"Transfer" - читать интересную книгу автора (Lem Stanislaw)

II

Mit noch geschlossenen Augen befühlte ich meine Brust: die Strickjacke hatte ich an; wenn ich also geschlafen hatte, ohne mich auszuziehen, so hatte ich Wache. „Olaf!“ —wollte ich rufen und setzte mich plötzlich auf.

Dies war ein Hotel und nicht der „Prometheus“. Ich erinnerte mich nun an alles: an die Labyrinthe des Bahnhofs, das Mädchen, ihre Angst, den blauen Felsen des Terminals über dem schwarzen See, die Sängerin, die Löwen…

Indem ich das Badezimmer suchte, fand ich zufällig das Bett: es befand sich in der Wand und fiel als perlmuttfarbenes, gedunsenes Quadrat herab, wenn man da irgendwo drückte. Im Badezimmer gab es weder eine Badewanne, noch irgendwelche Hähne, nichts, nur leuchtende Plättchen in der Decke und eine kleine Vertiefung — mit Schaumgummiplast ausgelegt — für die Füße. Nach einer Brause schien es nicht auszusehen. Ich hatte das Gefühl eines Neandertalers.

Ich zog mich schnell aus und blieb mit meiner Kleidung in der Hand stehen, weil es keine Bügel gab — nur ein kleines Schränkchen in der Wand, also warf ich alles da hinein. Daneben drei Knöpfe: blau, rot und weiß. Ich drückte den weißen. Das Licht ging aus. Dann den roten. Etwas brauste, das war kein Wasser, sondern ein sturmartiger Wind, der nach Ozon und noch etwas anderem roch: er umfing mich ganz, auf der Haut blitzten jetzt dichte, leuchtende Tropfen, schäumten und verflüchtigten sich, ich spürte keinerlei Feuchtigkeit, nur eine Unmenge weicher, elektrischer Nadeln, die meine Muskeln massierten. Probeweise drückte ich auf den blauen Knopf, und der Wind veränderte sich — er schien durch mich hindurchzugehen — ein recht eigenartiges Gefühl.

„Wenn man sich daran gewöhnt“, dachte ich, „kann man es gerne haben.“ Im ADAPT auf Luna hatten sie so etwas nicht — dort gab es gewöhnliche Badezimmer. Warum, weiß ich nicht. Das Blut zirkulierte nun lebhafter, ich fühlte mich pudelwohl, wußte nur nicht, womit und wie ich mir die Zähne putzen sollte. Endlich schenkte ich’s mir. In der Wand gab es noch eine kleine Tür mit der Aufschrift: BADEMANTEL. Ich sah hinein. Von Bademänteln keine Spur, nur drei syphonähnliche Metallflaschen standen da. Aber ich war sowieso nicht mehr naß und brauchte mich nicht abzutrocknen.

Ich machte das Schränkchen auf, in das ich meine Kleider hineingelegt hatte, und war erstaunt: es war leer. Ein Glück noch, daß ich meinen Slip oben auf diesen Schrank gelegt hatte. Ich kehrte im Slip ins Zimmer zurück und fing an, das Telefon zu suchen, um zu erfahren, was mit meinen Kleidern geschehen war.

Mir kam das alles ziemlich umständlich vor. Das Telefon entdeckte ich endlich am Fenster-wie ich den Fernsehschirm immer noch in Gedanken nannte. Es sprang aus der Wand, als ich laut zu fluchen anfing; es reagierte wohl auf die Stimme. Eine idiotische Manie, alles in den Wänden zu verstecken. Die Rezeption meldete sich. Ich fragte nach meinen Kleidern.

„Sie haben sie in den Reiniger getan, mein Herr“, sagte eine weiche Baritonstimme. „In fünf Minuten sind sie wieder da.“

„Auch schöre, dachte ich. Ich setzte mich an den Schreibtisch.“ dessen Platte sich eilfertig unter meine Ellbogen schob, kaum daß ich mich gebückt hatte. Wie geschah das? Man soll sich für derlei Dinge nicht interessieren; die meisten Menschen nutzen die Technologie ihrer Zivilisation, ohne sie zu begreifen.

Ich saß da, nackt, im Slip, und überlegte verschiedene Möglichkeiten. Ich könnte zum ADAPT gehen. Ginge es dabei nur um die Einführung in Technik und Sitten, würde ich nicht lange überlegen. Doch hatte ich bereits auf Luna gemerkt, daß sie zugleich versuchten, jedem eine bestimmte Einstellung beizubringen. Sie kamen mit einer schon fertigen Wertskala an, und wenn man sie nicht als seine eigene anerkannte, erklärten sie das — wie alles überhaupt — mit Rückständigkeit, unterbewußten Widerständen, Routine der alten Gewohnheiten und so weiter. Ich hatte durchaus nicht die Absicht, auf meine Gewohnheiten und Widerstände zu verzichten, solange ich nicht überzeugt war, daß das, was sie mir boten, besser wäre. Die Lehren der letzten Nacht hatten diese meine Entscheidung gar nicht beeinflußt. Ich wollte keine Schule, keine Rehabilitation — und schon ganz bestimmt nicht so brav und so plötzlich. Interessant, warum sie mich dieser „Betrisierung“ nicht unterworfen hatten. Das mußte ich herausbekommen.

Ich konnte einen von ihnen suchen: Olaf. Dies wäre schon eine deutliche Überschreitung der ADAPT-Empfehlungen. Ja, denn sie befahlen gar nichts, sie wiederholten fortwährend, daß sie in meinem Interesse handelten und daß ich tun könnte, was ich wollte: sogar direkt vom Mond auf die Erde springen — das war der witzige Doktor Abs —, wenn ich es so eilig hätte. Ich nahm keine Rücksicht auf den ADAPT, aber Olaf könnte das vielleicht nicht passen. Jedenfalls wollte ich ihm schreiben. Die Adresse hatte ich. Arbeit. Sollte ich mir einen Job suchen? Als Pilot? Und was dann — Kursflüge Mars-Erde-Mars machen? Das verstand ich gut, aber…

Plötzlich kam mir der Gedanke, daß ich doch Geld hätte. Eigentlich war es kein Geld, es hieß anders, aber ich begriff den Unterschied nicht, man konnte dafür doch alles haben. Ich bat um Verbindung mit der Stadt. Im Hörer pulsierte ein ferner Gesang.

Das Telefon hatte keine Zahlen, auch keine Drehscheibe, vielleicht sollte man den Namen der Bank nennen? Ich hatte ihn auf einem Zettel notiert, der Zettel war — im Anzug. Ich schaute ins Bad: der Anzug lag schon im Schränkchen, frisch gereinigt, in den Taschen befand sich mein ganzer Kleinkram, auch der Zettel.

Die Bank war keine Bank — sie hieß Omnilox. Ich sprach diesen Namen aus, und so schnell, als hätte sie gerade auf mein Anliegen gewartet, ließ sich eine tiefe Stimme hören: „Omnilox hier.“

„Mein Name ist Bregg“, sagte ich, „Hal Bregg. Und ich habe wohl bei Ihnen ein Konto… ich möchte gerne wissen, wieviel es ist?“

Ein Knacks und eine andere, höhere Stimme sagte: „Hai Bregg?“ „Ja.“

„Wer eröffnete dieses Konto?“

„Raflu — der Raumflug im Auftrag des Planeteologischen Instituts und der Raumflugkommission der UNO. Aber das ist schon einhundertsiebenundzwanzig Jahre her…“ „Haben Sie irgendeinen Beweis?“

„Nein, nur einen Zettel des Luna-ADAPT vom Direktor Oswamm…“

„In Ordnung. Kontostand: sechsundzwanzigtausendvierhundertsieben Iten.“ „Iten?“

„Ja. Wünschen Sie sonst noch etwas?“

„Ich möchte gern etwas Ge… das heißt, Iten abheben.“

„In welcher Form? Wollen Sie vielleicht einen Kalster?“

„Was ist das? Ein Scheckbuch?“

„Nein. Sie werden sofort bar zahlen können.“

„So? Gut.“

„Bis zu welcher Höhe soll man Ihnen den Kalster öffnen?“

„Was weiß ich — fünftausend…“

„Fünftausend. Sehr wohl. Sollen wir ihn ins Hotel schicken?“

„Ja. Moment mal — ich habe den Namen dieses Hotels vergessen. „Ist es nicht das, von wo aus Sie anrufen?“

„Doch. „Es heißt Alcaron. Den Kalster schicken wir sofort. Nur noch eine Frage: hat sich Ihre rechte Hand nicht verändert?“

„Nein — wieso?“

„Ach, nichts. Gegebenenfalls hätten wir den Kalster ändern müssen. Sie bekommen ihn gleich.“

„Danke“, sagte ich und legte den Hörer zurück. Sechsundzwanzigtausend — wieviel ist das? Ich hatte keine Ahnung. Etwas fing zu summen an. Ein Radio? Es war das Telefon. Ich hob den Hörer.

„Bregg?“

„Ja“, sagte ich. Mein Herz klopfte nur einmal etwas stärker. Ich erkannte ihre Stimme. „Woher wußtest du, wo ich bin?“ fragte ich, da sie nicht gleich weitersprach.

