augenblick auf, So tauchten hinter ihnen majestätisch langsame Riesenebenen voller Menschen auf, wie fliegende Landungsplä tze, die in verschiedene Richtungen führten, sich kreuzten, schwebten, durch perspektivische Täuschung ineinander überzugehen schienen. Das Auge fand kaum einen Ruhepunkt, weil die gesamte Architektur der Umgebung einzig aus Bewegung zu bestehen schien, aus Veränderungen. Sogar das, was ich ursprünglich für eine fliegende Decke hielt, bestand aus übereinander hängenden Stockwerken. Plötzlich drang in alle Biegungen der Ebene, ins Innere der Tunnel, durch die wir flogen, in die Gesichtszüge der Menschen, durch die Glasdecken und rätselhaften Säulen filtriert, von den silbernen Flächen reflektiert, ein schwerer, purpurner Glanz, als ob irgendwo in der Ferne, in der Mitte dieses Riesenbaues, ein Atomfeuer ausgebrochen wäre. Das Grün der immerfort hüpfenden Neonlichter wurde schmutzig, die Milch der parabelförmigen Stützpfeiler färbte sich rosig. Ich betrachtete diese plötzliche Sättigung der Luft mit einem roten Schein als Anzeichen einer Katastrophe. Aber niemand beachtete die Veränderung im geringsten, und ich selbst könnte nicht einmal sagen, wann sie aufgehört hat. An den Rändern unseres Gehsteigs erschienen schnell rotierende grüne Kreise, wie in der Luft hängende Neonringe. Dann ging ein Teil der Menschen auf die heranrückende Abzweigung eines anderen Steigs oder einer schiefen Ebene; ich sah, daß man die grünen Linien gefahrlos überqueren konnte, als ob sie nicht materiell wären. Ich ließ mich eine Zeitlang willenlos von dem weißen Gehsteig tragen, bis mir die Idee kam, daß ich vielleicht schon außerhalb des Bahnhofs wäre und diese unglaubwürdige Landschaft aus verschiedenartig gebogenem Glas, das ständig fast wie zu einem Flug anhob, eben die Stadt war — die andere aber, die ich verließ, womöglich nur in meinem Gedächtnis existierte. „Entschuldigung“, tippte ich die Schulter des pelzgeschmückten Mannes, „wo sind wir?“ Beide sahen sie mich an. Ihre Gesichter, die sie mir entgegenhoben, trugen den Ausdruck von Überraschung. Ich hegte die schwache Hoffnung, daß dies nur durch meine Größe verursacht würde. „Auf dem Polydukt“, sagte der Mann. „Welchen Kontakt haben Sie?“ Ich verstand überhaupt nichts. „Sind wir… sind wir noch auf dem Bahnhof?“ „Klar…“, erwiderte er, doch etwas zögernd. „Und… wo befindet sich der Innere Kreis?“ „Den haben Sie bereits verpaßt. Sie müssen wiederholen.“ „Einen besseren Raster bekommen Sie vom Merid“, mischte sich da die Frau ein. Alle Augen ihres Kleides schienen mich mit mißtrauischem Staunen zu betrachten. „Raster?“ wiederholte ich ratlos. „Ja, dort“, sie zeigte auf eine durch den heranschwimmenden grünen Kreis sichtbare leere Anhöhe mit schwarz-silbrigen, gestreiften Seiten, wie der Rumpf eines etwas komisch angemalten, auf der Seite liegenden Schiffs. Ich dankte und ging vom Gehsteig weg, wohl an der falschen Stelle, da mir die Geschwindigkeit fast die Beine lähmte. Ich fing mich wieder, erlangte das Gleichgewicht, drehte mich dabei aber derart, daß ich nicht wußte, nach welcher Seite ich jetzt gehen sollte. Ich überlegte, was da zu tun wäre. Inzwischen hatte sich der Ort meines Umsteigens ziemlich weit von der schwarz-silbrigen Anhöhe entfernt, die mir die Frau gezeigt hatte, ich konnte sie nicht mehr finden. Da die Mehrheit der neben mir Stehenden auf eine schiefe Ebene hinüberging, die nach oben führte, tat ich dasselbe. Bereits hier sah ich eine riesige, reglos in der Luft brennende Inschrift DUKT CENTR — die weiteren Buchstaben entgingen dem Auge, sie waren zu riesenhaft. Lautlos wurde ich auf einen kilometerlangen Bahnhof hinaufgetragen, von dem soeben ein spindelförmiges Schiff abfuhr, das beim Steigen seinen lichtdurchlöcherten Boden zeigte. Vielleicht war diese walartige Gestalt auch ein Bahnsteig, und ich befand mich auf dem „Rastet“. Ringsum war Leere, so daß ich nicht einmal jemanden fragen konnte. Ich befand mich auf dem verkehr 14 ten Weg. Ein Teil meines „Bahnsteigs“ bestand aus flachgedrückten Räumen ohne Vorderwände. Näher kommend sah ich eine Art von schwach beleuchteten, niedrigen Boxen, in denen reihenweise schwarze Maschinen parkten. Ich hielt sie für Autos. Aber als die zwei, die mir am nächsten waren, sich herausschoben und — ehe ich Zeit hatte zurückzutreten — vorbeifuhren, indem sie sofort eine große Schnelligkeit entwickelten, sah ich — ehe sie in der Perspektive parabolischer Queren verschwanden —, daß sie keinerlei Räder, Fenster oder Türen hatten, aerodynamisch wie riesige, schwarze Tropfen. „Autos oder nicht“, dachte ich, „jedenfalls ist es wohl ein Parkplatz?“ Vielleicht der „Rastet“? Ich meinte, das Beste wäre zu warten, bis jemand käme, dann könnte ich mit ihm fahren, oder zumindest würde er mir etwas sagen. Mein Bahnsteig, leicht angehoben wie der Flügel eines unmöglichen Flugzeugs, blieb aber leer. Nur die schwarzen Maschinen entglitten einzeln oder zu mehreren ihren Metallunterschlüpfen und entfernten sich immer in derselben Richtung. Ich ging bis an den Bahnsteigrand, bis sich wieder die unsichtbare elastische Kraft meldete, die Sicherheit verhieß. Der Bahnsteig hing wirklich in der Luft, durch nichts gestützt. Als ich den Kopf hob, sah ich andere, die ihm ähnlich waren, reglos im Raum schweben, mit gelöschten Lichtern; an anderen wieder, wo die Schiffe ankamen, brannten die Lichter. Es waren keine Raketen, nicht einmal Geschosse wie das erste, das mich von der Luna brachte. Ich stand solange, bis ich auf dem Hintergrund irgendwelcher Hallen — übrigens wußte ich nicht, ob sie eine Widerspiegelung dieser hier oder Realität waren — feurige rhythmisch durch die Luft segelnde Buchstaben sah: SOAMO SOAMO SOAMO Pause, ein blaues Leuchten und dann NEONAX NEONAX NEONAX. Vielleicht Namen von Stationen, vielleicht Reklame von Produkten. Sie sagten mir gar nichts. Höchste Zeit, diesen Mann aufzufinden, dachte ich, drehte mich um, fand einen in der umgekehrten Richtung fließenden Gehsteig und fuhr auf ihm herunter. Es erwies sich, daß es nicht dieselbe Ebene und nicht einmal die Halle war, von der ich nach oben gelangte: ich erkannte es am Fehlen der großen Säulen. Vielleicht aber waren die Säulen irgendwohin verzogen; möglich schien mir alles. Ich befand mich in einem ganzen Wald von Springbrunnen; weiter fand ich einen weißen und rosa Saal, voller Frauen. Im Vorbeigehen schob ich wie von ungefähr meine Hand in den Strom des beleuchteten Springbrunnens, vielleicht weil es angenehm war, irgend etwas auch bloß ein bißchen Bekanntes anzutreffen. Ich spürte aber nichts dabei; denn dieser Springbrunnen hatte kein Wasser. Nach einer Weile schien mir, daß ich Blumenduft spürteIch legte meine Hand an die Nase. Die Hand roch wie tausend Toilettenseifen. Unwillkürlich trocknete ich sie an meiner Hose. Ich stand bereits vor dem Saal, der voller Frauen, nichts als Frauen war. Es sah nicht nach einem Vorraum von Damentoiletten aus, aber das war am Ende nicht sicherIch wollte nicht fragen, kehrte also um. Ein junger Mann, kostümiert, als wäre etwas wie zerfließendes Quecksilber an seinen Schultern zu Puffärmeln verarbeitet und um die Hüften hauteng zusammengezogen, unterhielt sich mit einem blonden Mädchen, das den Rücken gegen den Springbrunnen lehnte. Das Mädchen trug ein ganz gewöhnliches helles Kleid, das mir etwas Mut gab. Es hielt einen Strauß blaßrosa Blumen, steckte das Gesicht hinein und lachte mit den Augen den Jungen an. Im letzten Moment, als ich bei ihnen stand und bereits den Mund aufmachte, erkannte ich, daß die junge Dame diese Blumen aß. Für einen Augenblick verschlug es mir die Sprache. Sie kaute ruhig an den zarten Blättern. Sie hob die Augen und sah mich an. Ihr Blick wurde reglos. Daran war ich schon gewöhnt. Ich fragte, wo sich der Innere Kreis befände. Der Junge schien unangenehm überrascht, sogar böse, daß jemand sich erkühnte, ihr Zusammensein zu stören. Da hatte ich offenbar etwas Ungehöriges getan. Seine Blicke wanderten an mir hinauf und herab: ob vielleicht als Ursache meiner Größe irgendwelche Stelzen zu finden wären. Er sagte kein einziges Wort. „Da, dort!“ rief das Mädchen. „Rast auf Wuka, Ihr Raster, Sie schaffen es noch, schnell!“ Ich rannte in der gezeigten Richtung, ohne zu wissen wohin; immer noch hatte ich keine Ahnung, wie dieser verfluchte „Raster“ aussah. Nach zehn Schritten bemerkte ich einen silbrigen Trichter, der von der Höhe herabsank, es konnte der Sockel einer dieser Riesensäulen sein, die mich vorher so sehr erstaunt hattenwaren es etwa fliegende Säulen? Menschen eilten aus allen Richtungen dorthin. Und plötzlich stieß ich mit einem zusammenIch schwankte nicht mal, stand bloß wie angewurzelt: der andere, ein behäbiger Mann in leuch 16 tendem Orange, fiel hin. Da geschah mit ihm etwas Unglaubliches: sein Pelz oder Anzug schien welk zu werden, er fiel in sich zusammen wie ein durchlocherter Luftballon. Ich stand verdutzt über ihm, so perplex, daß ich nicht imstande war, eine Entschuldigung zu murmeln. Er stand auf, sah mich schief an, sagte aber nichts. Er drehte sich um und ging. mit großen Schritten weiter. Dabei fummelte er ein bißchen vorn der Brust herum — und sein Anzug füllte sich wieder und strahlte orange auf… Der Platz, den mir das Mädchen gezeigt hatte, war leer. Es gab weder Trichter noch „Raster“. Nach diesem Abenteuer verzichtete ich auf die Suche nach dem Inneren Kreis und nach irgendeinem weiteren Kontakt. Ich beschloß, aus diesem merkwürdigen Bahnhof hinauszugelangen. Also fuhr ich auf gut Glück in Richtung eines schrägen blauen Pfeils nach oben. Ohne große Aufregung durchdrang ich mit meinem Körper zwei aufeinander folgende leuchtende Inschriften: LOKALE BEZIRKE. Ich geriet auf eine ziemlich bevölkerte Rolltreppe. Das nächste Stockwerk war im Ton dunkler Bronze gehalten, getigert mit goldenen Ausrufungszeichen. Fließende Deckenübergänge und versenkbare Wände. Gänge ohne Bedachung, die oben in etwas wie leuchtende Daunen getaucht warenEs machte den Eindruck, als näherte man sich nun irgendwelchen bewohnten Räumen: das Milieu hatte eine entfernte. Aehnlichkeit mit einem System gigantischer Hotelhallen. Kleine Fenster, Nickelrohre entlang der Wände, Nischen mit Leuten, die darin amtierten — vielleicht waren es Wechselstuben, vielleicht die Post. Ich ging weiter. Beinahe war ich schon überzeugt, daß ich auf diese Art nie zu einem Ausgang gelangen wuerde. Wenn ich die ungefahre Fahrtdauer nach oben berechnete, mußte ich mich noch in dem freischwebenden Bahnhofsteil befinden: ich