„Vom Infor. Bregg… Hai… hör zu, ich wollte dir erklären…“

„Da gibt es nichts zu erklären, Nais.“

„Du bist böse. Aber verstehe doch…“

„Ich bin nicht böse.“

„Hai, wirklich. Komm heute zu mir. Wirst du kommen?“

„Nein. Nais, sag mir bitte, wieviel das ist — zwanzig und ein paar Tausend Iten?“

„Wieso — wieviel? Hal… du mußt kommen.“

„Na… wie lange kann man davon leben?“

„Solange du willst, das Leben kostet doch gar nichts. Aber lassen wir das. Hal, wenn du nur wolltest…“

„Warte mal. Wieviel Iten gibst du monatlich aus?“

„Verschieden. Mal zwanzig, mal fünf, manchmal auch nichts.“

„Aha. Besten Dank.“„Hal! So höre doch!“

„Ich höre.“

„Wir wollen es nicht so beenden…“

„Wir beenden ja nichts“, sagte ich, „da nichts angefangen hat.

Ich danke dir für alles, Nais.“

Ich legte den Hörer auf. Das Leben kostet nichts? Dies interes sierte mich im Moment am meisten. Heißt das, daß es irgendwelche Dinge, Dienstleistungen umsonst gibt?

Wieder das Telefon.

„Hier Bregg.“

„Hier die Rezeption. Herr Bregg, Omnilox schickt Ihnen den Kalster. Ich schicke ihn nach oben.“

„Danke. Hallo!“

„Ja, bitte?“

„Zahlt man für das Zimmer?“

„Nein, mein Herr.“

„Gar nichts?“

„Gar nichts, mein Herr.“

„Und… gibt es im Hotel ein Restaurant?“

„Jawohl, vier. Wünschen Sie das Frühstück aufs Zimmer?“

„Gerne, und… zahlt man für das Essen?“

„Nein, mein Herr. Den Kalster haben Sie bereits oben. Das Frühstück kommt in einem Augenblick.“

Der Roboter legte auf, und ich hatte keine Zeit mehr, ihn zu fragen, wo ich diesen Kalster suchen sollte. Ich hatte keine blasse Ahnung, wie das Ding aussah. Vom Schreibtisch aufstehend, der, verlassen, sich sofort verkleinerte und schrumpfte, bemerkte ich eine Art Pult, das aus der Wand neben der Tür hervorwuchs: dort lag, in durchsichtigen Kunststoff eingewickelt, ein flacher Gegenstand. Er sah einem kleinen Zigarettenetui ähnlich. Auf der einen Seite hatte er eine Reihe kleiner Gucklöcher, in denen die Zahl 1001110001000 stand. Unten gab es zwei winzige Knöpfchen: Eins und Null. Überrascht sah ich mir das an. Endlich begriff ich, daß der Betrag von 5000 nach dem Dualsystem skontiert wurde. Ich drückte auf die Eins, und in die Hand fiel mir ein winziges Plastikdreieck mit der ausgestanzten Zahl 1. Also war dies so etwas wie eine kleine Druckerei oder Stanzerei von Geld bis zu der Höhe, die in den kleinen Sichtrastern angegeben war — die obere Zahl verminderte sich um eins.

Kaum angezogen, wollte ich schon gehen, als mir der ADAPT in den Sinn kam. Ich rief ihn an und erklärte, daß ich ihren Mann auf dem Terminal nicht finden konnte.

„Wir waren schon beunruhigt, Ihretwegen“, sagte eine Frauenstimme, „aber heute morgen erfuhren wir, daß Sie im Alcaron wohnen…“

Sie wußten, wo ich jetzt war. Warum haben sie mich auf dem Bahnhof nicht finden können? Anders konnte es gar nicht sein: ich sollte absichtlich umherirren, um zu verstehen, wie verfrüht meine „Rebellion“ auf Luna gewesen war.

„Ihr habt eine fabelhafte Information“, sagte ich höflich. „Vorläufig besichtige ich die Stadt. Werde mich später bei euch melden.“ Ich verließ das Zimmer: die Gänge, silbern und beweglich, flossen vollständig mitsamt den Wänden weiter — für mich eine Neuigkeit. Mit dem Aufzug fuhr ich nach unten, bei den einzelnen Stockwerken flogen Bars an mir vorbei, die eine war grün, wie in Wasser getaucht, jedes Stockwerk hatte seine eigene dominierende Farbe, Silber, Gold, allmählich wurde es mir zuviel.

Nach einem Tag! Eigenartig, daß sie es mochten. Komischer Geschmack. Doch dann erinnerte ich mich an das nächtliche Bild des Terminals.

Ich muß mich mit etwas Kleidung versorgen: mit dieser Entscheidung kam ich auf die Straße. Der Tag war wolkig, der Himmel mit lichtem Gewölk bedeckt, und manchmal schien die Sonne hindurch. Jetzt erst sah ich von einem Boulevard — dessen Mitte eine doppelte Reihe von Riesenpalmen einnahm, Blätter rosa wie Zungen — das Stadtpanorama. Die Gebäude standen einzeln wie Inseln, selten nur schoß ein Nadelbau in den Himmel, wie ein erstarrter Strahl fließenden Baumaterials, von einer unwahrscheinlichen Höhe. Diese Bauten waren sicher kilometerhoch. Ich wußte — jemand hat es mir noch auf Luna gesagt —, daß man sie jetzt nicht mehr errichtet und daß der Drang zur Höhe kurz nach ihrem Bau eines natürlichen Todes gestorben war. Sie waren das Denkmal einer Architekturepoche, denn abgesehen von ihrer Riesenhaftigkeit, die nur durch ihre Schlankheit nivelliert wurde, boten sie dem Auge nichts: Sie sahen wie dunkelbraun-goldene, schwarz-weiße, quergestrei fte oder silberne Röhren aus, die die Wolken stützen oder sie einfangen sollten. Und die Landeplätze, die aus ihnen am Himmel emporragten, auf rohrartigen Trägern in die Luft hinausgeschoben, ähnelten kleinen Bücherregalen.

Gar kein Vergleich mit den neuen Häusern, die fensterlos, aber viel hübscher waren; denn man konnte nun sämtliche Wände schmücken. Die ganze Stadt sah wie eine gigantische Kunstausstellung aus, ein Festival der Meister von Farbe und Form. Ich kann nicht behaupten, daß mir alles, was diese zwanzig oder dreißig Stockwerke hohen Bauten schmückte, gut gefiel, aber für einen Kerl von hundertfünfzig Jahren war ich nicht übermäßig von gestern. Am besten gefielen mir Häuser, die durch Gärten halbiert wurden — vielleicht waren es Palmenhäuser —, weil der Bau dadurch in der Mitte aufgeteilt und wie auf einem Luftkissen schwebend erschien — die Wände dieser Hochgärten waren aus Glasmaterial —, es entstand dabei ein Effekt von Leichtigkeit, und zugleich zerschnitten unregelmäßige Streifen eines zottigen Grüns den Bau auf angenehme Weise.

Ueber die Boulevards, entlang jener fleischigen Palmen, die mir durchaus mißfielen, bewegten sich zwei Ströme schwarzer Autos.

Ich wußte bereits, daß man sie Glider nannte. Über den Häusern zeigten sich auch andere, fliegende Maschinen, weder Hubschrauber noch Flugzeuge, sie sahen wie an beiden Enden zugespitzte Bleistifte aus.

Auf den Gehsteigen gab es nur wenig Menschen, nicht so viele wie vor hundert Jahren. Den Verkehr hat man weitgehend entlastet, besonders den Fußgängerstrom, vielleicht durch die Vielzahl von Ebenen: denn unter der Stadt, die ich nun sah, zogen sich niedrigere, unterirdische Stockwerke mit Straßen, Plätzen, Kaufhäusern hin — eben sagte mir an einer Ecke der Infor, daß für die Einkäufe die Etage Serean am günstigsten sei. Das war irgendein genialer Infor, oder vielleicht verstand ich mich schon besser verständlich zu machen, jedenfalls gab er mir ein Plastikbüchle in mit vielen zerlegbaren Seiten: den städtischen Verkehrsplan. Wollte ich irgendwohin gelangen, so drückte ich auf die in Silber gedruckten Namen — Straße, Stockwerk, Platz —, und gleich leuchtete auf dem Plan der volle Umkreis aller Verbindungen auf, die ich benötigte. Ich konnte auch mit einem Glider hinfahren. Oder mit einem Rast. Endlich konnte ich auch zu Fuß gehen — deshalb waren es vier Pläne. Doch begriff ich bereits, daß Ausflüge zu Fuß — sogar mit beweglichen Gehsteigen und Aufzügen — manchma l recht viele Stunden in Anspruch nehmen konnten.

Serean war wohl das dritte Stockwerk. Und wieder war ich von der Stadtansicht überrascht: anstatt unter die Erde kam ich aus einem Tunnel auf die Straße. Unterm Himmel, in der prallen Sonne, wuchsen in der Mitte eines Platzes große Pinien, in der Ferne zeichneten sich blau einige gestreifte Nadelbauten ab, und auf der entgegengesetzten Seite, hinter einem kleinen Wasserbecken, in dem Kinder planschten und mit bunten Fahrrädern auf dem Wasser herumfuhren, stand, von Palmengrün-Streifen durchschnitten, ein weißes Hochhaus mit einem recht eigenarti gen, wie Glas leuchtenden Aufsatz auf seinem Gipfel. Es tat mir leid, daß ich keinen um Erklärung dieses Rätsels fragen konnte.