behielt auf alle Fälle weiter dieselbe Richtung. Plötzlich war Leere um mich. Himbeerfarbene Platten mit funkelnden Sternchen, Reihen von Türen. Die nächste war nur angelehnt. Ich sah hinein: irgendein großer breitschultriger Mann tat im selben Moment dasselbe, bloß von der entgegengesetzten Seite aus, ich war es selbst — im Spiegel. Ich öffnete die Tür etwas weiter: Porzellan, silbrige Rohre, Nickel — Toiletten. Fast hätte ich gelacht, aber im Grunde war ich eher benommen. Ich drehte mich schnell um ein anderer Gang, milchweiße vertikal fließende Streifen. Die Lehne der Rolltreppe war weich und warm, ich zählte die abwärts gleitenden Stockwerke nicht. Immer mehr Menschen fuhren mit mir aufwärts. Sie hielten bei emaillierten Kästen an, die bei jedem Schritt aus der Wand wuchsen: ein Druck mit dem Finger, irgend etwas fiel in die Hand, sie steckten es in die Taschen und gingen weiter. Ich weiß selbst nicht, warum ich genau dasselbe tat wie der Mann im weiten lila Anzug vor mir: eine Taste mit einer kleinen Vertiefung für die Fingerkuppe, ein Druck, und direkt in die vorgehaltene Hand fiel mir ein farbiges, halb durchsichtiges Röhrchen, das angewärmt schien. Ich schüttelte es, brachte es mir vor die Augen — irgendwelche Pillen? Nein. Ein Korken? Es hatte keinen Korken, überhaupt keinen Verschluß. Wozu diente es? Was machten die anderen damit? Sie steckten es in ihre TaschenDie Aufschrift auf dem Automaten: LARGAN. Ich stand, wurde geschubst. Urplötzlich kam ich mir vor wie ein Affe, dem man eine Füllfeder oder ein Feuerzeug gibt; für eine Zehntelsekunde überkam mich blinde Wut, ich biß die Zähne zusammen. Blinzelnd und leicht gebeugt schloß ich mich dem Strom der Gehenden an. Der Gang erweiterte sich, war jetzt schon ein Saal. Feurige Lettern: REAL AMMO REAL AMMO. Zwischen den Weitereilenden, über ihren Köpfen, erblickte ich ganz fern ein Fenster. Das erste Fenster. Panoramisch, riesig. Wie ein flachgelegtes Nachtfirmament. Bis zum Horizont von einem glühenden Nebel erfüllt — farbige Galaxien, dichtgedrängte spiralige Lichter, Feuerscheine zitternd über Wolkenkratzern, Straßen: eine wurmartige Bewegung der Leuchtperlen und darüber, senkrecht, das Wimmeln der Neone, Federbüsche und Blitze, Räder, Flugzeuge und Flaschen aus Feuer, rote Pusteblumen der Signallichter auf Türmen, Augenblicks-Sonnen und Blutstürze von Reklamen, mechanisch, gewaltig. Ich stand und schaute, hörte hinter mir die rhythmische Bewegung Hunderter von Füßen. Plötzlich verschwand die Stadt, und ein riesiges, drei Meter großes Gesicht erschien. „Wir brachten die Zusammenfassung der Chroniken aus den siebziger Jahren in dem Zyklus „Visionen alter Hauptstädte“ Der Transtel überträgt jetzt seinen Bereich auf die Studien der Kosmolythen…“ Ich wollte hier weg. Das war ja gar kein Fenster. Irgendein Fernsehschirm. Ich beschleunigte den Schritt. Ich fing zu schwitzen an. Runter! Schneller! Goldene Lichtvierecke. Drinnen Menschenmenge, Schaum auf den Gläsern, eine fast schwarze Flüssigkeit, kein Bier, es hatte einen giftigen, grünlichen Schimmer. Und die Jugend, Jungen und Mädchen, umarmt, zu sechst, zu acht, über die ganze Breite der Passagen, kam mir entgegen. Sie mußten ihre Hände lösen, um mich durchzulassen. Ich zuckte zusammenOhne es zu merken, betrat ich den beweglichen SteigGanz nah sah ich erstaunte Augen — ein herrliches, dunkles Mädchen, angetan mit etwas, das wie phosphoreszierendes Metall an ihr leuchtete. Der Stoff lag hauteng an: sie war wie nackt. Gesichter — weiße, gelbe; einige große Schwarze, doch ich war immer noch der Größte. Man gab mir den Weg frei. Oben, hinter gewölbten Scheiben, flogen flatternde Schatten, spielten unsichtbare Orchester. Und hier dauerte die eigenartige Promenade an, in dunklen Passagen — Frauengestalten ohne Kopf: Daunen, die ihre Schultern bedeckten, leuchteten so, daß nur der herausragende Hals sich darin — wie ein weißer Stielheller ausnahm, und ein Schein über ihrem Haar flimmerteselbstleuchtender Puder? Der enge Durchgang führte mich zu einer Reihe grotesker, weil beweglicher, ja sogar recht bewegter Standbilder; etwas in der Art einer breiten, an den Seiten erhöhter Straße dröhnte vor Lachen. Man amüsierte sich; was amüsierte sie wohl so sehr — diese Skulpturen? Riesige Figuren im konischen Scheinwerferlicht; ein rubinrotes, honigfarbenes Licht, z äh wie Sirup, floß aus ihnenIch ging willenlos, hielt die Augen fest geschlossen, verlor mich. Eine steile grüne Passage, groteske Pavillons, Pagoden, die man über kleine Brücken betrat, lauter kleine Lokale, der Duft von Gebratenem, scharf, aufdringlich, hinter Glasscheiben ganze Reihen von Gasflämmchen; ein Geklirr von Glas, metallische, sich wiederholende, unverständliche Laute. Die Menge, die mich hier hineinschwemmte, stieß mit einer anderen zusammen; dann lockerte sie sich, alle stiegen in einen von beiden Seiten offenen Waggon ein. Nein, er war nur durchsichtig, wie aus Glas gegossen, sogar die Sitze — obwohl weich — schienen wie aus Glas. Ich wußte gar nicht, wie ich da hineinkam — wir fuhren schon. Der Wagen raste, die Menschen schrien lauter als der Lautsprecher, der immer wiederholte: „Ebene Meridional, Ebene Meridional, Kontakte zu Spiro, Atale, Blekk, Frosom!“ Der ganze Wagen schien, von Lichtgarben durchstochen, zu schmelzen, die Wände flogen mit Flammen — und Farbstreifen vorbei, parabolische Bogen, weiße Bahnsteige. „Forteran, Forteran, Kontakte zu Galee, Kontakte der Außenraster, Makra“, verkündete der Lautsprecher. Der Wagen hielt, sauste dann weiter — ich entdeckte etwas Staunenswertes: man spürte weder das Bremsen, noch die Beschleunigung, als ob die Trägheit abgeschafft worden wäre. Wie war das möglich? Ich überprüfte es, indem ich an drei aufeinanderfolgenden Haltestellen leicht die Knie beugte. In den Kurven ebenfalls nichts. Menschen stiegen ein und aus, auf der vorderen Plattform stand eine Frau mit einem Hund, noch nie hatte ich so einen Hund gesehen: riesig, mit einem Kugelkopf, sehr häßlich, in seinen nußbraunen, ruhigen Augen spiegelten sich die nach hinten laufenden, verkleinerten Lichtgirlanden wider. RAMBRENT, RAMBRENT. Es schwirrten weiße und bläuliche Neonröhren. Treppen aus Kristallicht, schwarze Fronten, das Licht versteinerte allmählich, der Wagen stand. Ich stieg aus und war verblüfft. Über dem amphitheatral vertieften Schild der Haltestelle reckte sich, in verschiedene Ebenen geteilt, die wohlbekannte Konstruktion, ich befand mich immer noch auf dem Bahnhof, nur an einer anderen Stelle derselben gigantischen Halle. Ich ging bis zum Rand der geometrisch genauen Vertiefung — der Waggon war bereits abgefahren — und war wieder erstaunt: nicht unten befand ich mich, wie mir schien, sondern vielmehr oben, etwa vierzig Stockwerke hoch über den Bändern jener aus der Tiefe gesehenen Gehsteige, über den silbernen Decken der stets gleichmäßig vorbeieilenden Bahnsteige: lange, schweigende Körper fuhren dazwischen ein. Die Menschen kamen durch zahlreiche Klappen heraus, als ob diese Ungeheuer, diese chromglitzernden Fische in regelmäßigen Zeitabschnitten schwarze und bunte Roggenhaufen absonderten. Über all diesen Dingen sah ich weit hinten, durch einen Nebel der Entfernung, bewegt wie auf einem unsichtbaren Seil, goldene Buchstaben: GLENIANA ROON DIE HEUTE DURCH DIE AUFNAHME EINES MIMORPHISCHEN REALS WIEDERKOMMT EHRT IN EINEM ORATORIUM DAS ANDENKEN VON RAPPER KERX POLITER. TERMINAL TAGESZEITUNG GIBT BEKANNT: PETIFARGUE BRACHTE HEUTE IN AMMONLEE DAS ERSTE ENSOM ZUR SYSTOLYSIERUNG. DIE STIMME DES GROSSEN GARVISTIKERS BRINGEN WIR UM SIEBENUNDZWANZIG UHR. SIEG ARRAKERS. ARRAKER WIEDERHOLTE SEINEN ERFOLG ALS ERSTER OBLITAERITER DER SAISON IM TRANSVALL STADION. Ich ging weiter. Also hat sich sogar die Zeitrechnung verändert. Metallische Stoffe der Frauenkleider, vom Licht der Riesenlettern getroffen, die wie ganze Reihen brennender Seiltänzer über dem Meer von Menschenköpfen liefen, erzitterten plötzlich mit kleinen Flammen. Ich ging, ohne es zu wissen, und irgend etwas wiederholte in mir immer wieder: „Also hat sich sogar die Zeit geändert.“ Das gab mir fast den Rest. Mit offenen Augen sah ich nichts. Ich wollte nur eins: heraus hier, aus diesem verflixten Bahnhof, unter den freien Himmel, in einen freien Raum, wo man die Sterne sehen und den Wind fühlen kann. Eine Allee langgezogener Lichter zog mich an; im durchsichtigen Stein der Decke schrieb wieder etwas — die Buchstaben zog eine scharfe, in Alabaster eingeschlossene Flamme —: TELETRANS TELEPORT TELETHON. Durch eine Bogentür — nur war es ein schier unmöglicher, aus den Fugen geratener Bogen, wie das Negativ eines Raketenschnabels — gelangte ich in einen Saal, der mit vereistem, goldenem Feuer bedeckt war. In den Wandnischen — Hunderte von Kabinen. Menschen liefen da hinein, eilten wieder hinaus, warfen zerrissene Streifen auf den Boden, nein, keine Telegrammstreifen, es war etwas anderes, mit ausgestanzten Knöpfchen, andere traten auf diese Fetzen. Ich wollte hinaus, trat irrtümlich in einen dunklen Raum, etwas surrte dort, dann leuchtete es wie eine Fotolampe auf, und aus einer mit Metall eingefaßten Ritze glitt ein zusammengelegter Bogen glitzernden Papiers. Ich nahm ihn, öffnete, und ein menschlicher Kopf mit nicht ganz geschlossenen, leicht verzerrten, dünnen Lippen sah mich mit blinzelnden Augen an: ich selbst war es! Ich legte das Papier wieder zusammen, und der Plastikspuk verschwand. Langsam öffnete ich die Bogenränder — nichts — etwas weiter — da kam er wieder, wie aus dem Nichts, ein Kopf, wie vom Rumpf abgeschnitten, mit einem nicht gerade intelligenten Ausdruck, über dem Papier schwebend. Einen Augenblick lang sah ich mein eigenes Gesicht an — was war es wohl, ein dreidimensionales Foto? Ich steckte den Bogen in die Tasche und ging. Die goldene Hölle schien auf die Köpfe der Menschen herabzufallen, eine Decke aus Feuermagma, unwirklich, aber wie ein wirkliches Feuer wütend. Niemand sah hin. Die Leute liefen emsig von einer Kabine zur anderen, grüne Buchstaben hüpften im Hintergrund, Zahlenkolonnen flossen auf schmalen Scheiben hinunter, noch andere Kabinen, Rollos statt Türen, die blitzartig beim Herannahen hochschnellten — endlich fand ich den Ausgang. Ein Korridor mit abschüssigem Boden wie manchmal im Theater. Aus den Wänden schossen stilisierte Muscheln, oben liefen endlos die Worte: INFOR INFOR INFOR. Einen Infor sah ich zum ersten Male auf der Luna und meinte, daß es eine künstliche Blume wäre. Ich brachte mein Gesicht dicht an den hellgrünen Kelch, der sofort, noch ehe ich die Lippen öffnete, in Erwartung erstarrte. „Wo kann ich hier raus?“ fragte ich nicht sehr geistreich. „Wohin?“ erwiderte sofort eine warme Altstimme. „In die Stadt.“ „In welches Viertel?“ „Egal. „Auf welche Ebene?“ „Egal. Ich will aus dem Bahnhof heraus!“ „Meridional, Raster: einhundertsechs, einhundertsiebzehn, null acht, null zwei. Tridukt, Ebene AF, AG, AC, MythenebeneRundweg, zwölf und sechzehn, Nadir-Ebene führt in jede südliche Richtung. Zentral — Ebene, G!ider, lokal — rot, fern — weiß, A, B und W. Ulder-Ebene, unmittelbar, sämtliche Eskale vom dritten an nach oben…“, rezitierte singend eine Frauenstimme. Ich hatte Lust, das Mikrofon aus der Wand zu reißen, das sich da so besorgt meinem Gesicht zuwandte. Ich ging. „Idiot! Du Idiot!“ wiederholte ich mir bei jedem Schritt. EX, EX, EX, wiederholte eine oben vorbeigleitende, mit zitronengelbem Nebel eingefaßte Inschrift. Ist es vielleicht Exit? Der Ausgang? Eine Riesenaufschrift: EXOTAL. Ich gelangte plötzlich in einen starken Luftstrom voller Wärme, so daß meine Hosenbeine flatterten. Ich befand mich unter freiem Himmel. Aber die Nachtdunkelheit, durch die Menge der Lichter entrückt, hing weit entfernt im Raum. Ein Riesenrestaurant — Tischchen, deren Oberflächen in verschiedensten Farben leuchteten, daher etwas unheimlich von unten beleuchtete Gesichter darüber, voll tiefer Schatten. Niedrige Sessel, Gläser mit einer schwarzen, grünschäumenden Flüssigkeit, Lampions, die kleine Funken sprühten, nein, eher Glühwürmchen, Mengen von brennenden Nacht faltern. Ein Lichterchaos löschte die Sterne. Als ich den Kopf hob, sah ich nur eine schwarze Leere. Trotzdem erstaunlich genug: ihre blinde Existenz gab mir irgendwie Mut. Ich stand und schaute. Jemand berührte mich im Vorüberstreifen, ich spürte Parfümduft, scharf und leicht zugleich, ein Paar ging vorbei, das Mädchen wandte sich dem Mann zu, ihre Schultern und Brüste verschwanden in einer flaumigen Wolke, er nahm sie in seine Arme, sie tanzten. „Tanzen tun sie noch“, dachte ich. „Auch gut.“ Das Paar tat ein paar Schritte, ein blasses Quecksilberparkett hob es mit anderen Paaren hoch, ihre dunkelroten Schatten bewegten sich unter seiner riesigen und sich langsam drehenden Platte; das Parkett war nicht gestützt, hatte nicht einmal eine Achse. Es drehte sich, in der Luft hängend, zu den Klängen der Musik. Ich ging zwischen den Tischchen durch. Die weiche Plastikmasse, auf der ich ging, hörte nun auf, sie grenzte an einen rauhen Felsen. Durch einen Lichtvorhang ging ich weiter und fand mich in einer Felshöhle. Es sah aus wie zehn oder fünfzig gotische Kirchenschiffe aus Stalaktiten zusammen. Adernförmige Infiltrationen perlenartiger Minerale umschlossen die Höhlenausgänge, Menschen saßen da, ihre Beine hingen in die Leere, zwischen ihren Knien brannten flackernde Flämmchen, unten aber weitete sich ungetrübt der schwarze Spiegel eines unterirdischen Sees aus, in dem sich die Felsen widerspiegelten. Dort, auf nachlässig zusammengebastelten kleinen Flößen, ruhten ebenfalls Menschen, die alle nach einer Seite schauten. Ich ging bis an den Rand des Wassers und sah auf der anderen Seite, auf dem Sand, eine Tänzerin. Sie schien mir nackt zu sein, aber das Weiß ihres Körpers war unnatürlich. Mit kleinen, schwankenden Schritten lief sie auf das Wasser zu, und als sie sich darin widerspiegelte, öffnete sie plötzlich die Arme und neigte den Kopf — es war der Schluß, doch niemand applaudierte. Die Tänzerin verharrte einige Sekunden regungslos, ging dann langsam am Ufer entlang, an dessen ungeraden Linien herum. Sie war wohl dreißig Schritte von mir entfernt, als etwas mit ihr geschah. Eben noch sah ich ihr lächelndes, erschöpftes Gesicht, und plötzlich wurde es irgendwie verdunkelt, ihre Silhouette erzitterte und verschwand. „Eine Plave für den Herrn?“ hörte ich hinter mir eine höfliche Stimme. Ich drehte mich um, niemand, nur ein ovales Tischchen, das sich auf komisch gebogenen Beinchen bewegte: es ging, die Gläser mit einer schäumenden Flüssigkeit, die reihenweise seitlich auf Tabletts standen, erzitterten dabei — ein Arm reichte mir höflich das Getränk, der andere griff schon nach dem Teller mit einer Offnung für den Finger — der Teller sah einer kleinen, konkaven Palette ähnlich. Es war ein Automat, ich sah hinter dem Hauptglas die aufleuchtende Glut seines Transistorherzens. Ich ging vorbei an den untertänig herausgestreckten Käferarmen, mit Leckerbissen belastet, die ich verschmähte. Ich verließ die künstliche Grotte, die Zähne zusammenbeißend, als ob mir eine unverständliche Demütigung angetan worden wäre. Ich ging über die ganze Terrassenbreite, zwischen den S-förmigen Tischchen durch, unter den Lampion-Alleen, überschüttet vom leichten Staub der zerfallenden, schon sterbenden, schwarzen, goldenen Glühwürmchen. Dicht am Ufer, das mit altem, vom gelblichen Pflanzenbelag wie umnebeltem Stein eingefaßt war, fühlte ich endlich den wirklichen, reinen und kühlen Windhauch. Daneben stand ein freies Tischchen. Ich setzte mich, unbequem, den Rücken den anderen Menschen zugekehrt. Ich sah in die Nacht. Unten erweiterte sich das Dunkel, gestaltlos und unerwartet. Erst in der Ferne, weit in der Ferne, glühten an seinen Rändern dünne, schwankende, unsichere Lichter auf, als ob es gar kein elektrisches Licht wäre. Und noch weiter schossen in den Himmel kalte, dünne Lichtdegen, ich wußte nicht, waren es Häuser oder irgendwelche Masten. Ich hätte sie für Scheinwerfergarben gehalten, wären sie nicht mit einem feinen Netz bedeckt gewesen — so könnte wohl ein mit seinem Oberteil in den Boden gerammter Glaszylinder aussehen, voller abwechselnd konkaver und konvexer Linsen. Unwahrscheinlich hoch mußten sie sein, um sie herum rieselten pulsierende Lichter, von einem Kranz orangenfarbenen, dann wieder fast weißen Schimmers eingefaßt. Das war alles, so sah die Stadt aus; ich versuchte Straßen zu finden, sie zu erraten, aber die dunkle tote Fläche da unten zog sich nach allen Seiten hin, von keinem Funken erhellt. „Kol?…“ hörte ich, wohl nicht zum ersten Mal ausgesprochen, obwohl ich es am Anfang nicht auf mich bezog. Ehe ich mich noch richtig umgedreht hatte, tat es der Sessel für mich. Vor mir stand ein vielleicht zwanzigjähriges Mädchen in dicht anliegendem Hellblau. Schultern und Busen waren in dunkelblauen Daunen verloren, die nach unten zu immer durchsichtiger wurden. Ihr schöner, schlanker Bauch war wie eine Skulptur in atmendem Metall. In den Ohren hatte sie etwas Leuchtendes, das so groß war, daß man die Ohrmuscheln nicht sehen konnte. Ihre kleinen, unsicher lächelnden Lippen waren geschminkt, die Nasenlöcher innen auch rot — ich hatte bemerkt, daß die Mehrheit der Frauen sich so zurechtmachte. Sie faßte mit beiden Händen die Lehne des mir gegenüberstehenden Sessels und fragte: „Was gibt’s bei dir, Kol?“ Sie setzte sich. Ich hatte den Eindruck, daß sie etwas betrunken war. „Langweilig hier“, meinte sie wieder nach einer Weile. „Nicht? Nehmen wir uns mal, Kol?“ „Ich bin nicht Kol…“, antwortete ich. Sie stützte die Ellbogen auf das Tischchen und bewegte die Hand mit einem halbgefüllten Glas. Das Ende eines Goldkettchens, das sie um die Finger trug, tauchte dabei in die Flüssigkeit. Sie bog sich immer mehr vor. Ich spürte ihren Atem. Wenn sie betrunken war, so nicht vom Alkohol. „Wieso?“ sagte sie. „Du bist es. Mußt es ein. Jeder ist ein Kol. Willst du wohl? Nehmen wir uns?“ Wenn ich bloß wüßte, was das bedeuten sollte. „Gut“, sagte ich. Sie stand auf. Auch ich stand von dem schrecklich niedrigen Sessel auf. „Wie machst du das?“ fragte sie. „Was?“ Sie sah auf meine Füße. „Ich dachte, du würdest auf den Zehenspitzen stehen…“ Ich lächelte schweigend. Sie kam auf mich zu, nahm meinen Arm und staunte wieder. „Was hast du denn da?“ „Wo, hier? Nichts.“ „Du singst ja“, sagte sie und zog mich leicht mit sich. Wir gingen zwischen den Tischchen durch, und ich überlegte dabei, was wohl dieses „du singst“ bedeuten konnte — vielleicht meinte sie „du mogelst“? Sie brachte mich an eine dunkelgoldene Wand, wo ein violinschlüsselähnliches Zeichen leuchtete. Als wir dicht davor waren, öffnete sich die Wand. Ich spürte einen Hauch heißer Luft. Der schmale, silberne Eskalator schwamm hinunter. Wir hielten. Sie reichte mir nicht bis an die Schulter. Sie hatte einen Katzenschädel, schwarzes, blau leuchtendes Haar, ein vielleicht allzu scharfes Profil, doch sie war hübsch. Nur diese scharlachroten Nasenflügel… Sie hielt mich fest mit schlanker Hand, ihre grünen Fingernägel gruben sich in den dicken Stoff meiner Wolljacke ein. Unwillkürlich lächelte ich nur mit den Winkeln meiner Lippen, als ich daran dachte, wo diese Jacke bisher schon überall gewesen war und wie wenig sie mit Frauenfingern zu tun hatte. Unter einem Gewölbe, das Lichter atmete — von Rosa bis Karminrot und von Karminrot bis Rosa —, gelangten wir auf die Straße. Das heißt, ich dachte, es wäre die Straße, doch jeden Augenblick erhellte sich die Dunkelheit über uns wie bei plötzlichem Morgengrauen. In der Ferne flossen lange, niedrige Silhouetten vorbei, wie Autos. Indessen wu ßte ich bereits, daß es keine Autos mehr gab. Es mußte etwas anderes sein. Wäre ich allein, hätte ich durch diese Straße zu einer weiteren Abzweigung gehen können: weiter leuchteten nämlich die Buchstaben: ZUM ZENTRUM. Wahrscheinlich aber bedeutete das gar kein Stadtzentrum. Im übrigen ließ ich mich führen. Wie dieses Abenteuer auch enden sollte, ich hatte endlich eine Führerin gefunden und dachtediesmal schon an den unglückseligen Kerl, der jetzt, drei Stunden nach meiner Ankunft, mich wohl mit sämtlichen Infors dieser Bahnhofsstadt suchte. Wir gingen an einigen schon fast leeren Lokalen vorbei, an Schaufenstern, wo Mannequingruppen immerfort dieselbe Szene spielten. Ich wäre gern stehengeblieben, um zu sehen, was sie da taten, aber das Mädchen ging rasch, mit ihren Schuhabsätzen klappernd, bis sie beim Anblick eines Neongesichts mit pulsierenden roten Wangen, das sich immerzu mit einer drollig ausgestreckten Zunge die Lippen leckte, ausrief: „Oh, Bonsen! Willst du einen Bons?“ „Und du?“ fragte ich. „Ich glaube schon.