Urplötzlich besann ich mich — oder vielmehr erinnerte mich mein Magen daran-, daß ich noch ohne Frühstück war. Ich hatte völlig vergessen, daß ich es im Hotel aufs Zimmer bekommen sollte.

Vielleicht hatte sich auch der Rezeptionsroboter irgendwie geirrt.

Zum Infor also: ich machte nun keinen Schritt mehr, ohne vorher genau erfahren zu haben, wie und was los ist. Übrigens konnte der Infor auch einen Glider bestellen, aber vorerst wagte ich noch nicht, darum zu bitten, weil ich gar nicht wußte, wie man da hineinsteigt. Na und auch, was man da später machen sollte. Ich hatte ja Zeit.

Im Restaurant — kaum daß ich einen Blick auf die Karte warf — wurde ich gewahr, daß dies für mich das reinste Chinesisch war.

Ich gab entschlossen den Auftrag, mir ein Frühstück — ein ganz normales Frühstück zu bringen. „Ozot, Kress oder Herma?“

Wäre der Kellner ein Mensch, so hätte ich ihm gesagt, er solle bringen, was er selber mag. Aber er war ein Roboter. Dem war alles egal.

„Und Kaffee gibt es keinen?“ fragte ich beunruhigt.

„Doch. Kress, Ozot oder Herma?“

„Kaffee und, na… eben das, was am besten zum Kaffee paßt, diesen… äh…“

„Ozot“, sagte er und ging.

Das wäre geschafft.

Er hatte wohl schon alles vorbereitet, denn er kam sofort zurück mit einem Tablett, das so beladen war, daß ich schon fast irgendeinen Streich witterte. Indessen machte mir der Anblick bewußt, daß ich außer dem Bons, den ich gestern aß, und dem Becher des berüchtigten Brit seit meiner Ankunft nichts mehr im Munde gehabt hatte.

Das einzige, was nach irgend etwas Bekanntem aussah, war der Kaffee, der an gut gekochten Tee erinnerte. Die Sahne hatte winzige, blaue Pünktchen und stammte todsicher von keiner Kuh. Es tat mir leid, daß ich es keinem abgucken konnte, der das Ganze zu essen verstand, doch war wohl die Frühstückszeit schon lange vorbei, ich saß ganz allein da. Sichelförmige Tellerchen mit einer dampfenden Masse, aus der etwas wie Enden von Streichhölzern herausragte, und drinnen etwas wie ein Backapfel: selbstver — ständlich waren es weder Aepfel noch Zündhölzer. Und das, was ich wiederum für Haferflocken hielt, fing — sobald ich es mit dem Löffel berührte — zu schwellen an. Ich aß alles auf, erwies mich als unheimlich verfressen. Die Sehnsucht nach Gebäck — davon war nicht die Spur zu sehen — kam erst nachträglich wieder, als der Roboter auftauchte und in einer gewissen Entfernung wartete.

„Was zahle ich?“ fragte ich ihn.

„Danke, nichts“, sagte er. Er war eher einem Möbelstück als einer Puppe ähnlich. Er hatte nur ein einziges rundes Kristallauge.

Irgend etwas bewegte sich in seinem Innern, doch konnte ich mich nicht überwinden, ihm in den Bauch zu schauen. Sogar ein Trinkgeld war da niemals zu geben. Ich wußte nicht, ob er mich verstehen würde, wenn ich ihn wegen einer Zeitung fragte. Vielleicht gab es keine Zeitungen mehr. Also ging ich einkaufen.

Vorerst traf ich aber auf ein Reisebüro — das war wie eine Erleuchtung. Ich ging hinein.

In einem großen, silbernen Saal mit smaragdenen Konsolenallmählich konnte ich diese Farben schon nicht mehr sehen — war es fast leer. Mattscheiben, Riesenfarbfotos des Canyons Colorado, des Archimedes-Kraters, der Deimos-Felsenhänge, Palm Beach, Florida — alles war so gemacht, daß man beim Zuschauen die Tiefe sah, sogar die Wellen bewegten sich, als wären es keine Fotos, sondern auf einen reellen Raum geöffnete Fenster, Ich ging zum Schalter mit der Inschrift: ERDE.

Dort saß, selbstverständlich, ein Roboter. Diesmal ein goldener.

Oder vielmehr mit Gold besprüht.

„Womit können wir Ihnen dienen?“ Seine Stimme war tief.

Wenn ich die Augen zumachte, würde ich schwören, daß da ein dicker, dunkelhaariger Mann spricht.

„Mir liegt an etwas Primitivem“, sagte ich. „Ich komme eben von einer langen Reise zurück — einer sehr langen. Ich möchte Ruhe haben, Wasser, Bäume, es können auch Berge sein. Primitiv und altmodisch will ich’s haben. Wie vor hundert Jahren. Habt ihr so etwas?“

„Wenn Sie es wünschen, müssen wir es haben. Felsengebirge.

Fort Plum. Mallorca. Die Antillen.“

„Näher“, sagte ich. „Tja… so ungefähr eintausend Kilometer entfernt. Wie?“

„Klavestra.“

„Wo ist denn das?“

Ich merkte schon, daß ich mit den Robotern ausgezeichnet reden konnte. Sie wunderten sich über rein gar nichts. Das konnten sie nicht. Eine sehr vernünftige Erfindung.

deine alte Bergbausiedlung in Pazifik-Nähe. Bergwerke, die seit fast vierhundert Jahren stillstehen. Recht interessante Ausflüge durch die unterirdischen Stollen. Bequeme Verbindungen durch Ulder und Glider. Sanatorien unter ärztlicher Aufsicht, Villen zu vermieten, mit Gärten, Schwimmbecken, klimatische Stabilisation, das Lokalzentrum unseres Büros veranstaltet alle Arten von Unterhaltung, Ausflüge, Spiele, Gesellschaftsabende.

An Ort und Stelle — Real, Mut und Stereon.“

„Ja, das könnte etwas für mich sein“, sagte ich. deine Villa mit Garten. Und Wasser dazu. Schwimmbecken, wie?“

„Selbstverständlich, mein Herr. Schwimmbecken mit Sprungtürmen, auch künstliche Seen mit Unterwasserhöhlen, ein großartig mit allen Geräten versehenes Zentrum für Taucher, Unterwasservorstellungen… „Lassen wir diese Vorstellungen. Was kostet das?“

„Einhundert Iten pro Monat. Wenn aber gemeinsam, mit noch jemandem, dann nur vierzig.“ „Gemeinsam?“

„Die Villen sind sehr geräumig, mein Herr. Von zwölf bis zu achtzehn Räumen — automatische Bedienung, Küche an Ort und Stelle, lokale oder exotische Speisen zur Auswahl…“

„Ja. Na, dann, vielleicht… gut. Mein Name ist Bregg. Ich nehme das. Wie heißt dieser Ort? Klavestra? Bezahle ich jetzt?“

„Wie Sie wünschen.“

Ich reichte ihm den Kalster.

Es zeigte sich dabei, was ich nicht wußte, daß nur ich allein den Kalster in Bewegung setzen konnte. Der Roboter war, natürlich, auch über diese meine Unwissenheit nicht erstaunt. Ich fing langsam an, die Roboter immer mehr zu lieben. Er zeigte mir, wie ich es machen sollte, damit aus der Mitte nur ein Stein mit der entsprechenden aufgedruckten Zahl herausfiele. Um ebensoviel verminderte sich die Zahl in dem kleinen Fensterchen oben, die den Kontostand angab.

„Wann kann ich dort hinfahren?“

„Wann Sie wünschen. Jederzeit.“

„Aber, aber — mit wem soll ich die Villa teilen?“ „Mit den Margers. Er und sie.“

„Darf ich wissen, was es für Leute sind?“

„Ich kann Ihnen nur sagen, daß es ein junges Ehepaar ist.“

„Hm. Und werde ich sie nicht stören?“

„Nein, da die Hälfte der Villa zu vermieten ist. Ein ganzes Stockwerk wird ausschließlich Ihnen gehören.“

„Gut. Wie komme ich dorthin?“

„Am besten mit dem Ulder.“

„Wie macht man das?“

„Ich stelle Ihnen den Ulder für den Tag und die Stunde, die Sie bestimmen werden.“

„Ich rufe dann von meinem Hotel aus an. Kann man das?“

„Bitte sehr. Die Bezahlung wird von dem Moment an fällig, in dem Sie in die Villa einziehen.“

Als ich hinausging, hatte ich schon einen nebelhaften Plan. Ich würde Bücher und verschiedene Sportartikel kaufen. Hauptsache Bücher. Man müßte auch irgendwelche Spezialzeitschriften abonnieren. Soziologie, Physik. Sicher haben sie da eine ganze Menge geleistet in den über hundert Jahren. Ach ja, und Kleidung müßte ich mir auch besorgen.

Aber wieder kam mir etwas in die Quere. Um die Ecke, ich traute meinen Augen nicht, sah ich ei n Auto. Ein wirkliches Auto. Vielleicht nicht mehr so eins, wie ich es in Erinnerung hatte — die Karosserie war aus lauter spitzen Winkeln modelliert. Es war aber ein wirklicher Wagen, mit Reifen, Türen, Lenkrad — und hinter ihm standen noch andere. Hinter einem großen Schaufenster, auf dem in großen Lettern ANTIQUITAETEN stand. Ich ging hinein. Der Inhaber — oder Verkäufer — war ein Mensch.

„Schade“, dachte ich.

„Kann man einen Wagen kaufen?“

„Selbstverständlich. Welchen möchten Sie gern?“

„Und was kosten sie?“

„Von vierhundert bis achthundert Iten.“

dein gepfefferter Preis“, dachte ich. Na, für Antiquitäten muß man eben zahlen.

„Und kann man damit fahren?“ fragte ich.

„Natürlich. Nicht überall zwar, es gibt da lokale Verbote, im allgemeinen ist es aber möglich.“

„Und wie steht’s mit dem Brennstoff?“ fragte ich vorsichtig, da ich keine Ahnung hatte, was sich unter der Karosserie verbarg.

„Damit werden Sie keine Schwierigkeiten haben. Eine Ladung reicht für die ganze Lebensdauer des Wagens. Die Parastate, wohlbemerkt, miteinberechnet.“

„Schön“, sagte ich. „Ich möchte etwas Stabiles, Widerstandsfähiges. Braucht nicht groß zu sein, aber schnell.“

„Dann würde ich Ihnen zu diesem Giabile oder zu dem anderen Modell dort raten…“

Er führte mich in einen großen Saal, die Wagen entlang. Die blitzten nur so, als wären sie wirklich neu.

„Wohlverstanden“, meinte der Verkäufer, „sie können sich nicht mit dem Glider messen. Aber heutzutage ist das Auto ja kein Verkehrsmittel mehr…“

„Sondern?“ — wollte ich fragen, blieb aber stumm.

„Gut“, sagte ich, „wieviel kostet dieser Wagen?“, und zeigte dabei auf eine blaßblaue Limousine mit silbernen, tief versteckten Scheinwerfern.

„Vierhundertachtzig Iten.“

„Ich möchte ihn aber in Klavestra haben“, sagte ich. „Dort habe ich eine Villa gemietet. Die genaue Adresse kann das Reisebüro, hier, in dieser Straße, angeben…“

„Sehr wohl, mein Herr. Man kann es mit dem Ulder schicken, dafür wird nichts berechnet.“

„So? Ich selbst soll mit einem Ulder dort hinfahren…?“

„Dann geben sie, bitte, nur das Datum an, und wir werden es zu ihrem Ulder bringen, so wird es am einfachsten sein. Es sei denn, Sie wünschen…“

„Nein, nein. Es kann so gemacht werden, wie Sie sagen.“

Ich bezahlte das Auto — mit dem Kalster verstand ich schon ganz gut umzugehen — und verließ den Antiquitätenladen. Hier roch es überall nach Lackfarben und Gummi. Diese Gerüche schienen mir herrlich.

Mit der Kleidung ging es nicht so gut. Fast nichts von den Klamotten, die ich kannte, existierte mehr. Dabei klärte sich auch das Geheimnis der rätselhaften Flaschen im Hotelschränkchen mit der Inschrift BADEMÄNTEL auf. Nicht nur so ein Mantel, sondern Anzüge, Strümpfe, Strickjacken, Wäsche — alles wurde aufgespritzt. Mir wurde klar, daß das den Frauen gefallen mußte: mit ein paar Flaschen hantieren, die eine Flüssigkeit abgaben, die sofort zu Geweben mit glatter oder rauher Struktur erstarrten: Samt, Pelz oder elastisches Metall. So schufen sie jedesmal ein neues Modell nur für die eine Gelegenheit. Selbstverständlich machte das nicht jede Frau selbst, es gab spezielle Plast-Salons — damit befaßte sich also Nais! — . Die daraus resultierende enganliegende Mode sagte mir im übrigen nicht besonders zu. Allein der Prozeß des Sichanziehens mit Hilfe der Syphonflaschen schien mir sinnlos schwierig. Es gab nur wenige fertige Sachen, und die wiederum paßten mir nicht: sogar den größten fehlten an vier Nummern zu meiner Statur. Endlich entschied ich mich für Flaschenwäsche: ich merkte, daß mein Hemd nicht mehr lange halten würde. Ich konnte natürlich den Rest meiner Habe vom „Prometheus“ herunterholen, aber auch dort hatte ich weder Anzüge noch weiße Oberhemden — mit denen hätte man in der Nähe des Fomalhautgestirns ja nicht viel anfangen können. So nahm ich nur noch einige Paare drillichähnliche Hosen für die Gartenarbeit, denn nur sie hatten relativ weite Beine, und man konnte sie auch verlängern; für alles zahlte ich einen Iten. Soviel kosteten diese Hosen, der Rest war umsonst.

Ich ließ mir die ausgewählten Sachen ins Hotel schicken und mich aus purer Neugier zu einem Besuch im Modesalon überreden. Dort empfing mich ein Kerl mit Künstlermiene, besah mich erst und stimmte mit mir überein, daß ich eher weite Sachen tragen sollte; ich merkte, daß er kaum von mir entzückt war. Ich von ihm auch nicht. Das Ganze endete mit ein paar Strickjacken, die er mir gleich an Ort und Stelle anfertigte. Ich stand da mit erhobenen Armen, und er flitzte um mich herum, dabei mit vier Flaschen zugleich operierend. Die Flüssigkeit — in der Luft weiß wie Schaum — erstarrte fast augenblicklich. Es entstanden aus ihr Jakken in verschiedenen Farben, eine hatte einen schwarz-roten Streifen auf der Brust; am schwierigsten war, wie ich merkte, das Fertigstellen von Kragen und Aermeln. Dazu brauchte man wirklich Übung.

Bereichert um dieses Erlebnis, das übrigens nichts kostete, fand ich mich wieder auf der Straße in der prallen Mittagssonne. Glider gab es inZWischen weniger, dafür über den Dächern eine Unzahl zigarrenartiger Maschinen. Die Menschenmenge schwamm auf den Rolltreppen in die niedrigeren Etagen hinunter. Alle hatten es sehr eilig, nur ich allein hatte Zeit. Wohl eine Stunde erwärmte ich mich in der Sonne unter einem Rhododendron mit verholzten Schuppen von schon abgestorbenen Blättern, dann ging ich in das Hotel zurück.

In der Halle unten bekam ich einen kleinen Rasierapparat, Als ich im Badezimmer mit der Rasur begann, merkte ich, daß ich mich ein wenig zum Spiegel herab beugen mußte. Und ich wußte doch, daß ich mich vorher darin gerade stehend sehen konnte.

Der Unterschied war minimal: aber schon vorher, als ich mein Hemd auszog, bemerkte ich etwas Sonderbares: das Hemd schien kürzer geworden zu sein. Fast als ob es eingelaufen wäre. Ich sah es mir genauer an. Aermel und Kragen waren unverändert. Ich legte das Hemd auf den Tisch. Es sah genauso aus wie vorher. Als ich es jedoch anzog, reichte es mir knapp über die Taille. Ich hatte mich verändert, nicht das Hemd. Ich bin also größer geworden.

Dieser Gedanke war absurd, beunruhigte mich aber trotzdem.

Ich verband mich mit dem Hotel — Infor und bat um die Adresse eines Arztes — Spezialist für Raumfahrtmedizin. Zum ADAPT wollte ich, solange es nur möglich war, nicht gehen. Nach einer kurzen Schweigepause, so als ob sich der antwortende Automat nicht schlüssig wäre — hörte ich die Adresse. Der Arzt wohnte in derselben Straße, einige Häuserblocks weiter. Ich ging zu ihm.

Ein Roboter führte mich in ein großes, verdunkeltes Zimmer.

Außer mir war niemand da.

Nach einer Weile kam der Arzt. Er sah aus, als ob er aus einem Familienfoto im Arbeitszimmer meines Vaters herausgestiegen wäre. Er war klein, aber nicht zierlich, grau, hatte einen kleinen weißen Bart und eine goldumrandete Brille — die ersten Gläser, die ich an einem menschlichen Gesicht seit meiner Landung sah.

Er hieß Doktor Juffon.

„Hai Bregg?“ sagte er. „Sind Sie es?“

„Ja.“

Er schwieg und sah mich lange an. „Was fehlt Ihnen?“

„Eigentlich nichts, Doktor, nur…“, ich erzählte ihm von meinen eigenartigen Beobachtungen.

Ohne ein Wort zu sagen, öffnete er mir eine Tür. Ich kam in ein kleines Behandlungszimmer.

„Ziehen Sie sich, bitte, aus.“

„Ganz?“ fragte ich, als ich nur noch die Hose anhatte.

„Ja.“

Er besah mich als Nackten.

„Solche Männer gibt es nicht mehr“, murmelte er wie zu sich selbst. Er horchte mein Herz ab, indem er mir ein kaltes Höhrrohr an die Brust legte. „Auch noch in tausend Jahren wird es so sein“ — dachte ich, und dieser Gedanke machte mir eine kleine Freude.