“ Wir kamen in einen kleinen, leuchtenden Saal. Statt einer Decke hatte er lange Reihen brennender Flämmchen, die wie Gasflammen aussahen; von oben schlug uns plötzlich Hitze entgegen, da brannte wahrscheinlich wirklich Gas. An den Wänden gab es kleine Vertiefungen mit Pulten; als wir auf eine von ihnen zukamen, schoben sich beiderseits aus der Wand auch Sitze her — aus. Sie schienen aus jener Wand herauszurücken: anfangs noch unentwickelt, wie Knospen, wurden dann flach in der Luft, nahmen Gestalt an und blieben dann regungslos. Wir setzten uns gegenüber, das Mädchen klopfte mit zwei Fingern auf die Metallplatte des Tischchens, aus der Wand sprang ein Nickelpfötchen, warf vor jeden von uns ein kleines Tellerchen und tat mit zwei blitzschnellen Bewegungen auf jeden davon eine Portion weißlicher Masse, die aufschäumend braun wurde und erstarrte, wobei das Tellerchen selbst auch nachdunkelte. Das Mädchen rollte den Teller, der gar keiner war, wie einen Pfannkuchen zusammen und fing an zu essen. „Ach“, sagte sie mit vollem Mund, „ich hatte ja keine Ahnung, daß ich so hungrig bin.“ Ich tat genau dasselbe wie sie. Der Bons erinnerte im Geschmack an nichts, was ich jemals aß. Knusprig beim Anbeißen wie eine frischgebackene Semmel, zerfiel und zerfloß er sofort auf der Zunge; die braune Masse, die sich drinnen befand, war scharf gewürzt. Ich dachte, daß ich mich an Bonse gewöhnen könnte. „Noch mehr?“ fragte ich, als sie den ihrigen verzehrt hatte. Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Beim Hinausgehen legte sie für einen Augenblick beide Hände in eine kleine gekachelte Nische — in der es rauschte. Ich machte es ihr nach. Ein kitzelnder Wind umfing meine Finger; als ich die Hände wieder wegnahm, waren sie schon trocken und sauber. Dann fuhren wir mit einem breiten Eskalator nach oben. Ich wußte nicht, ob es immer noch der Bahnhof war, aber ich genierte mich zu fragen. Sie führte mich in eine kleine Kabine in der Wand — es war dort nicht sehr hell, und ich hatte den Eindruck, daß oben wohl Züge führen, da der Boden zitterte. Für eine Zehntelsekunde wurde es dunkel, irgend etwas atmete tief unter uns auf, als ob ein metallenes Ungeheuer die Luft aus der Lunge ausgestoßen hätte, dann wurde es wieder hell, das Mädchen drückte die Tür auf. Es war wohl wirklich eine Straße. Wir waren hier ganz allein. Kleine, gestutzte Sträucher wuchsen auf beiden Gehsteigseiten; etwas weiter standen gedrängt schwarze, flache Maschinen. Irgendein Mensch kam aus dem Schatten, versteckte sich hinter einer von ihnen — ich sah ihn keine Tür öffnen, er verschwand einfach, doch die Maschine raste los mit einem derartigen Schwung, daß er wohl ganz flach auf dem Sitz liegen mußte. Ich sah keine Häuser, nur eine tischglatte Fahrbahn, die mit matten Metallstreifen bedeckt war; an den Kreuzungen bewegten sich ntzartige, orangene und rote Lichter, sie hingen über dem Pflaster und erinnerten ein wenig an die Modelle von Scheinwerfern aus der Kriegszeit. „Wo wollen wir uns nehmen?“ fragte das Mädchen. Immer noch hielt sie meinen Arm. Sie verlangsamte ihre Schritte. Ein roter Lichtstreifen glitt über ihr Gesicht. „Wo du willst.“ „Dann wollen wir zu mir gehen. Einen Glider zu nehmen, lohnt sich nicht. Es ist hier ganz in der Nähe.“ Wir gingen weiter. Man sah auch weiterhin keine Häuser, und der Wind, der aus dem Dunkel hinter den Büschen kam, wehte so, als ob hier rundum ein freier Raum wäre. Um den Bahnhof herum, direkt im Zentrum? Dies schien mir eigenartig. Der Wind brachte einen schwachen Blumenduft mit sich, den ich gierig einsog. Flieder? Nein, Flieder war es nicht. Dann fanden wir einen gleitenden Gehsteig, wir standen darauf, ein komisches Paar, die Lichter flogen vorbei, manchmal ein Gefährt, wie aus einem Stück schwarzen Metalls gegossen: sie hatten keine Fenster, keine Räder, nicht einmal Lichter, doch sausten sie mit einer außergewöhnlichen Geschwindigkeit vorbei, wie blind. Die beweglichen Lichter schossen aus engen, vertikalen Spalten dicht über dem Boden. Ich konnte nicht feststellen, ob sie irgendwie mit dem Verkehr und seiner Regelung zusammenhingen. Durch den unsichtbaren Himmel zog von Zeit zu Zeit, hoch über uns, ein klagender Pfiff. Das Mädchen stieg plötzlich vom gleitenden Steg ab, nur um auf einen anderen umzusteigen, der steil nach oben lief. Plötzlich sah ich mich recht hoch stehen, die Luftfahrt dauerte vielleicht eine halbe Minute und endete auf einem Überhang voller schwach duftender Blumen, als wären wir nun auf der Terrasse oder dem Balkon eines dunklen Hauses angelangt. Das Mädchen ging in diese Loggia hinein. Ich, an die Dunkelheit bereits gewöhnt, riß mit den Augen eines Nachttiers die großen Silhouetten der nebenstehenden Häuser aus der Schwärze: sie waren fensterlos, tot. Nicht allein keine Lichter gab es; auch nicht der schwächste Ton gelangte von dort zu mir, außer dem scharfen Gezisch, das vom Vorbeifahren der schwarzen Maschinen durch di ese Straße zeugte. Ich war über diese doch wohl absichtliche Verdunkelung erstaunt, auch über den Mangel an Reklameschildern nach der Neonorgie am Bahnhof. Doch blieb mir keine Zeit für Überlegungen. „Komm, wo bist du!?“ hörte ich ein Flüstern. Ich sah nur den weißen Flecken ihres Gesichts. Sie legte ihre Hand an die Tür, die sich öffnete. Aber diese Tür führte nicht in die Wohnung, der Fußboden ging weich mit uns mit. — „Hier kann man ja keinen Schritt tun“, dachte ich, „komisch, daß sie eigentlich noch Beine haben.“ Eine mißlungene Ironie, sie entstammte meiner nie endenden Verblüffung, dem Gefühl der Irrealität von allem, was mit mir seit vielen Stunden geschah. Wir befanden uns wie in einem großen Flur oder Korridor, der breit und fast dunkel war — nur die Wandecken, mit Streifen von Leuchtfarbe bestrichen, leuchteten. An der dunkelsten Stelle legte das Mädchen wieder ihre flach ausgestreckte Hand auf die kleine Metallplatte in der Tür und ging als erste hinein. Ich blinzelte: die recht stark beleuchtete Diele war fast leer. Sie ging zur nächsten Tür; als ich mich der Wand näherte, öffnete sich diese plötzlich und zeigte eine Vertiefung, die voll war von metallenen Fläschchen. Das kam so unerwartet, daß ich unwillkürlich zusammenzuckte. „Verängstige mir ja nicht meinen Schrank“, sagte sie, schon vom anderen Zimmer aus. Ich folgte ihr. Die Möbel schienen aus Kunststoff gegossen: kleine Sessel, ein niedriges Sofa, kleine Tischchen — in dem halbdurchsichtigen Material bewegten sich langsam ganze Schwärme von Glühwürmchen: manchmal verliefen sie sich, flossen dann wieder zu kleinen Bächlein zusammen, und im Innern der Möbel schien dann leuchtendes, blaßgrünes, mit rosigen Reflexen vermischtes Blut zu kreisen. „Warum setzt du dich nicht?“ Sie selbst stand tiefer. Der Sessel öffnete sich, um mich aufzunehmen. Ich konnte das nicht leiden. Diese Glasur war keine Glasur — ich hatte den Eindruck, auf luftgefüllten Kissen zu sitzen. Und als ich hinuntersah, konnte ich durch die dicke gebogene Platte meines Sitzes undeutlich den Fußboden sehen. Als ich hereinkam, schien mir die Wand gegenüber der Tür aus Glas zu sein; ich meinte dort ein zweites Zimmer mit irgendwelchen Menschen zu erblicken, als ob da ein Empfang stattfände, nur waren die Menschen unnatürlich groß. Plötzlich begriff ich, daß ich vor mir einen vollwandigen Fernsehschirm hatte. Der Ton war abgeschaltet; jetzt, im Sitzen, sah ich ein riesiges Frauengesicht, genauso, als ob diese dunkelhäutige Riesin durchs Fenster ins Zimmer schaute; ihre Lippen bewegten sich, sie sprach, und die Juwelen — groß wie die Schilde von früheren Kriegern —, die ihre Ohrläppchen bedeckten, funkelten von Brillanten. Ich rückte mich etwas in meinem Sessel zurecht. Das Mädchen, eine Hand an der Hüfte — ihr Bauch sah tatsächlich wie eine Skulptur aus lazurfarbigem Metall aus —, sah mich aufmerksam an. Sie machte nicht mehr den Eindruck einer Betrunkenen. Vielleicht kam es mir vorhin auch nur so vor. „Wie heißt du?“ wollte sie wissen. „Bregg. Hal Bregg. Und du?“ „Nais. Wie alt bist du?“ „Eigenartige Sitten“, dachte ich. „Doch was hilft’s — anscheinend ist es so üblich.“ „Vierzig. Wieso?“ „Nichts. Ich dachte, du wärest hundert.“ Ich lächelte. „Kann ich gerne sein, wenn dir daran liegt.“ — „Das Ulkigste dabei wäre“, dachte ich, „daß es wahr ist.“ „Was möchtest du haben?“ „Zum Trinken? Danke, nichts.“ „Wie du willst.“ Sie trat an die Wand, wo sich etwas wie eine kleine Bar öffnete. Sie verdeckte diese Oeffnung. Als sie sich dann umdrehte, trug sie ein kleines Tablett mit Bechern und zwei Flaschen. Sie drückte leicht auf die eine Flasche und schenkte mir einen vollen Becher ein — die Flüssigkeit sah ganz nach Milch aus. „Danke“, sagte ich, „für mich nicht…“ „Ich gebe dir doch nichts!“ staunte sie. Ich verstand, daß ich einen Fehler machte, ohne zu wissen, was für einen, brummte also nur etwas und nahm den Becher. Sie selbst schenkte sich aus der anderen Fla sche ein. Die Flüssigkeit war ölig, farblos, prickelte leicht unter der Oberfläche und wurde zugleich dunkler, wie infolge eines Kontakts mit der Luft. Sie setzte sich, berührte ihr Glas mit den Lippen und fragte wie von ungefähr: „Wer bist du?“ „Kol“, antwortete ich. Ich hob meinen Becher hoch, als wollte ich ihn betrachten, diese Milch hatte aber keinen Geruch. Ich rührte das Getränk nicht an. „Nein, im Ernst“, sagte sie. „Du dachtest wohl, ich wollte schummeln, wie? Ach, wo. Es war ja nur ein Kals. Ich war mit der Sechs, weißt du, aber es wurde so unheimlich öde. Das Pflugen taugte nichts und überhaupt… ich wollte gerade gehen, als du dich an den Tisch gesetzt hast.“ Irgend etwas davon begriff ich bereits: ich hatte mich wahrscheinlich ungewollt an ihren Tisch gesetzt, als sie nicht da war, vielleicht tanzte sie da gerade? Ich schwieg diplomatisch. „Von weitem sahst du so…“, sie konnte dafür keine entsprechende Bezeichnung finden. „Solide?“ half ich. Ihre Lider zuckten. Hatte sie wohl auch darauf eine metallische Haut? Nein, es war wohl Schminke. Nun hob sie den Kopf: „Was heißt das?“ „Nun — e… hmm — vertrauenswürdig…“ „Du sprichst so komisch. Von wo bist du?“ „Von weit her.“ „Mars?“ „Weiter.“ „Fliegst du?“ „Ich bin geflogen.“ „Und jetzt?“ „Nichts. Kam zurück.“ „Wirst du wieder fliegen?“ „Ich weiß nicht. Wohl kaum.“ Das Gespräch versandete irgendwie. Mir schien, daß das Mädchen ihre etwas leichtsinnige Einladung bereits bereute, und ich wollte ihr die Sache leichter machen. „Soll ich vielleicht schon gehen?“ fragte ich. Das nicht angerührte Getränk hielt ich immer noch in der Hand. „Warum denn?“ staunte sie. „Ich dachte, das würde dir… zusagen.“ „Nein“, sagte sie, „du meinst — nein, wieso?… Warum trinkst du denn nicht?“ „Ich trinke schon.“ Es war doch Milch. Um diese Zeit, unter diesen Umständen! Ich war so verblüfft, daß sie es merken mußte. „Wie — ist er etwa schlecht?“ „Die… diese Milch…“, sagte ich. Ich mußte dabei das Gesicht eines Vollidioten gehabt haben. „Wie? Was für Milch? Es ist doch Brit…“ Ich seufzte nur. „Hör zu, Nais… ich gehe wohl wirklich. Ja. So wird es besser sein.“ „Aber warum hast du denn getrunken?“ fragte sie. Ich sah sie schweigend an. Die Sprache selbst hatte sich nicht einmal so sehr verändert — nur verstand ich rein nichts davon. Nichts. Sie haben sich geändert. „Wie du willst“, meinte sie schließlich. „Keiner hält dich. Ja, aber jetzt…“ Sie wurde verwirrt. Trank ihre Limonade — wie ich in Gedanken ihr prickelndes Getränk nannte —, und ich wußte wieder einmal nicht, was ich sagen sollte. Wie schwierig das alles doch war! „Erzähle mir von dir“, schlug ich vor, „willst du?“ „Gerne. Und wirst du mir später auch von dir erzählen?“ „Ja.“ „Ich bin an der Kawut, das zweite Jahr schon. Aber in der letzten Zeit ließ ich mich etwas gehen, plastete nicht regelmäßig und… ha, eben so. Meine Sechs ist Uninteressant. Und so im Ernst… habe ich keinen. Komisch…“ „Was denn?“ „Daß ich keinen habe…“ Wieder dieses Dunkel. Von wem sprach sie da? Wen hatte sie nicht? Eltern? Liebhaber? Freunde? Abs hatte doch recht, daß ich ohne acht Monate im ADAPT nicht auskommen würde. Aber jetzt wollte ich noch viel weniger als vorher zerknirscht zurück in die Schule. „Und weiter?“ fragte ich, und da ich den Becher immer noch in der Hand hielt, nahm ich wieder einen Schluck von dieser Milch. Nais Lippen umspielte eine Art spöttisches Lächeln. Sie trank ihren Becher bis zur Neige aus, faßte mit der Hand die flaumige Bedeckung ihrer Schulter an und zerriß sie — knöpfte sie nicht auf, zog sie nicht aus, sondern riß sie einfach herunter und ließ die Fetzen, wie Unrat,aus ihren Fingern fallen. „Schließlich kennen wir uns ja ein wenig“, sagte sie. Sie schien freier zu werden. Lächelte. Manchmal wurde sie wunderschön, besonders wenn sie blinzelte und ihre heruntergezogene Unterlippe glitzernde Zähne sehen ließ. Ihr Gesicht hatte etwas ~gyptisches. Eine ägyptische Katze. Das Haar mehr als nur schwarz — und als sie den Pelzflaum von ihren Schultern und der Brust herunterriß, sah ich, daß sie durchaus nicht so mager war, wie es zuerst schien. Warum aber zerriß sie das Kleid?… Sollte das etwas bedeuten? „Du wolltest erzählen!“ meinte sie und sah mich über ihren Becher an. „Ja“, sagte ich und spürte ein solches Lampenfieber, als ob von meinen Worten weiß Gott was abhängen würde. „Ich… ich war ein Pilot. Das letzte Mal war ich hier… erschrick bloß nicht!“ „Nein. Sprich!“ Ihre Augen waren aufmerksam und glänzend. „Vor einhundertsiebenundzwanzig Jahren. Ich war damals dreißig Jahre alt. Die Expedition… ich war Pilot der Expedition nach Fomalhaut. Eine Entfernung von dreiundzwanzig Lichtjahren. Hin und zurück flogen wir einhundertsiebenundzwanzig Jahre Erdzeit und zehn Jahre Bordzeit. Vor vier Tagen kehrten wir zurück… Der „Prometheus“ — mein Schiff — blieb auf der Luna. Heute bin ich von dort gekommen. Das ist alles.“ Sie sah mich an. Sagte nichts. Ihre Lippen bewegten, öffneten, schlossen sich wieder. Was lag wohl in ihren Augen? Staunen? Bewunderung? Angst? „Warum sagst du denn nichts?“ fragte ich. Ich mußte mich räuspern. „Ja… also wie alt bist du wirklich?“ Ich mußte lächeln; doch war es kein nettes Lächeln. „Was heißt da — wirklich? Biologisch bin ich vierzig, aber nach irdischer Zeitrechnung einhundertsiebenundfünfzig…“ Langes Schweigen und plötzlich: „Gab es dort Frauen?“ „Warte mal“, sagte ich. „Hast du etwas zum Trinken?“ „Wieso?“ „Etwas Giftiges, weißt du. Etwas Starkes. Alkohol… oder wird der nicht mehr getrunken?“ „Aeußerst selten…“, antwortete sie ganz leise, so als wären ihre Gedanken ganz woanders. Ihre Hände fielen langsam nach unten, berührten das metallische Blau ihres Kleides. „Ich werde dir… „Anghen“ geben, willst du? Ach, ja, du weißt ja nicht, was das ist?“ „Nein. Ich weiß es nicht“, antwortete ich mit einer unerwarteten Halsstarrigkeit. Sie ging zur Bar und kam mit einer kleinen, bauchigen Flasche wieder. Sie goß mir ein. Es war etwas Alkohol darin — nicht viel — und noch etwas — der Geschmack war eigenertig, herb. „Sei bitte nicht böse“, sagte ich, indem ich meinen Becher austrank, und goß mir zum zweiten Male ein. „Ich bin nicht böse. Du hast nicht geantwortet, vielleicht magst du nicht?“ „Warum denn? Ich kann es wohl. Insgesamt waren wir dreiundzwanzig, auf zwei Schiffen. Das zweite Schiff hieß „Ulysses“ Je fünf Piloten und der Rest — Wissenschaftler. Frauen gab es da keine. „Warum?“ „Wegen der Kinder“, erklärte ich. „Auf solchen Schiffen kann man keine Kinder großziehen. Und sogar, wenn es möglich wäre, will es niemand. Ehe man dreißig ist, darf man nicht fliegen. Zwei abgeschlossene Studienfächer plus vier Trainingsjahre — insgesamt zwölf Jahre — muß man hinter sich haben. Kurz — Frauen pflegen mit dreißig schon Kinder zu haben. Und es gab da noch… andere Rücksichten.“ „Und du?“ fragte sie. „Ich war allein. Man wählte Alleinstehende aus. Das heißtFreiwillige.“ „Und du wolltest?“ „Ja. Selbstverständlich.“ „Und ohne…“ Sie stockte. Ich wußte“ was sie sagen wollte. Ich schwieg. „Es muß doch unheimlich sein so… zurückzukehren…“, sagte sie fast flüsternd. Sie zuckte zusammen. Sah mich dann plötzlich an, ihre Wangen wurden dunkler, sie errötete. „Hör mal, das, was ich vorher gesagt habe, war nur ein Scherz, wirklich…“ „Über die hundert Jahre?“ „Ja. Ich sagte es nur, um irgend etwas zu sagen, es hatte keinen…“ „Hör auf“, murmelte ich. „Noch mehr von solchen Entschuldigungen, und ich würde wirklich die Last dieser Zeit spüren.“ Sie schwieg. Ich zwang mich, sie nicht mehr anzusehen. Im Innern des zweiten, nicht vorhandenen Zimmers hinter Glas sang lautlos ein riesiger Männerkopf, ich sah seine vor Anstrengung bebende dunkelrote Kehle, glitzernde Wangen, sein ganzes Gesicht hüpfte in einem unhörbaren Rhythmus. „Was willst du tun?“ fragte sie leise. „Ich weiß nicht. Noch weiß ich es nicht.“ „Hast du denn keine Pläne?“ „Nein. Ich habe etwas… so eine… Art Prämie, weißt du. Für diese ganze Zeit. Als wir starteten, wurde sie in der Bank auf meinen Namen deponiert — ich weiß nicht mal, wieviel es ist. Ich weiß überhaupt gar nichts. Hör mal — was bedeutet „Kawut“?“ „Kawuta?“ verbesserte sie. „Das ist… so ein Studium, Plasten, an sich nichts Besonderes, doch manchmal kann man dann zum Real kommen…“ „Ja, warte… also was machst du denn eigentlich?“ „Plast — na, weißt du denn nicht, was das ist?“ „Nein.“ „Wie soll ich dir… na, ganz einfach, da macht man Kleider, Bekleidung, überhaupt — alles…“ „Schneidern?“ „Was heißt das?“ „Nähst du da etwas?“ „Ich verstehe nicht.“ „Grundgütiger, schwarzer und blauer Himmel! Entwirfst du Kleidermodelle?“ „Na… ja, in einem gewissen Sinn schon. Ich entwerfe sie aber nicht, ich mache sie…“ Ich ließ ab von diesem Thema. „Und was ist ein Real?“ Das traf sie nun wirklich. Zum ersten Mal sah sie mich wie ein Geschöpf aus einer anderen Welt an. „Real ist… Real“, wiederholte sie ratlos. „Das sind solche… Geschichten, die sieht man sich an…“ „Das?“ Ich wies auf die Glaswand hin. „Ach nein, das ist ja Vision…“ „Also was ist es? Ein Kino? Ein Theater?“ „Nein. Theater, ich weiß, was das war — das hat es mal früher gegeben. Ich weiß: am Theater gab es wirkliche Menschen. Real ist künstlich, aber so, daß man es nicht unterscheiden kann. Es sei denn, man würde zu ihnen hineingehen…“ „Hineingehen?“ Der Kopf des Riesen kullerte nun mit seinen Augen, wankte, sah mich an, so als ob er sich bei der Beobachtung dieser Szene köstlich amüsieren würde. „Hör mal, Nais“, sagte ich plötzlich, „entweder muß ich gehen, da es sehr spät geworden ist, oder…“ „Das zweite wäre mir lieber.“ „Du weißt doch nicht, was ich sagen will.“ „Dann sage es.“ „Gut. Ich wollte dich noch wegen verschiedener Dinge fragen. Über die großen, wichtigsten weiß ich bereits ein wenig: ich verbrachte vier Tage im ADAPT auf der Luna. Dabei ging es um ganz außergewöhnliche Sachen. Aber was tut ihr — wenn ihr nicht arbeitet?“ „Man kann eine Menge tun“, sagte sie. „Reisen kann man, wirklich oder mit dem Mut. Man kann sich amüsieren, in den Real gehen, Tanzen, Tereo spielen, Sport treiben, Schwimmen, Fliegen — alles was du willst.“ „Was ist „Mut“?“ „Etwas Ähnliches wie Real, nur kann man da alles anfassen. Man kann da Berge klettern, überall hingehen — du wirst es sel ber sehen, erzählen läßt sich das nicht. Mir scheint aber, daß du eine andere Frage stellen wolltest?“ „Stimmt. Wie ist es — zwischen den Frauen und den Männern?“ Ihre Augenlider zuckten. „Wohl so, wie es schon immer gewesen ist. Was kann sich da wohl geändert haben?“ „Alles. Als ich wegflog — nimm es mir, bitte, nicht übel —, also damals hätte mich ein Mädchen wie du zu dieser Zeit nicht in ihre Wohnung mitgenommen.“ „Wirklich? Warum?“ „Weil das einen bestimmten Sinn gehabt hätte.“ Eine Weile schwieg sie. „Und woher weißt du, daß es heute diesen Sinn nicht mehr hat?“ Meine Miene amüsierte sie. Ich sah sie an; sie hörte auf zu lächeln. „Nais… wie ist das…“, stammelte ich, „du nimmst einen wildfremden Kerl und…“ Sie schwieg. „Warum antwortest du nicht?“ „Weil du nichts verstehst. Ich weiß nicht, wie ich’s dir sagen soll. Es hat nichts zu bedeuten, weißt du…“ „So. Hat nichts zu bedeuten“, wiederholte ich. Ich stand auf. Konnte nicht länger sitzen bleiben. Sprang dabei fast — aus Vergeßlichkeit; sie zuckte zusammen. „Verzeihung“, murmelte ich und fing an herumzugehen. Hinter der Glasscheibe sah man einen Park in der Morgensonne; durch eine Allee, zwischen Bäumen mit blaßrosa Blättern, gingen drei Jungen in Oberhemdchen, die wie Rüstungen glitzerten. „Gibt es Ehen?“ „Natürlich. „Da verstehe ich rein nichts mehr! Erkläre mir das. Erzähle. Du siehst einen Mann, der dir zusagt, und, ohne ihn zu kennen, sofort…“ „Was gibt es da schon viel zu erzählen?“ sagte sie unwillig. „War es wirklich zu deiner Zeit so — damals —, daß ein Mädchen einen Mann nicht ins Zimmer lassen konnte?“ „Doch, selbstverständlich konnte es, auch mit dem Gedanken, daß… aber nicht fünf Minuten, nachdem es ihn sah…“ „Also nach wie vielen Minuten?“ Ich sah sie an. Sie fragte ganz im Ernst. Nun ja, woher konnte sie es wissen; ich zuckte nur die Achseln. „Es ging dabei nicht um Zeit, sondern — sondern sie mußte erst… etwas in ihm sehen, ihn kennenlernen, liebgewinnen, sie gingen vorerst…“ „Warte“, sagte sie. „Du scheinst… nichts zu verstehen. Ich gab dir doch Brit.“ „Was für Brit? Ach, diese Milch? Na — und?“ Sie fing zu lachen an, bog sich schier vor Lachen. Dann stutzte sie plötzlich, sah mich an und wurde puterrot. „Du dachtest also, daß ich… dachtest, daß… nein!!