Er maß meine Größe, dann mußte ich mich hinlegen. Er betrachtete recht aufmerksam die Narbe unter meinem rechten Schlüsselbein, sagte aber nichts. Er untersuchte mich fast eine Stunde.

Reflexe, Lungenkapazität, EKG — alles. Als ich mich anzog, setzte er sich hinter einen kleinen, schwarzen Schreibtisch. Die Schublade, die er auszog, um darin zu kramen, quietschte. Nach all den Möbeln, die sich neben den Menschen wie besessen bewegten, gefiel mir dieser alte Schreibtisch sehr. „Wie alt sind Sie?“

Ich erklärte ihm, wie es bei mir um diese Dinge stand.

„Sie haben den Körper eines dreißigjährigen Mannes“, meinte er. „Haben Sie hyberniert?“

„Ja.“

„Lange?“

„Ein Jahr.“

„Warum?“

„Wir kamen mit einem verstärkten Schub zurück. Man mußte sich ins Wasser legen. Amortisation, wissen Sie, Herr Doktor.

Und da es einem schwerfällt, ein volles Jahr wach im Wasser zu liegen, so…“

„Selbstverständlich. Ich dachte, Sie hätten länger hyberniert.

Dieses eine Jahr können Sie getrost abziehen. Nicht vierzig, sondern neununddreißig sind Sie.“ „Und… das andere?“

„Es ist nichts, Bregg. Wieviel hattet ihr?“

„Beschleunigung? Zwei g.“

„Na, also. Sie dachten wohl, Sie wachsen weiter — wie? Nein.

Wachsen tun Sie nicht. Ganz einfach: die Bandscheiben. Wissen Sie, was das ist?“

„Ja, solche Knorpel in der Wirbelsäule.“

„Eben. Die entspannen sich nun, wo Sie aus diesem Druck heraus sind. Wie groß sind Sie?“

„Als ich abflog — war ich einssiebenundneunzig.“

„Und später?“

„Keine Ahnung. Gemessen hab’ ich mich nicht; es gab da andere Sorgen, wissen Sie.“

„Jetzt sind Sie zwei Meter groß.“

„Eine schöne Geschichte“, sagte ich, „und geht das noch länger so?“

„Nein, wahrscheinlich ist das schon alles… Wie fühlen Sie sich?“

„Gut.“

„Alles scheint allzuleicht — wie?“

„Jetzt schon weniger. Im ADAPT auf Luna gab man uns solche Pillen zur Minderung der Muskelspannung.“ „Hat man euch angravitiert?“

„Ja. Während der ersten drei Tage. Sie meinten, es wäre nach so vielen Jahren zu wenig, andererseits aber wollten sie uns nach alldem nicht noch länger unter Verschluß halten.“ „Wie steht es um Ihr Selbstgefühl?“

„Also…“, ich zögerte, „manchmal… habe ich den Eindruck, ein Neandertaler zu sein, der in die Stadt geraten ist.“

„Was wollen Sie nun machen?“

Ich erzählte ihm von der Villa.

„Vielleicht keine so schlechte Idee“, meinte er, „aber…“

„ADAPT wäre wohl besser?“

„Das behaupte ich nicht. Sie… wissen Sie — ich kann mich an Sie erinnern!“

„Wie ist das möglich? Sie konnten doch nicht…“

„Nein. Aber ich hörte über Sie von meinem Vater. Ich war damals zwölf Jahre alt.“

„Ach, das war wohl schon viele Jahre nach unserem Start“, sagte ich, „und man dachte noch an uns? Eigenartig.“

„Finde ich nicht. Eigenartig ist eher, daß man euch vergaß. Sie wußten doch, wie die Rückkehr aussehen würde. Natürlich konnten Sie es sich nicht vorstellen.“ „Ich wußte es.“

„Wer schickt Sie zu mir?“

„Niemand. Das heißt… der Infor vom Hotel. Wieso?“

„Komisch“, sagte er. „Denn eigentlich bin ich gar kein Arzt, wissen Sie.“

„Ja, wie denn…“

„Praktizieren tue ich seit vierzig Jahren nicht mehr. Ich befasse mich mit der Geschichte der Raummedizin. Denn es ist bereits Geschichte, Bregg, und außer dem ADAPT gibt es für die Spezialisten keine Arbeit mehr.“

„Entschuldigung, ich wußte nicht… „Unsinn. Ich sollte Ihnen vielmehr dankbar sein. Sie sind ein lebender Beweis gegen die Thesen der Millman-Schule über den schädlichen Einfluß der verstärkten Schwerkraft auf den Organismus. Sie haben nicht einmal eine Vergrößerung der linken Herzkammer, nicht die Spur von Lungenerweiterung.. und ein herrliches Herz. Doch das wissen Sie — wie?“ „Ich weiß es.“

„Als Arzt habe ich Ihnen eigentlich nichts mehr zu sagen, Bregg, aber sonst…“ Er zögerte. „Ja?“

„Wie orientieren Sie sich in… unserem heutigen Leben?“

„Nebelhaft.“

„Sie sind grau, Bregg.“

„Hat das irgendeine Bedeutung?“

„Ja. Graues Haar bedeutet Alter. Keiner wird jetzt grau, Bregg, ehe er achtzig ist, und auch dann kommt es selten vor.“

Ich wurde mir bewußt, daß es stimmte: ich hatte fast keine alten Leute gesehen.

„Wieso?“ fragte ich.

„Es gibt Spezialpräparate, Medikamente, die das Grauwerden aufhalten. Man kann auch die ursprüngliche Haarfarbe wiederherstellen, obwohl das ein wenig schwieriger ist.“

„Na, schön“, sagte ich, „aber warum sagen Sie mir das?“

Ich merkte, das er unschlüssig war. „Die Frauen, Bregg“, sagte er dann kurz.

Ich zuckte zusammen. „Soll das heißen, das ich wie ein… Greis aussehe?“

„Wie ein Greis — nein, eher wie ein Athlet… aber Sie spazieren ja nicht nackt herum. Besonders im Sitzen sehen Sie… das heißt, ein Durchschnittsmensch wird Sie für einen verjüngten Greis halten. Nach einer verjüngenden, einer Hormonoperation und so weiter.“

„Ja, da kann man nichts machen“, sagte ich. Ich wußte nicht, warum ich mich unter seinem ruhigen Blick so fatal fühlte. Er nahm die Brille ab und legte sie auf den Schreibtisch. Er hatte blaue, ein wenig tränende Augen.

„Sie verstehen viele Dinge nicht, Bregg. Sollten Sie bis an Ihr Lebensende ein Asket bleiben, so wäre Ihr „da kann man nichts machen“ vielleicht am Platz, aber… diese Gesellschaft in der Sie zurückgekehrt sind, kennt keine Begeisterung für das, dem Sie mehr als Ihr Leben geopfert haben.“

„Sprechen Sie doch nicht so, Doktor.“

alle Freunde, auf die Eltern, Verwandten, Bekannten, die Frauen verzichten — denn Sie haben sie ja geopfert, Bregg!“

„Doktor…“

Das Wort kam mir kaum durch die Kehle. Mit dem Ellbogen stützte ich mich auf den alten Schreibtisch.

„Außer einer Handvoll Fachleute geht dies keinen etwas an, Bregg. Wissen Sie das?“

„Ja. Man hat es mir auf Luna gesagt… nur… wurde es… milder ausgedrückt. „Eine Zeitlang schwiegen wir beide. „Die Gesellschaft, in die Sie zurückgekehrt sind, ist stabilisiert. Sie lebt in Ruhe. Verstehen Sie? Die Romantik der frühen Raumflugzeit ist vorüber. Es ist fast eine Analogie zu der Geschichte des Kolumbus. Seine Expedition war etwas Außergewöhnliches, aber wer hat sich zweihundert Jahre nach ihm für die Kapitäne von Segelschiffen interessiert? Über Ihre Rückkehr gab es eine Notiz von zwei Zeilen im Real. „Doktor, das hat ja nichts zu bedeuten“, sagte ich. Sein Mitgefühl fing an, mich mehr zu reizen als die Gleichgültigkeit der anderen. Aber das konnte ich ihm nicht sagen.

„Es hat, Bregg, nur wollen Sie es nicht zur Kenntnis nehmen.

Wären Sie jemand anderes, dann würde ich schweigen. Ihnen aber bin ich die Wahrheit schuldig. Sie sind allein. Der Mensch kann nicht allein leben. Ihre Interessen, all das, womit Sie zurückgekommen sind, bilden eine kleine Insel in einem Meer von Ignoranz. Ich bezweifle, ob viele Menschen Lust hätten zu hören, was Sie zu erzählen haben. Ich gehöre wohl zu solchen Menschen, aber ich bin neunundachtzig Jahre alt…“

„Ich habe nichts zu erzählen“, antwortete ich wütend. — Jedenfalls nichts Sensationelles. Wir haben keine galaktische Zivilisation entdeckt, und außerdem war ich nur ein Pilot. Ich führte das Schiff. Einer mußte es ja tun.

„So?“ sagte er leise und hob di e weißen Augenbrauen.

Aeußerlich war ich ruhig, aber mich packte eine wilde Wut.

„Ja! Und tausendmal ja! Und diese Gleichgültigkeit jetztwenn Sie es schon wissen wollen — geht mich nur etwas an wegen der anderen, die dageblieben sind…“

„Wer ist dageblieben?“ fragte er ganz ruhig.

Ich faßte mich wieder.

„Viele. Arder, Venturi, Ennesson. Doktor, warum…“

„Ich frage nicht aus purer Neugier. Dies war — glauben Sie mir, ich mag auch keine großen Worte — fast wie meine eigene Jugend.

Euretwegen habe ich mich diesem Studium zugewandt. Wir sind uns in der Nutzlosigkeit gleichgeworden. Selbstverständlich können Sie das nicht anerkennen. Ich will da nicht drängen. Aber ich möchte es wissen. Was geschah mit Arder?“

„Genauweiß man es nicht“, sagte ich. Mit einemmal wurde mir alles egal. Warum sollte ich nicht davon reden? Ich starrte auf die schwarze, zersprungene Politur des Schreibtisches. Nie hätte ich gedacht, das es einmal so kommen würde.

„Wir führten zwei Sonden über Arkturus. Ich verlor den Kontakt mit ihm. Konnte ihn nicht finden. Sein Radio war es, das da schwieg, nicht meins. Als mir der Sauerstoff zu Ende ging, kam ich zurück.“

„Haben Sie gewartet?“

„Ja. Das heißt — ich kreiste um Arkturus herum. Sechs Tage lang. Genau einhundertsechsundfünfzig Stunden.“ „Allein?“

„Ja. Ich hatte Pech, weil Arkturus neue Flecken bekam und ich den Kontakt mit dem „Prometheus“ völlig verlor. Mit meinem Schiff. Störungen. Allein, ohne Radio, konnte er nicht zurück.

Arder, meine ich. Denn der Peilfunk ist in den Sonden mit dem Radio gekoppelt. Er konnte ohne mich nicht zurück, und er kam auch nicht. Gimma rief mich zurück. Recht hatte er. Nur so zum Zeitvertreib berechnete ich später, wie die Chancen standen, daß ich ihn im Bild, mit dem Radar hätte wiederfinden können — ich weiß nicht mehr genau, aber es verhielt sich etwa wie eins zu einer Trillion. Ich hoffe, er tat dasselbe wie Arne Ennesson.“

„Was tat denn Arne Ennesson?“

„Er verlor die Fokalisation des Bündels. Sein Schub wurde geschwächt. Er konnte sich noch auf der Umlaufbahn — vielleicht vierundzwanzig Stunden, schätze ich — halten, er würde auf einer Spirale rotieren und endlich auf Arkturus fallen, also zog er vor, gleich in die Protuberanz hineinzugehen. Er verbrannte fast vor meinen Augen.“

„Wie viele Piloten gab es außer Ihnen?“

„Auf dem „Prometheus“ fünf.“

daß es eine Heldentat ist. So dachte ich früher auch, als ich Bücher über solche Leute las. Es stimmt aber nicht. Hören Sie?

Hätte ich es gekonnt, würde ich diesen Arder alleingelassen haben und wäre gleich zurückgekehrt, aber das konnte ich nicht. Er wäre auch nicht zurückgekehrt. Keiner würde es tun. Gimma ebenfalls nicht…“

„Warum… verleugnen Sie sich so?“ fragte er leise.

„Weil es einen Unterschied zwi schen dem Heldentum und der Notwendigkeit gibt. Ich tat das, was jeder tun würde. Doktor, um das zu verstehen, muß man dort sein. Der Mensch ist so eine flüssige Blase. Es genügt ein defokalisierter Schub oder entmagnetisierte Felder, dann entsteht eine Vibration, und im Nu gerinnt das Blut. Beachten Sie bitte: Ich spreche nicht über die äußeren Ursachen, wie Meteore, sondern nur über die Folgen von Defekten.

Irgendeine kleine Sauerei, irgendein durchgebrannter Draht im Funk genügt schon — und dann kommt es. Sollten bei derartigen Expeditionen unter solchen Umständen auch noch Menschen versagen, so wäre das Ganze reiner Selbstmord gewesen, begreifen Sie?“ Für eine Sekunde schloß ich die Augen. „Doktor — fliegen die anderen jetzt nicht mehr? Wie ist das möglich?“

„Würden Sie fliegen?“

„Nein.“

„Warum?“

„Das sage ich Ihnen. Keiner von uns wäre geflogen, hätte er gewußt, wie es dort ist. Das weiß eben niemand. Niemand, der nicht dort gewesen ist. Wir waren ein Haufen zu Tode erschrockener, verzweifelter Tiere.“

„Wie vereinbaren Sie das mit dem, was Sie vor einer Weile gesagt haben?“

„Ich vereinbare es nicht miteinander. So war es. Wir hatten Angst. Doktor, als ich auf Arder wartete — da um diese Sonne kreisend —, habe ich mir verschiedene Personen ausgedacht und mit ihnen gesprochen, für sie und für mich selbst, und am Ende glaubte ich, daß sie mit mir flögen. Jeder rettete sich, wie er konnte. Denken Sie bloß mal nach, Doktor. Ich sitze hier, vor Ihnen, habe mir eine Villa gemietet, ein altes Auto gekauft, will lernen, lesen, schwimmen… aber all das habe ich in mir. Das steckt in mir, dieser Raum, diese Stille, und wie Venturi um Hilfe schrie und ich, statt ihn zu retten, vollen Schub nach rückwärts gegeben habe.“

„Warum?“

„Ich führte den „Prometheus“, Ennessons Reaktor fiel aus. Der konnte uns alle zersprengen. Er explodierte aber nicht; würde uns also nicht vernichten. Vielleicht hätten wir noch Zeit gehabt, ihn herauszuziehen, aber ich hatte kein Recht, alles zu riskieren. Damals, mit Arder, war es umgekehrt. Ich wollte ihn retten, und Gimma rief mich, weil er Angst hatte, daß wir beide umkämen.“

„Bregg… sagen Sie mir, was habt ihr von uns erwartet? Von der Erde?“

„Keine Ahnung. Habe nie darüber nachgedacht. Es war, als ob einer über das Leben nach dem Tode oder über das Paradies sprechen würde, daß es das geben wird, aber keiner konnte es sich vorstellen. Sprechen wir nicht mehr davon. Ich wollte Ihnen eine Frage stellen: Wie ist es mit dieser… Betrisierung?“

„Was wissen Sie darüber?“

Ich sagte es ihm — aber kein Wort davon, unter welchen Umständen und von wem ich es erfuhr.

„Ja“, sagte er. „Ungefähr… der Durchschnitt stellt sich das so vor.“

„Und ich?“

„Das Gesetz sieht für euch eine Ausnahme vor, da die Betrisierung von Erwachsenen ein für die Gesundheit nicht unschädlicher, sogar gefährlicher Eingriff ist. Ansonsten meint man — wohl auch nicht ohne Grund —, daß ihr die Probe einer moralischen Haltung… bestanden habt. Übrigens seid ihr… nicht viele.“

„Noch eins, Doktor. Sie sprachen von den Frauen. Warum haben Sie mir das gesagt? Aber vielleicht nehme ich Ihre Zeit zu lange in Anspruch?“

„Nein. Sie stehlen mir nicht meine Zeit. Warum ich es gesagt habe? Welche nahestehenden Menschen kann einer wohl haben, Bregg? Eltern. Kinder. Freunde. Frauen. Eltern oder Kinder haben Sie nicht. Freunde können Sie keine haben.“ „Warum?“

„Ich denke dabei nicht an Ihre Gefährten, obwohl ich nicht weiß, ob sie ständig in ihrem Kreise verweilen möchten, sich erinnern…“

„Großer Gott, nein!“

„Na — also? Sie kennen zwei Zeitalter. Im vergangenen ver brachten Sie Ihre Jugend, und das jetzige werden Sie bald kennen. Zählt man die zehn Jahre hinzu, so ist Ihre Erfahrung kaum mit der von Gleichaltrigen vergleichbar. Also können Sie auch keine gleichwertigen Partner sein. Wollen Sie unter Greisen leben? Was Ihnen bleibt, sind die Frauen. Nur die Frauen.“

„Eher wohl nur eine“, murmelte ich.

„Eine ist heute schwer zu finden.“

„Wieso?“

„Es ist ein Zeitalter des Wohlstands, was — in die Sprache der Erotik übersetzt — Rücksichtslosigkeit bedeutet. Weil man weder die Liebe, noch die Frauen für… Geld bekommen kann. Materielle Fragen haben hier aufgehört zu existieren.“

„Und das nennen Sie Rücksichtslosigkeit? Doktor!“

„Ja. Sie denken wohl — weil ich von käuflicher Liebe sprach —, daß es um getarnte oder öffentliche Prostitution geht. Nein. Das sind längst verflossene Zeiten. Früher wurde die Frau vom Erfolg geblendet. Der Mann imponierte ihr durch die Höhe seiner Einkünfte, sein berufliches Können, seine soziale Stellung. In einer egalisierten Gesellschaft ist das nicht möglich. Mit sehr wenigen Ausnahmen. Wären Sie, zum Beispiel, Realist…“ „Ich bin Realist.“

Der Arzt lächelte. „Das Wort hat jetzt eine andere Bedeutung.