“ Ich setzte mich hin. Meine Finger waren unsicher, ich mußte etwas in ihnen halten. Ich zog aus meiner Tasche eine Zigarette und zündete sie an. Sie öffnete die Augen weit: „Was ist das?“ „Eine Zigarette. Wie — raucht ihr denn nicht?“ „Ich sehe das zum ersten Mal… so sieht also eine Zigarette aus? Wie kannst du nur den Rauch so inhalieren? Nein, warte — das andere ist weit wichtiger. Brit ist keine Milch. Ich weiß nicht, was drin ist, aber — einem Fremden — gibt man immer Brit.“ „Einem Mann?“ „Ja.“ „Na — und?“ „Und dann ist — muß er — brav sein. Weißt du — ein Biologe könnte dir das vielleicht erklären.“ „Zum Teufel mit dem Biologen. Heißt das, daß der Mann, dem du Brit gegeben hast, nicht mehr kann?“ „Selbstverständlich. „Und wenn er nicht trinken will?“ „Wie kann er nicht wollen?“ Hier endete jegliche Verständigungsmöglichkeit. „Du kannst ihn doch nicht zwingen“, erklärte ich geduldig. „Ein Verrückter würde wohl nicht trinken“, sagte sie langsam, „aber von einem solchen Fall hab’ ich nie gehört…“ „Ist das so Sitte?“ „Ich weiß nicht, was ich dir da sagen soll. Gehst du nicht nackt herum — der Sitten wegen?“ „Aha. Nun — gewissermaßen schon. Aber am Strand kann man sich doch ausziehen.“ „Nackt sein?“ fragte sie mit plötzlichem Interesse. „Nein. Einen Badeanzug… immerhin gab es zu meiner Zeit solche Menschengruppen, Nudisten hießen sie.“ „Ich weiß. Nein, es ist etwas anderes, ich dachte, ihr alle seid…“ „Nein. Also ist dieses Trinken… so etwas, wie das Tragen von Kleidung? So notwendig?“ „Ja. Wenn — zwei zusammen sind.“ „Na — und weiter?“ „Was — weiter?“ „Beim zweiten Mal?“ Rein idiotisch war dieses Gespräch, und ich fühlte mich unwohl dabei, mußte aber endlich etwas erfahren! „Später? Das ist verschieden. Manchen… gibt man immer Brit.“ „Eine Art Korb?“ „Was heißt das?“ „Nichts. Und wenn ein Mädchen jemanden besucht — was dann?“ „Dann trinkt er bei sich zu Hause.“ Sie sah mich fast mitleidig an. Ich aber blieb zäh: „Und wenn er keinen hat?“ „Brit? Wie kann er keiften haben?“ „Nun, weil er ihm eben ausging. Oder… er kann ja auch lügen.“ Wieder fing sie zu lachen an. „Das ist ja… glaubst du denn, daß ich all diese Flaschen hier in der Wohnung halte?“ „Nicht? Wo denn sonst?“ „Ich hab’ nicht mal eine Ahnung, wo sie herkommen. Gab es zu deiner Zeit eine Wasserleitung?“ „Ja“, sagte ich mißmutig. Klar, es konnte auch keine gegeben haben; ich konnte ja direkt aus dem Wald in die Rakete gestiegen sein. Eine Zeitlang war ich stinkwütend, doch beherrschte ich mich bald: schließlich war es ja nicht ihre Schuld. „Na, siehst du — und wußtest du denn, welchen Weg dieses Wasser nahm, ehe…“ „Ich verstehe schon, du brauchst den Satz nicht zu beenden. Also ist das so eine Vorsichtsmaßnahme? Sehr komisch!“ „Das meine ich durchaus nicht“, sagte sie. „Und was hast du da so Weißes, unter deiner Wolljacke?“ „Ein Hemd.“ „Was ist das?“ „Hast du denn nie ein Hemd gesehen?! Eben — Wäsche. Aus Nylon.“ Ich rollte meinen Aermel auf und zeigte ihn ihr. „Interessant“, meinte sie. „So eine Sitte“, erwiderte ich ratlos. Wirklich, man hatte mir im ADAPT gesagt, daß ich aufhören sollte, mich wie vor hundert Jahren zu kleiden; ich aber wollte nicht. Ihr Recht mußte ich jedoch anerkennen: Brit war für mich dasselbe — wie für sie ein Hemd. Schließlich zwang doch niemand die Menschen, Hemden zu tragen, trotzdem trugen sie sie alle. Mit dem Brit verhielt es sich wohl genauso. „Wie lange wirkt denn Brit?“ wollte ich wissen. Sie errötete ein wenig. „So eilig hast du es. Noch steht ja nichts fest.“ „Ich sagte doch nichts Böses“, verteidigte ich mich, „wollte nur wissen… warum guckst du denn so? Was hast du? Nais!“ Sie erhob sich langsam. Stand hinter dem Sessel. „Wie lange — sagtest du? Hundertzwanzig Jahre?“ „Hundertsiebenundzwanzig. Na — und?“ „Und wurdest… wurdest du… betrisiert?“ „Was ist denn das?“ „Wurdest du es nicht?!“ „Aber ich habe nicht mal eine Ahnung, was das ist. Nais… Mädchen, was hast du nur?“ „Nein, du wurdest es nicht“, flüsterte sie. „Sonst müßtest du es ja wissen…“ Ich wollte auf sie zukommen. Sie hob beide Arme: „Komme nicht näher! Nein! Nein! Bitte!“ Sie trat zur Wand zurück. „Du sagtest doch selbst, daß Brit… ich setze mich schon. Da, nun sitze ich, siehst du wohl, beruhige dich also. Und was ist das für eine Geschichte mit diesem Be… Wie heißt es?“ „Genau weiß ich es nicht. Aber… betrisiert wird jeder. Gleich nach der Geburt.“ „Was ist das?“ „Da wird wohl irgend etwas ins Blut gebracht.“ „Allen?“ „Ja. Denn — eben… Brit… hat ohne das keine Wirkung. Rühre dich ja nicht!“ „Kind, sei doch nicht lächerlich.“ Ich drückte meine Zigarette aus. „Ich bin doch kein wildes Tier… Sei nicht böse, aber… mir scheint, ihr alle seid hier ein bißchen verrückt. Dieser Brit… na, das ist, als ob man allen Menschen Handschellen anlegen würde, nur weil vielleicht einer unter ihnen ein Dieb sein könnte. Schließlich… kann man doch ein wenig Vertrauen haben.“ „Du bist ja toll“, sie schien sich etwas gefaßt zu haben, setzte sich aber immer noch nicht. „Warum warst du denn vorhin so entrüstet, daß ich Fremde in meine Wohnung hole?“ „Das ist etwas anderes.“ „Ich sehe da keinen Unterschied. Du warst also bestimmt nicht betrisiert?“ „Nein. Ich war es nicht.“ „Und vielleicht jetzt? Nach deiner Rückkehr?“ „Keine Ahnung. Man gab mir verschiedene Spritzen. Was hat das schon für eine Bedeutung?“ „Doch. Also Spritzen? Das ist gut.“ Sie setzte sich. „Ich habe eine Bitte an dich“, sagte ich, so ruhig ich konnte. „Du mußt mir bitte erklären…“ „Was denn?“ „Deine Angst. Hast du gefürchtet, daß ich mich auf dich stürzen werde — oder was sonst? Das hat doch keinen Sinn!“ „Nein. Rein vernunftmäßig nicht, aber — das war schon stark, weißt du. So ein Schock. Ich hab’ noch nie einen Menschen gesehen, der nicht…“ „Das laeßt sich nicht erkennen?“ „Oh, doch. Und wie!“ „Ja — wie?“ Sie schwieg. „Nais…“ „Aber…“ „Was denn?“ „Ich habe Angst…“ „Es zu sagen?“ „Ja.“ „Aber warum denn?“ „Du würdest es schon verstehen, wenn ich es dir sagte. Denn, siehst du, betrisiert wird nicht durch Brit. Mit dem Brit hat es nur so eine — Nebenwirkung… Da geht es um etwas anderes…“ Sie wurde blaß. Ihre Lippen zitterten. „Was für eine Welt“, dachte ich, „was für eine Welt ist das!“ „Ich kann nicht. Ich habe eine schreckliche Angst.“ „Vor mir?“ „Ja.“ „Ich schwöre dir…“ „Nein, nein… Ich glaube dir, nur… Nein. Das kannst du nicht verstehen!“ „Willst du es mir nicht sagen?“ In meiner Stimme muß etwas gewesen sein, was ihr half, ihre Angst zu überwinden. Ihr Gesicht wurde streng. An ihren Augen sah ich, wie groß die Anstrengung war. „Es ist… dazu da… damit man nicht… töten kann.“ „Unglaublich! — Menschen?“ „Niemanden.“ „Auch keine Tiere?“ „Ja. Niemanden…“ Sie flocht und löste ihre Finger, ohne die Augen von mir zu lassen — als ob sie mit diesen Worten mich von einer unsichtbaren Kette losgelassen, mir in die Hand ein Messer gedrückt hätte, mit dem ich sie niederstechen könnte. „Nais“, sagte ich ganz leise. „Nais, habe keine Angst. Wirklich… du brauchst nichts zu befürchten.“ Sie versuchte zu lächeln. „Hör zu…“ „Ja?“ „Als ich das sagte…“ „Ja?“ „Hast du da nichts gespürt?“ „Und was sollte ich spüren?“ „Stell dir vor, du tust, was ich dir eben sagte.“ „Daß ich töte? Das soll ich mir vorstellen?“ Sie zuckte zusammen. „Ja…“ „Na — und?“ „Spürst du denn nichts?“ „Nein. Aber es ist ja nur ein Gedanke, und ich habe keinerlei Absicht…“ „Aber du kannst es? Nicht? Du kannst es wirklich? Nein“, hauchte sie nur mit den Lippen, als spräche sie zu sich selbst, „du bist nicht betrisiert…“ Jetzt endlich begriff ich die Bedeutung des Ganzen und verstand, daß es für sie ein Schock sein mußte. „Eine große Sache“, meinte ich und fügte nach einer Weile hinzu: „Aber besser wäre es vielleicht, wenn sich die Menschen das ohne… solche Kunstmittel abgewöhnen würden…“ „Ich weiß nicht. Vielleicht“, erwiderte sie. Sie atmete tief. „Jetzt weißt du also, warum ich Angst bekam?“ „Offengestanden nicht so ganz. Vielleicht ein wenig. Na, du dachtest wohl kaum, daß ich dich…“ „Wie eigenartig du bist! Fast als ob du kein…“, sie stutzte. „Kein Mensch wärest?“ Ihre Augenlider flatterten. „Ich wollte dich nicht kränken, nur, weißt du, wenn man weiß, daß keiner — weißt du — nicht einmal daran denken kann, niemals — und dann kommt plötzlich so einer wie du, dann ist ja allein schon die Möglichkeit… daß es so einen gibt…“ „Es kann aber nicht stimmen, daß alle — wie heißt das — achbetrisiert sind!“ „Warum? Alle sind es, ich sag’ es dir doch!“ „Nein, das kann nicht stimmen“, beharrte ich. „Und Menschen mit gefährlichen Berufen? Sie müssen doch…“ „Es gibt keine gefährlichen Berufe.“ „Was erzählst du da, Nais! Und die Piloten? Die verschiedenen Rettungsmannschaften? Und die, die gegen Feuer oder Wasser kämpfen?“ „Die gibt es nicht“, sagte sie. Ich glaubte, schlecht gehört zu haben. „Waas?“ „Es gibt sie nicht“, wiederholte sie. „Solche Dinge werden von den Robotern gemacht.“ Nun folgte ein Schweigen. Ich dachte nur, daß es mir nicht leichtfallen würde, diese neue Welt zu verdauen. Und zugleich kam ein Gedanke auf, erstaunlich schon dadurch, daß ich ihn nie erwartet hatte, wenn mir irgend jemand eine solche Situation auch nur als theoretische Möglichkeit geschildert hätte: dieser Eingriff, der im Menschen den Mörder vernichtete, schien mir eine… Verkrüppelung zu sein. „Nais“, sagte ich, „es ist schon sehr spät. Ich werde gehen.“ „Wohin?“ „Das weiß ich nicht. Ach, ja! Auf dem Bahnhof sollte dieser Mensch vom ADAPT auf mich warten. Ich habe es ganz vergessen! Konnte ihn dort nicht finden, weißt du. Na, also… ich werde ein Hotel suchen. Die gibt es doch?“ „Ja. Von wo kommst du?“ „Von hier. Ich wurde hier geboren.“ Nach diesen Worten kehrte ein Gefühl der Unwahrscheinlichkeit wieder, und ich war mir weder der damaligen Stadt — die nur in mir allein existierte — sicher, noch dieser gespenstischen, mit Zimmern, wo Köpfe von Riesen hineinschauten. Eine Sekunde lang überlegte ich, ob ich mich nicht auf Deck befände und das Ganze nur ein besonders deutlicher Alptraum von der Rückkehr wäre. „Bregg“, hörte ich ihre Stimme wie aus der Ferne. Ich zuckte zusammen. Ich hatte sie ganz vergessen. „Ja — bitte?“ „Bleibe hier.“ „Was?“ Sie schwieg. „Du willst, daß ich bleibe?“ Sie schwieg. Ich trat an sie heran, packte — mich über den Sessel beugend — ihre kühlen Schultern, hob sie hoch. Willenlos stand sie auf. Ihr Kopf fiel hintenüber, die Zähne blitzten auf, ich wollte sie nicht haben, wollte nur sagen: „Du hast ja doch Angst“ — und sie sollte dann antworten, sie hätte keine. Weiter nichts. Sie hielt die Augen geschlossen, plötzlich sah ich das Weiße unter den Wimpern, bückte mich über ihr Gesicht, schaute die verglasten Augen nahe an, als wollte ich ihre Angst kennenlernen und teilen. Keuchend versuchte sie sich aus meinen Armen zu reißen; ich spürte es nicht, bis sie „Nein, nein!