So heißt ein Schauspieler, der im Real auftritt. Waren Sie schon im Real?“ „Nein.“

„Sehen Sie sich mal ein paar Melodramen an, dann werden Sie die heutigen Kriterien der erotischen Wahl begreifen. Am wichtigsten ist die Jugend. Deshalb kämpfen alle so sehr um sie. Runzeln, graue Haare, besonders verfrühtes Ergrauen erwecken fast solche Gefühle wie vor Jahrhunderten — der Aussatz…“

„Aber warum? „Sie können das schwer verstehen. Aber die Argumente des Verstandes sind gegen die bestehenden Sitten machtlos. Sie sind sich immer noch nicht bewußt, wie viele Elemente, die vorher in der Erotik ausschlaggebend waren, verschwunden sind. Natur erträgt keine Leere: andere Elemente mußten an diese Steile treten. Nehmen wir als Beispiel das, was Sie selbst so gut kennen: das Risiko. Das gibt es nicht mehr, Bregg. Der Mann kann einer Frau nicht mit Bravour, mit einer tollkühnen Tat imponieren.

Und doch lebte die Literatur, die Kunst, die ganze Kultur jahr hundertelang von diesem Thema: Liebe den endgültigen Entscheidungen gegenübergestellt. Orpheus ging ja, um Eurydike zu holen, in den Hades. Othello hat aus Liebe getötet. Das Tragische bei Romeo und Julia… heute gibt es keine Tragödien mehr.

Nicht mal eine Chance für sie. Wir haben die Hölle der Leidenschaften beseitigt, da stellte es sich heraus, daß zugleich auch der Himmel zu existieren aufhörte. Nun ist alles nur lau, Bregg.“

„Lau? „Ja. Wissen Sie, was auch die unglücklichsten Liebhaber tun?

Sie benehmen sich vernünftig. Keine Gewalttätigkeiten, keine Rivalität…“

„Wollen… wollen Sie damit sagen, daß all das… verschwunden ist?“ fragte ich. Zum ersten Mal fühlte ich ein abergläubisches Grauen gegen eine solche Welt. Der alte Doktor schwieg.

„Herr Doktor, das ist nicht möglich. Wie… kann das wirklich so sein?“

„Jawohl. Ja. Und Sie müssen es akzeptieren, Bregg, wie die Luft, wie das Wasser. Ich sagte, daß es schwer ist, eine Frau zu finden. Für ein ganzes Leben ist es fast unmöglich. Der Durchschnitt der Verbindungen schwankt um sieben Jahre. Übrigens ist das bereits ein Fortschritt. Vor einem halben Jahrhundert betrug er kaum vier…“

„Doktor, ich will Ihre Zeit nicht zu sehr beanspruchen. Was raten Sie mir?“

„Das, was ich schon sagte: die ursprüngliche Haarfarbe wiederherstellen… sicher, das klingt trivial. Aber es ist wichtig. Ich schäme mich, Ihnen einen solchen Rat zu geben. Es liegt nicht an mir. Was kann ich da schon…“

„Ich danke Ihnen. Wirklich. Und noch eine letzte Frage: Sagen Sie mir, bitte, wie ich aussehe… mit diesen Straßen als Hintergrund? In den Augen der Passanten? Was gibt es denn an mir…?“

„Bregg, Sie sind anders. Erstens einmal ihre Körpermaße. Wie die aus der „Ilias“. Uralte Proportionen… nun, das kann sogar eine gewisse Chance sein, obwohl Sie wahrscheinlich wissen, was mit denen geschieht, die sich allzusehr von den anderen unterscheiden?“

„Ja, ich weiß es.“

„Sie sind ein wenig zu groß… solche Menschen hab ich nicht mal aus meiner Jugend im Gedächtnis. Jetzt sehen Sie wie ein sehr großer und schlecht gekleideter Mann aus, aber es liegt nicht am Anzug. Sie haben zu starke Muskeln. War es vor Ihrer Reise auch schon so?“

„Nein, Doktor. Das sind die zwei g, wissen Sie.“

„Schon möglich…“

„Sieben Jahre. Sieben Jahre doppelter Belastung. Meine Muskeln mußten sich vergrößern: Bauchmuskeln, Brustmuskeln, ich weiß auch, was für einen Nacken ich jetzt habe. Anders wäre ich dort erstickt wie eine Ratte. Die arbeiteten ja, sogar als ich schlief. Sogar bei der Hibernisation. Alles wog doppelt soviel.

Daher kommt es.“

„Und bei den anderen?… Entschuldigen Sie die Frage, da bricht meine ärztliche Neugie r durch… Es hat ja nie so eine lange Expedition gegeben, wissen Sie.“

„Weiß ich. Die anderen? Olaf fast so wie ich. Das liegt wohl am Knochenbau, breit war ich schon immer. Arder war größer als ich. Über zwei. Tja, der Arder… Was sagte ich eben? Die anderen — na, ich war der Jüngste und hatte die größten Anpassungsfähigkeiten. So behauptete mindestens Venturi… Kennen Sie die Arbeiten von Janssen?“

„Ob ich sie kenne? Für uns ist das schon Klassik, Bregg.“

„So? Lustig, er war so ein quirliger, kleiner Doktor… ich hielt bei ihm neunundsiebzig g anderthalb Sekunden aus — wissen Sie?“

„Was erzählen Sie da?“

Ich lächelte. „Ich habe es schriftlich. Das war vor einhundertdreißig Jahren… nun sind vierzig zuviel für mich.“

„Bregg, heute hält keiner mehr als zwanzig aus!“

„Warum — vielleicht wegen der Betrisierung?“

Er schwieg. Ich hatte den Eindruck, daß er etwas wußte, was er mir nicht sagen wollte. Ich stand auf.

„Bregg“, sagte er, „wenn wir schon davon sprechen: Geben Sie acht!“

„Worauf?“

„Auf sich selbst und die anderem Der Fortschritt kommt nie umsonst. Wir wurden Tausende von Gefahren und Konflikten los, aber man muß alles bezahlen. Die Gesellschaft wurde weich.

Und Sie selbst sind — können — vielleicht… hart sein. Verstehen Sie?“

„Ich verstehe“, sagte ich und dachte an den Mann, der da im Restaurant lachte und still wurde, als ich näher kam.

„Doktor“, sagte ich plötzlich, „ja… in der Nacht traf ich einen Löwen. Sogar zwei Löwen. Warum haben die mir nichts getan?“

„Raubtiere gibt es keine mehr, Bregg… Die Betrisierung… haben Sie sie in der Nacht getroffen? Und was taten Sie da?“

„Ich kraulte sie am Hals“, sagte ich und zeigte ihm, wie ich es getan hatte. „Aber der Vergleich mit der „Ilias“, Doktor, das ist doch eine Übertreibung. Ich hatte ganz schön Angst. Was bin ich Ihnen schuldig?“

„Denken Sie nicht mehr daran. Und wenn Sie jemals wieder herkommen möchten…“ „Danke.“

„Warten Sie aber nicht allzu lange“, sagte er fast wie zu sich selbst, als ich schon hinausging. Erst auf der Treppe verstand ich, was es hieß: Er war fast neunzig Jahre alt.

Ich ging in das Hotel zurück. In der Halle gab es einen Friseur.

Natürlich ein Roboter: Ich ließ mir die Haare schneiden. Sie waren schon ziemlich lang geworden, besonders hinter den Ohren.

Die Schläfen waren am meisten ergraut. Als er fertig war, hatte ich das Gefühl, weniger wild auszusehen. Er fragte mit einer melodiösen Stimme, ob er das Haar nachdunkeln solle.

„Nein.“

„Aprex?“

„Was ist das?“

„Gegen Runzeln.“

Ich zögerte. Fühlte mich ungemein blöde, aber vielleicht hatte der Doktor doch recht.

„Gut“, stimmte ich endlich zu. Er bedeckte mein ganzes Gesicht mit einer Schicht scharf riechenden Gelees, das zu einer Maske erstarrte. Ich lag unter den Tüchern, recht froh, daß mein Gesicht nun unsichtbar wurde.

Dann fuhr ich nach oben. Im Zimmer lagen bereits die Päckchen mit der flüssigen Wäsche, ich zog meinen Anzug aus und ging ins Badezimmer. Da gab es ei nen Spiegel.

Ja. Ich konnte wirklich erschrecken. Ich wußte nicht, daß ich wie ein Jahrmarktkämpfer aussah. Gezackte Brustmuskeln, der Körper, ich war überhaupt ganz und gar athletisch. Als ich den Arm hob und mein Brustmuskel anschwoll, sah ich darin eine handbreite Schramme. Ich wollte noch die andere Narbe unterm Schulterblatt sehen, für die ich Glückspilz genannt wurde; denn wäre damals ein Splitter nur drei Zentimeter mehr nach links gegangen, hätte er mir die Wirbelsäule zerschmettert. Ich schlug mit der Faust auf meinen brettartigen Bauch.

„Du Rindvieh“, sagte ich zum Spiegelbild. Ich hatte Lust auf ein Bad, ein richtiges, nicht im Ozonwind, und war froh bei dem Gedanken an das Schwimmbecken, das es bei der Villa geben würde.

Ich wollte etwas von den neuen Sachen anziehen, konnte mich aber irgendwie nicht von meiner alten Hose trennen. So zog ich nur die weiße Strickjacke an, obschon mir meine alte schwarze, an den Ellbogen schon ausgefranste, weit besser gefiel, und ging hinunter ins Restaurant.

Die Hälfte der Tischchen war besetzt. Durch drei Säle hindurch gelangte ich auf die Terrasse: man sah von dort aus die großen Boulevards mit unendlichen Glider-Strömen; unter den Wolken, wie ein Bergmassiv, blau von der Luft, stand der Terminal — Bahnhof.

Ich bestellte das Mittagessen.

„Welches?“ fragte der Roboter. Er wollte mir eine Karte bringen.

„Egal“, sagte ich. „Ein normales Essen.“

Erst als ich zu essen anfing, bemerkte ich, daß die Tischchen rundum leer waren. Ganz unwillkürlich suchte ich Einsamkeit.

Ich wußte es nicht einmal. Ich wußte auch nicht, was ich da aß.

Ich verlor das Gefühl der Sicherheit, daß das, was ich mir ausgedacht hatte, auch gut sei. Ferien — als ob ich mich selber belohnen möchte, weil kein anderer daran gedacht hat.

Der Kellner trat lautlos näher. „Herr Bregg — ja?“

„Ja.“

„Sie haben einen Gast — auf Ihrem Zimmer.“

Gleich dachte ich an Nais. Ich trank die dunkle, schäumende Flüssigkeit aus und stand auf, fühlte dabei im Rücken verschiedene Blicke, die mich verfolgten. Es wäre nicht übel, von der eigenen Körpergröße zehn Zentimeter abzusägen. In meinem Zimmer saß eine junge Frau, die ich nie gesehen hat te. Ein graues, flaumiges Kleidchen und etwas Rotes — wie eine Stolaum die Schultern.

„Ich bin vom ADAPT“, sagte sie, „und habe heute schon mit Ihnen gesprochen.“

„So — sind Sie es gewesen?“ Ich war ein bißchen widerborstig. Was wollten die schon wieder von mir?

Sie setzte sich. Auch ich setzte mich langsam hin.

„Wie fühlen Sie sich?“

„Ausgezeichnet. Ich war heute beim Arzt, der mich untersucht hat. Alles in Butter. Ich habe mir eine Villa gemietet, möchte etwas lesen.“

„Sehr vernünftig. Klavestra ist in dieser Beziehung ideal. Sie werden dort Berge haben und Ruhe…“

Sie wußte, daß es Klavestra war. Verfolgten Sie mich dennoder wie? Ich saß reglos da und wartete auf die Fortsetzung.

„Ich habe Ihnen etwas mitgebracht… von uns.“

Dabei zeigte sie auf ein kleines Päckchen, das auf dem Tisch lag.

„Das ist das Neueste bei uns, wissen Sie“, sie sprach lebhaft, wenn auch etwas gekünstelt. „Wenn Sie schlafen gehen, brauchen Sie nur den Apparat einzustellen… und erfahren auf diese Weise, ganz einfach, völlig mühelos, innerhalb mehrerer Nächte eine ganze Menge nützlicher Dinge.“

„So? Das ist gut“, sagte ich. Sie lächelte mich an. Auch ich lächelte, wie ein braver Schüler: „Sie sind ein Psychologe?“

„Ja. Erraten…“ Nun zögerte sie. Ich merkte, daß sie noch etwas sagen wollte.

„Ja — bitte…“

„Werden Sie mir auch nicht böse sein?“

„Weshalb denn?“

„Weil… nun, sehen Sie… Sie kleiden sich etwas…“

„Ich weiß. Aber ich trage diese Hose gern. Vielleicht wird es mit der Zeit…“

„Ach, nein, um die Hose geht es eigentlich nicht. Die Strickjacke…“

„Die Jacke?“ staunte ich. „Die wurde mir doch erst heute gemacht, scheint wohl der letzte Modeschrei zu sein, stimmt’s?“

„Ja. Nur haben Sie sie unnötigerweise aufgebläht… Sie gestatten?“

„Bitte“, sagte ich ganz leise. Sie lehnte sich aus ihrem Sessel heraus, schlug mit ausgestreckten Fingern leicht an meine Brust und schrie dann leise auf: „Was haben Sie denn da?“

„Nichts — außer mir selbst“, antwortete ich mit einem schiefen Lächeln.

Mit der Rechten umfing sie die Finger ihrer linken Hand und stand auf. Meine von einer bösartigen Genugtuung begleitete Ruhe erstarrte plötzlich zu Eis.

„Setzen Sie sich doch wieder, bitte.“

„Aber… ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung, aber ich…“

„Keine Ursache. Arbeiten Sie schon lange im ADAPT?“

„Das zweite Jahr.“

„So — und dies wäre der erste Patient?“ Ich zeigte mit dem Finger auf mich selbst. Sie wurde ein bißchen rot. „Darf ich Sie etwas fragen?“

Ihre Lider flatterten. Dachte sie, ich wollte ein Stelldichein mit ihr vereinbaren? „Selbstverständlich…“

„Wie ist das wohl gemacht, daß man auf jeder Stadtebene den Himmel sehen kann?“

Sie wurde lebhafter. „Das ist ganz einfach. Das Fernsehen — so hat man es früher genannt. An den Decken gibt es Bildschirme — sie übermitteln alles, was über der Erde ist, das Bild von Himmel, und Wolken…“

„Diese Ebenen sind aber gar nicht sehr hoch“, meinte ich, „und dabei stehen dort Häuser mit vierzig Stockwerken…“

„Eine Illusion“, lächelte sie, „nur ein Teil dieser Häuser ist reell; das Bild ist ihre Verlängerung. Verstehen Sie?“

„Schon, ich kann ja verstehen wie, aber nicht wozu das so ist.“

„Damit sich die Bewohner von verschiedenen Ebenen nicht benachteiligt fühlen — in keinerlei Weise…“

„So“, sagte ich. „Na, das ist keine schlechte Idee… und noch etwas. Ich will mir Bücher besorgen. Können Sie mir da einiges aus Ihrem Gebiet empfehlen? Mehr so… kompilatorische Sachen.“

„Wollen Sie denn Psychologie studieren?“ staunte sie.

„Nein, nur hätte ich gerne gewußt, was ihr hier in dieser Zeit getan habt.“

„Dann würde ich Ihnen den Mayssen empfehlen“, sagte sie.

„Was ist das?“

„Ein Schülerlehrbuch:“

„Ich möchte eher etwas Größeres. Kompendien, Monographien… Sachen aus erster Hand…“

„Die dürften vielleicht zu… schwer sein.“

Ich lächelte freundlich. „Vielleicht aber auch nicht. Worauf beruht denn diese Schwierigkeit?“

„Die Psychologie hat sich arg mathematisiert…“

„Ich auch. Bis zu dem Punkt, an dem ich vor hundert Jahren aufhörte. Braucht man inzwischen noch mehr?“ „Sie sind aber kein Mathematiker?“

„Beruflich nicht. Immerhin habe ich studiert. Auf dem „Prometheus“. Es gab da… recht viel Freizeit, wissen Sie.“

Erstaunt und verwirrt, sagte sie gar nichts mehr. Sie gab mir einen Zettel mit verschiedenen Büchertiteln. Als sie wegging, kehrte ich zum Schreibtisch zurück und setzte mich schwer hin.

Sogar sie, eine Mitarbeiterin des ADAPT… Mathematik? Ach wo. Ein wilder Mann. „Ich hasse sie alle“, dachte ich. „Hasse, hasse sie.“ Ich wußte nicht, an wen ich dabei dachte. An alle wohl. Ja, einfach an alle. Man hat mich betrogen. Sie haben mich hergeschickt, ohne zu wissen, was sie tun, ich sollte nicht zurückkehren, wie Venturi, wie Arder und Thomas, aber ich kehrte doch wieder, damit sie Angst vor mir bekamen. Damit ich umherirre wie ein lebendiger Vorwurf, den niemand haben will. „Ich tauge nichts mehr“, dachte ich. Wenn ich nur weinen könnte. Arder konnte es.

Er sagte, daß man sich seiner Tränen nicht schämen sollte. Möglich, daß ich vor dem Doktor gelogen habe. Ich habe es nie jemandem gesagt, aber ich war nicht sicher, ob ich das für irgendeinen anderen tun würde. Vielleicht doch. Für Olaf, später. Aber so ganz sicher war ich dessen nicht. Arder! Wie haben sie uns zugrunde gerichtet, und wie haben wir ihnen geglaubt und die ganze Zeit über außerhalb von uns die Erde gespürt, eine existierende, an uns glaubende, an uns denkende Erde. Keiner sprach davon, wozu auch? Darüber, was selbstverständlich ist, spricht man nicht.

Ich stand auf. Konnte nicht mehr sitzen. Ging von der einen Ecke in die andere.

Genug. Ich machte die Tür zum Badezimmer auf — es gab nicht einmal Wasser, um den Kopf abzukühlen. Übrigens — was für eine Idee. Rein hysterisch.

Ich ging ins Zimmer zurück und fing an zu packen.