“ zu stöhnen begann, dann löste ich den Griff. Fast wäre sie hingefallen. Sie stand an der Wand, verdeckte einen Teil eines großen, pausbäckigen Gesichts, das bis zur Decke reichte, und dort, hinter Glas, unaufhörlich etwas sagte, wobei sich sein Riesenmund und die fleischige Zunge auf eine übertriebene Art bewegten. „Nais…“, sagte ich leise. Ich ließ die Hände sinken. „Komm nicht näher!“ „Du sagtest doch selbst…“ Ihr Blick war gehetzt. Ich ging quer durch das Zimmer. Sie verfolgte mich mit den Augen, so als ob ich… als ob sie in einen Käfig eingesperrt wäre… „Ich gehe ja schon“, sagte ich. Keine Antwort. Ich wollte noch etwas hinzufügen — ein paar Worte der Entschuldigung, des Dankes, um nicht bloß so wegzugehen, aber ich brachte es nicht fertig. Hätte sie vor mir nur Angst gehabt wie eine Frau vor einem Mann, einem Fremden, na, dann meinetwegen. Aber dies war etwas anderes. Ich sah sie an und fühlte, wie mich eine Wut packte. Diese weißen nackten Schultern fassen und schütteln… Ich drehte mich um und ging hinaus: die Außentür gab nach, als ich sie drückte, der große Korridor war fast dunkel. Ich konnte den Ausgang zur Terrasse nicht finden, traf aber Zylinder an, von einem verdünnten bläulichen Licht beleuchtet: Glasscheiben der Aufzüge. Der, dem ich mich näherte, bewegte sich bereits nach oben; vielleicht genügte da schon der Fußdruck auf die Schwelle. Hinunter fuhr der Aufzug lange. Ich sah abwechselnd dunkle Stollen und Deckenquerschnitte — weiß mit rötlicher Mitte, wie Fettschichten auf Muskeln flohen sie in die Höhe. Ich hörte bald auf zu zählen, der Aufzug fuhr hinab, immer tiefer, es war eine Reise bis auf den Grund. Als wäre ich ins Innere einer sterilen Leitung hineingeraten, und der in Schlaf und Sicherheit getauchte Riesenbau müßte sich meiner nun wieder entledigen. Ein Teil des durchsichtigen Zylinders öffnete sich, ich stieg aus. Die Hände in den Taschen, Dunkelheit, lange, harte Schritte. Gierig sog ich die kühle Luft ein, fühlte meine Nasenflügel flattern, mein Herz langsam arbeiten, Blut pumpend. In den flachen Spuren der Fahrbahn zogen Lichter vorbei, wurden von lautlosen Maschinen verdeckt, es gab keinen einzigen Passanten. Zwischen den schwarzen Silhouetten stand ein Feuerschein, ich dachte: vielleicht das Hotel. Es war aber nur ein beleuchteter Gehsteig. Ich fuhr darauf weiter. Über mir zogen weißliche Tragebalken irgendwelcher Konstruktionen vorbei, irgendwo in der Ferne, über den schwarzen Umrissen der Gebäude, flackerten rhythmisch die Leuchtbuchstaben einer Zeitung. Plötzlich schwamm der Gehsteig mit mir in einen beleuchteten Raum hinein und endete dort. Breite Stufen zogen nach unten, silbern wie ein stummer Wasserfall. Die Leere machte mich stutzig: seit ich Nais verließ, war ich keinem einzigen Passanten begegnet. Das Laufband war sehr lang. Unten leuchtete eine breite Straße, an beiden Seiten öffneten sich in den Häusern Passagen, unter einem Baum mit blauen Laub — vielleicht war es gar kein richtiger Baum — sah ich ein Paar stehen, kam ihm näher, glitt vorüber. Sie küßten sich. Ich ging gedämpften Musikklängen entgegen: irgendein Nachtrestaurant oder eine Bar, von der Straße überhaupt nicht abgegrenzt. Dort saßen ein paar Leute. Ich wollte hineingehen und wegen des Hotels fragen. Urplötzlich stieß ich mit meinem ganzen Körper auf ein unsichtbares Hindernis. Es war eine vollkommen durchsichtige Glasscheibe. Der Eingang war daneben. Drinnen lachte jemand auf, zeigte mich den anderen. Ich kam hinein. Ein Mann im schwarzen Trikot — es ähnelte meiner Strickjacke, war aber mit aufgeblasenem Kragen versehen — saß seitlich an einem Tischchen. Er hielt ein Glas in der Hand und guckte mich an. Ich baute mich vor ihm auf. Das Lachen erstarb auf seinen noch halboffenen Lippen. Ich stand da. Es wurde still. Nur die Musik spielte, wie hinter einer Wand. Irgendeine Frau ließ einen seltsamen, schwachen Laut hören, ich sah mir die regungslosen Gesichter an und ging fort. Erst auf der Straße besann ich mich, daß ich wegen eines Hotels fragen wollte. Ich ging durch die Passage. Sie war voller Schaufenster. Reisebüros, Sportläden, Mannequins in verschiedenen Stellungen. Eigentlich waren es keine Schaufenster, alles lag oder stand auf der Straße, beiderseits des erhöhten Gehsteigs, der durch die Mitte lief. Ein paarmal hielt ich die sich in der Tiefe bewegenden Schatten für Menschen. Einer von ihnen — eine Puppe, fast so groß wie ich, mit karikaturartig aufgedunsenen Backen — spielte die Flöte. Ich sah sie mir eine Zeitlang an. Sie machte es so lebensecht, daß ich Lust hatte, sie anzusprechen. Weiter gab es irgendwelche Spielsäle, große, regenbogenfarbige Kreise drehten sich dort, lose an der Decke hängende silberne Röhrchen stießen aufeinander mit dem Klang von Schlittenglöckchen, prismenartige Spiegel funkelten. Aber alles war leer. Nur ganz am Ende der Passage leuchtete die Inschrift HIER HAHAHA auf. Und verschwand. Ich ging dorthin. Die Worte HIER HAHAHA glimmten wieder auf und verschwanden wie weggeblasen. Beim nächsten Aufleuchten sah ich den Eingang. Durch einen Vorhang aus warmem Hauch kam ich hinein. Drinnen standen zwei von den radlosen Autos, brannten einige Lampen, und unter ihnen gestikulierten recht lebhaft drei Menschen, als ob sie sich stritten. Ich kam auf sie zu. „Hallo, meine Herren!“ Sie guckten sich nicht einmal um. Sie sprachen weiter, schnell, ich verstand wenig davon. „Na, denn schnaufe, na, denn schnaufe“ —wiederholte piepsend der Kleinste, der ein Bäuchlein hatte. Auf dem Kopf trug er eine hohe Mütze. „Meine Herren, ich suche ein Hotel. Wo ist hier…“ Sie beachteten mich überhaupt nicht, als wäre ich nicht vorhanden. Mich packte die Wut. Ohne ein weiteres Wort trat ich zwischen sie. Der Nächste — ich sah ein dämliches Aufblitzen im Weiß seiner Augen und hüpfende Lippen — lispelte: „Waas? Ich soll schnaufen? Schnaute du selbst!“ Genau, als spräche er zu mir. „Warum gebt ihr vor, taub zu sein?“ fragte ich. Plötzlich kam von da, wo ich stand — als käme er aus mir, aus meiner Brust —, ein piepsender Schrei: „Ich werde dir! Ich werde dir gleich!“ Ich sprang zurück, und der Besitzer jener Stimme, der Dicke mit der Mütze, kam zum Vorschein. Ich wollte ihn an der Schulter packen, aber meine Finger gingen durch ihn hindurch und schlossen sich in der Luft zusammen. Ich stand da wie betäubt, und sie redeten weiter. Plötzlich schien mir, daß von oben, aus der Dunkelheit über den Autos, mich irgend jemand anschaute, ich kam nahe an die Lichtgrenze und sah blasse Flecken, Gesichter — da oben schien etwas wie ein Balkon zu sein. Geblendet, sah ich recht ungenau, es reichte aber, um zu begreifen, wie schrecklich ich mich eben zum Narren gemacht hatte. Ich lief davon, als ob man hinter mir her wäre. Die nächste Straße schwang hoch und endete am Laufband. Ich hoffte, oben vielleicht einen Infor zu finden, und fuhr die blaßgoldene Treppe hinauf. Kam auf einen kreisrunden, nicht sehr großen Platz. In seiner Mitte stand eine hohe, durchsichtige Säule, wie aus Glas, irgendwas tanzte drinnen: purpurne, braune und lila Formen, an nichts erinnernd, wie belebte abstrakte, jedoch sehr außergewöhnliche Skulpturen. Wechselweise schwoll die eine, dann wie der die andere Farbe an, konzentrierte sich, wurde zu einer urkomischen Gestalt; dieses Herumbalgen der Formen, obwohl sie keine Gesichter, Köpfe, Arme oder Beine hatten, besaß einen durchaus menschlichen Ausdruck. Nach einiger Zeit verstand ich, daß das Lila einem Großmaul ähnlich war: eingebildet, stolz und feige zugleich — als es in eine Million tanzender Bläschen zerfiel, wechselte die Farbe zu Blau über. Blau war engelgleich, bescheiden, gesammelt, aber auf scheinheilige Art, als zelebrierte es sich selbst. Ich weiß nicht, wie lange ich mir das angesehen habe. Nie zuvor sah ich etwas Aehnliches. Außer mir gab es keine Zuschauer, nur wurde der Verkehr der schwarzen Autos dichter. Ich wußte nicht einmal, ob sie besetzt oder leer waren, weil sie keine Fenster hatten. Von dem runden Platz führten sechs Straßen, einige nach oben, andere hinunter, ihre Perspektiven zogen sich mit einem feinen Mosaik farbiger Lichter meilenweit hin. Nirgends ein Infor. Ich war schon ziemlich müde, nicht nur körperlich — es kam mir vor, als könnte ich kaum noch mehr Eindrücke verkraften. Manchmal verlor ich mich für eine Weile beim Gehen, obwohl ich nicht döste; doch weiß ich weder wann noch wie ich in die breite Allee kam. An der Kreuzung verlangsamte ich den Schritt, hob den Kopf und sah den Widerschein der Stadt auf den Wolken. Ich stutzte, denn es kam mir vor, als wäre ich unter der Erde. Ich ging dann weiter in einem Meer beweglicher Lichter, Schaufenster, die nicht verglast waren, zwischen gestikulierenden, sich wie Kreisel drehenden, schwungvoll mit Turnübungen beschäftigten Mannequins, die sich blitzende Gegenstände reichten, irgend etwas aufbliesen — ich schaute nicht einmal hin. In der Ferne gingen ein paar Menschen, ich war aber nicht sicher, ob es nicht schon wieder Puppen waren, und wollte ihnen nicht nachlaufen. Die Häuser traten auseinander, und ich sah eine große Inschrift PARK TERMINAL und einen leuchtenden grünen Pfeil. Der laufende Gehsteig begann im Durchgang zwischen den Häuserfi und ging dann plötzlich in einen Silbertunnel über. Eine Art goldener Puls schlug in den Tunnelwänden, als ob unter ihrer Quecksilbermaske wirklich ein Edelmetall flösse, ich fühlte einen Hauch von Hitze, alles erlosch — ich stand in einem verglasten Pavillon. Er hatte die Gestalt einer Muschel, die faltige Decke strömte ein kaum wahrnehmbares Grün aus, es war das Licht ganz feiner Aederchen, wie die Luminiszenz eines einzigen, ver größerten und zitternden Blattes. Türen gingen nach allen Seiten. Hinter ihnen — Dunkelheit und winzige, am Boden gleitende Buchstaben: PARK TERMINAL… PARK TERMINAL. Ich ging hinaus. Es war wirklich ein Park. Die Bäume rauschten mit einem langgezogenen Laut, unsichtbar in der Dunkelheit. Wind spürte ich nicht, er mußte wohl hoch oben wehen, und die gleichmäßige, würdevolle Stimme der Bäume umfing mich wie eine unsichtbare Kuppel. Zum ersten Mal fühlte ich mich allein, aber nicht so wie in der Menge, wo es mir wohl tat. Im Park mußten dennoch viele Menschen sein, ich hörte Flüstern, manchmal leuchtete ein Gesicht wie ein Fleck auf, einmal streifte ich jemanden sogar. Die Baumkronen waren miteinander verbunden, so daß man die Sterne nur in ihren Lücken sah. Ich besann mich, daß ich zu diesem Park nach oben gefahren war, ich hatte doch schon auf dem Platz mit den tanzenden Farben über mir einen — übrigens bewölkten — Himmel. Wie kam es also“ daß ich nun, eine Etage höher, diesmal einen Sternenhimmel sah? Ich konnte es mir nicht erklären. Die Bäume lichteten sich, und ehe ich es noch sah, spürte ich den Geruch von Wasser, den Geruch von Sumpf, von Moor, von nassen Blättern — ich erstarrte. Das Dickicht umschloß den See mit einem dunklen Kranz. Ich hörte das Rascheln von Seegras und Schilf — und weit darüber, auf der anderen Seeseite, stand hochaufgerichtet — wie ein Riese — ein Massiv lichtglasiger Felsen, ein halb durchsichtiger Berg über den Ebenen der Nacht. Ein gespenstisches Licht kam von den senkrechten Klippen, sehr blaß, bläulich, Bastionen auf Bastionen, zinnenartig erstarrter Kristall, Abgründe — und dieser leuchtende, unwahrscheinliche Koloß spiegelte sich mit langgezogenem, schwächerem Abglanz in den schwarzen Seegewässern. Ich stand reglos und entzückt, der Wind brachte ganz leise, zerfließende Musiktöne. Aber als ich schärfer hinsah, erblickte ich einzelne Stockwerke und Terrassen des Riesen und verstand in diesem Augenblick, daß ich zum zweitenmal den Bahnhof, den gigantischen Terminal vor mir hatte. Dort war ich gestern umher geirrt, vielleicht blickte ich jetzt vom Grund jener dunklen Gefilde, die mich so erstaunt hatten, auf dieselbe Stelle, an der ich Nais getroffen hatte. War es noch Architektur oder bereits eine Konstruktion der Berge? Sie mußten wohl verstanden haben, daß man — bei der Überschreitung gewisser Grenzen — auf die Symmetrie, die ebenmäßige Gestalt verzichten muß und nur von dem Allergrößten lernen kann — die gelehrigen Planetenschüler! Ich ging um den See herum. Der Koloß schien mich fast zu führen mit seinen reglos funkelnden Flug. Ja, kühn war es schon, eine solche Gestalt zu planen, ihr die Grausamkeit eines Abgrundes, die Rücksichtslosigkeit und Rauheit der Hängeklüfte und spitzen Gipfel beizugeben, ohne in ein mechanisches Kopieren zu verfallen, ohne irgend etwas zu verlieren, zu verfälschen. Ich kam zurück an den Wall der Bäume. Das blasse, ins Schwarz übergehende Blau des Terminals schien noch durch die Zweige, bis es erlosch, im Dickicht versank. Ich schob mit beiden Händen die biegsamen Ranken auseinander, Stacheln zerrten an meiner Wolljacke, kratzten an meinen Hosenbeinen, ein von oben geschüttelter Tau fiel mir wie Regen ins Gesicht. Ich nahm ein paar Blätter in den Mund, zerkaute sie, sie waren jung, bitter, zum erstenmal seit meiner Rückkehr war mir so: ich wollte, suchte, brauchte nun nichts mehr, es genügte, blind in dieser Dunkelheit durch raschelndes Dickicht zu gehen. Habe ich mir das zehn Jahre lang so vorgestellt? Die Sträucher teilten sich. Eine kleine, krumme Allee. Winzige Kieselsteine knirschten unter meinen Füßen und leuchteten schwach, die Dunkelheit war mir lieber. Ich ging weiter, gerade aus, dahin, wo unter einem steinernen Rundbau sich eine menschliche Silhouette abzeichnete. Ich wußte nicht, woher das Licht stammte, das sie umgab. Leer war es dort, rundum Bänke, kleine Sessel, ein umgekipptes Tischchen, tiefer und schütterer Sand, ich fühlte meine Beine darin versinken. Wie warm er trotz der nächtlichen Kühle war. Unter dem Gewölbe, das auf zersprungenen, bröckeligen Säulen ruhte, stand eine Frau, als hätte sie auf mich gewartet. Ich sah bereits ihr Gesicht, zitternde Funken in den kleinen, diamantenen Pl atten, die ihre Ohren verdeckten, ihr weißes, im Schatten silbern schimmerndes Kleid. Es war nicht möglich. Ein Traum? Ich befand mich kaum ein paar Schritte von ihr entfernt, als sie zu singen anfing. Unter den blinden Bäumen klang ihre Stimme schwach, fast kindisch, ich verstand die Worte nicht, vielleicht gab es auch keine — ihr Mund war halb offen, als wollte sie trinken, im Gesicht keine Anzeichen von Anstrengung, nichts außer Verzückung, als sähe sie etwas, was man nicht sehen kann, und sänge eben davon. Ich hatte Angst, sie könnte mich sehen, und ging immer langsamer. Nun befand ich mich bereits im Bereich des Lichts, das den steinernen Rundbau umgab. Ihre Stimme wurde stärker, sie rief die Dunkelheit an, reglos, ihre Arme hingen herunter, als hätte sie sich vergessen, als hätte sie nichts mehr außer ihrer Stimme, mit der sie ging und in der sie sich verlor; es schien, als würde sie alles veräußern, alles abgeben und verabschieden in dem Bewußtsein, daß mit dem l etzten, sterbenden Ton nicht allein der Gesang beendet sein würde. Ich wußte nicht, daß so etwas möglich war. Sie verstummte, und ich hörte immer noch ihre Stimme. Plötzlich ertönten hinter mir leichte Schritte, irgendein Mädchen lief auf die Stehende zu, von einem anderen gefolgt, es lief mit einem kurzen, gutturalen Lachen die Stufen hinauf und durch die andere hindurch — schon rannte es weiter. Der Mann, der hinter ihr war, warf eine dunkle Silhouette dicht neben mir, sie entschwanden. Ich hörte zum zweiten Mal das lockende Lachen des Mädchens und stand da wie ein Klotz im Sand eingerammt, ohne zu wissen, ob ich lachen oder weinen sollte; die nicht existierende Sängerin summte leise. Ich wollte es nicht mehr hören. Ich ging zurück in die Dunkelheit mit versteinertem Gesicht, wie ein Kind, dem die Lüge eines Märchens bewiesen worden war. Ich ging, und ihre Stimme verfolgte mich. Ich wendete, die Allee führte weiter, ich sah ein schwaches Leuchten von Hecken, nasse Laubgirlanden hingen über einer Metallpforte. Ich tat sie auf. Dort schien es irgendwie heller zu sein. Die Hecken endeten bei einer großen Wiese, aus dem Gras hoben sich Felsblöcke ab, einer von ihnen bewegte sich, wuchs empor, ich sah zwei blasse Augenflämmchen. Ich erstarb. Es war ein Löwe. Er stand auf, erhob sich schwerfällig, erst auf die Vorderpfoten, nun sah ich ihn ganz, nur fünf Schritte entfernt, er hatte eine magere, verfilzte Mähne, reckte sich einmal, zweimal mit einer langsamen, welligen Schulterbewegung und kam völlig lautlos auf mich zu. Ich hatte mich wieder gefaßt. „Na, na, jage mir nur keine Angst ein“, sagte ich. Er konnte doch nicht echt sein — ein Phantom, wie meine Sängerin, wie die anderen, da unten, bei den schwarzen Autos-, er gähnte, nur einen Schritt vor mir, im dunklen Schlund blitzten die Zähne auf, er schloß seinen Rachen mit dem Gerassel O eines verriegelten Drahtverhaues, ich fühlte seinen stinkenden Atem, was… Er prustete. Ich fühlte Speicheltröpfchen, und ehe ich noch Zeit hatte zu erschrecken, schubste er mich mit seinem Riesenkopf in die Hüfte, schnurrte, rieb sich an mir, ich fühlte ein idiotisches Kitzeln in der Brust… Er schob mir seine Wamme mit loser, schwerer Haut zu. Nur halb bewußt fing ich an, ihn zu kraulen, zu zausen, er schnurrte immer lauter, hinter ihm blitzte ein zweites Augenpaar auf, ein zweiter Löwe, nein, eine Löwin, die ihn mit der Schulter anstieß. Aus seiner Kehle kam ein Grollen, es war ein Gebrumm, kein Gebrüll. Die Löwin ließ nicht locker. Er schlug sie mit der Pfote. Sie fauchte wütend. „Das wird schlecht enden“, dachte ich. Ich war wehrlos und die Löwen so echt und so wahr, wie man sie sich nur vorstellen konnte. Ich stand in dem schweren Geruch ihrer Körper. Die Löwin fauchte immer noch, er aber riß plötzlich seine rauhen Zotteln aus meinen Händen, drehte seinen Riesenkopf zu ihr hin und brüllte; die Löwin duckte sich tief auf den Boden. „Es wird Zeit für mich“, sagte ich zu ihnen, stimmlos, nur mit den Lippen. Ich fing an, langsam rückwärts auf die Pforte auszuweichen, es war kein angenehmer Augenblick. Der Löwe aber schien mich nun überhaupt nicht mehr zu beachten. Er legte sich schwerfällig hin, wieder einem länglichen Felsbrocken ähnlich, die Löwin stand bei ihm und stieß ihn mit ihrer Nase an. Als ich die Pforte hinter mir schloß, mußte ich mich mit aller Kraft gegen eine Panik wehren. Meine Knie waren weich, meine Gurgel trocken. Plötzlich schlug mein Räuspern in ein irrsinniges Lachen um, als mir die Erinnerung kam, wie ich zu ihm „Na, na, jage mir nur keine Angst ein…“ sagte, fest überzeugt, daß er nur eine Illusion wäre. Die Baumkronen zeichnиten sich immer deutlicher am Himmel ab, es tagte. Ich war froh darüber, daß ich nicht wußte, wie ich aus dem Park herauskommen sollte. Er war inzwischen völlig leer geworden. Ich ging am steinernen Rundbau vorbei, wo vorher die Sängerin erschienen war; in der nächsten Allee fand ich einen Roboter, der den Rasen mähte. Von einem Hotel wußte er nichts, erklärte mir aber den Weg zum nächsten Aufzug. Ich fuhr ein paar Stockwerke abwärts und staunte, als ich auf die Straße der unteren Ebene kam, wo der Himmel wieder über mir war. Meine Fähigkeit zum Staunen war allerdings erschöpft. Ich hatte genug. Ich ging noch einige Zeit, weiß, daß ich dann bei einem Springbrunnen saß, vielleicht war es auch gar kein Springbrunnen. Ich stand wieder auf, ging in dem aufsteigenden Licht des neuen Tages weiter, bis ich aus meiner Starrheit gegenüber großen, aufglühenden Glasscheiben erwachte, die mit feuerfarbenen Lettern verkündeten: ALCARON HOTEL. In der weißen Rezeption, die an die umgekippte Badewanne eines Riesen erinnerte, saß ein schön stilisierter, halbdurchsichtiger Roboter mit langen, fei nen Armen. Ohne mich etwas zu fragen, reichte er mir ein Buch, ich trug mich da ein und fuhr — versehen mit einer kleinen, dreieckigen Marke — nach oben. Irgend jemand — wer, weiß ich wirklich nicht — half mir, die Tür zu öffnen, oder tat es vielmehr für mich. Wände aus Eis — in ihnen eine Zirkulation von kleinen Flämmchen. Am Fenster, als ich dort hinkam, trat aus dem Nichts ein Sesselchen schob sich mir unter. Von oben fiel bereits eine flache Platte herab, bildete eine Art Schreibtisch. Ich aber wollte ein Bett. Ich konnte es nicht finden und versuchte nicht einmal, es zu suchen. Ich legte mich auf den Schaumteppich und schlief sofort ein im künstlichen Licht dieses fensterlosen Zimmers. Denn das, was ich zuerst für ein Fenster hielt, war selbstverständlich ein Fernsehschirm, so daß ich mein Bewußtsein mit dem Eindruck verlor, daß von dort aus, hinter der Glasplatte, ein Riesengesicht mir Grimassen schnitt, über mich meditierte, lachte, redete, faselte… Der Schlaf erlöste mich wie der Tod: sogar die Zei t hielt in ihm inne. |
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