"Transfer" - читать интересную книгу автора (Lem Stanislaw)

III

Den ganzen Nachmittag verbrachte ich in der Buchhandlung.

Dort gab es nicht etwa Bücher. Seit fast einem halben Jahrhundert wurden keine mehr gedruckt. Und ich hatte mich so sehr darauf gefreut nach den Mikrofilmen, aus denen die Bibliothek des „Prometheus“ bestand. Pustekuchen. Keiner konnte mehr in Regalen stöbern, schwere Bände in der Hand wiegen, ihr Volumen richtig auskosten, das den Umfang des Lesevergnügens voraussagte. Die Buchhandlung erinnerte an ein elektronisches Labor. Bücher waren kleine Kristalle mit gespeichertem Inhalt.

Lesen konnte man sie mit Hilfe eines Optons. Der sah einem Buch sogar ähnlich, allerdings mit nur einer einzigen Seite zwischen den Einbanddeckeln. Berührte man dieses eine Blatt, so erschienen hintereinander die Textseiten in ihrer Reihenfolge.

Aber es wurde — wie mir der Roboter-Verkäufer sagte — von den Optonen wenig Gebrauch gemacht. Das Publikum zog die Lektonen vor — sie lasen laut vor, und man konnte sie auf eine beliebige Stimmart, Tempo und Modulation einstellen. Nur wissenschaftliche Publikationen eines recht beschränkten Bereichs wurden noch auf Plastseiten, die Papier imitierten, gedruckt. Daher konnte ich alle meine Einkäufe in einer Tasche unterbringen, obwohl es an dreihundert Titel waren. Eine Handvoll kristallartiger Körner — so sahen die Bücher aus. Ich suchte mehrere historische und soziologische Werke heraus, etwas über Statistik, Demographie und über Psychologie: das, was mir das ADAPTMädchen empfohlen hatte. Einige größere Handbücher der Mathematik, sie waren natürlich nur ihrem Inhalt, nicht ihrem Umfang nach größer. Der mich bedienende Roboter war selber eine Enzyklopädie: er war — wie er mir sagte — durch elektronische Kataloge mit den Mustern sämtlicher Werke in der ganzen Welt unmittelbar verbunden. In der Buchhandlung befanden sich eigentlich nur einzelne „Buchexemplare“, und wenn jemand sie brauchte, wurde der Inhalt des angeforderten Werks in einem kleinen Kristall festgehalten.

Die Originale — Kristallmatrizen — waren unsichtbar, sie befanden sich hinter hellblau emaillierten Stahlplatten. Also wurde das Buch sozusagen jedesmal neu gedruckt, wenn jemand es brauchte. Probleme von Auflagen, ihrer Höhe oder des Vergriffenseins hatten aufgehört zu existieren. Es war wirklich ein gro Ber Erfolg. Aber mir tat es leid um die Bücher. Als ich erfuhr, daß es Antiquariate mit Papierbüchern gab, suchte und fand ich eins. Ich wurde enttäuscht: wissenschaftliche Literatur gab es dort fast gar keine. Unterhaltungsbücher, etwas Kinderliteratur, ein paar Jahrgänge alter Zeitschriften.

Ich kaufte — nur für die alten Bücher mußte man zahlen — einige Märchen von vor vierzig Jahren, um zu erfahren, was man nunmehr für Märchen hielt, und ging dann in einen Laden für Sportzubehör. Hier hatte meine Enttäuschung schon fast keine Grenzen. Die Leichtathletik bestand nur noch aus einigen leichten Disziplinen: Laufen, Springen, Werfen, Schwimmen, aber fast ohne Kämpfe. Das Boxen existierte nicht mehr, und das, was man einen Ringkampf nannte, war geradezu lächerlich: eine Art von Gedränge statt eines redlichen Kampfes. Ich sah mir im Projektionssaal dieses Ladens einen Kampf des Wettbewerbs an und dachte, mich würde vor Wut noch der Teufel holen. Ab und zu lachte ich laut auf wie ein Irrer. Ich fragte wegen der freien amerikanischen Kämpfe, des Judo und Jiu-Jitsu an, man wußte nicht einmal, was das war. Verständlich, nachdem Fußball auch kinderlos verstorben war, als eine Sportdisziplin, bei der es zu scharfen Zusammenstößen und Verletzungen kam. Hockey gab es, aber was für eins! Die Leute spielten in derart aufgeblasenen Anzügen, daß sie wie Riesenbälle wirkten. Ulkig sahen die beiden Mannschaften aus, die da elastisch aufeinander stießen: das war ja eine Farce und kein Spiel. Turmsprünge ins Wasser gab es, jedoch nur aus vier Metern Höhe. Gleich dachte ich an meinmein! — Schwimmbecken und kaufte ein zusammenlegbares Sprungbrett, um das zu überbauen, das ich in Klavestra finden würde.

Dieser ganze Sportrückgang war eine Folge der Betrisierung.

Das Verschwinden der Stier-, Hahnen — und anderer blutiger Kämpfe bedauerte ich nicht, ich war auch nie ein Anhänger der beruflichen Boxkämpfe. Aber dieser lauwarme Brei, der noch übrigblieb, reizte mich nicht im mindesten.

Den Einbruch der Technik in den Sport nahm ich nur in einigen Bereichen hin. Sie hatten sich stark entwickelt — ganz besonders im Unterwassersport. Ich sah mir verschiedene Arten von Taucherapparaturen an, kleine Elektrotorpedos, mit denen man über den Grund der Seen fahren konnte, Gleiter, Hydroten, die sich auf einem Kissen mit verdichteter Luft bewegten, Wassermikro glider — alle waren mit besonderen, unfallverhindernden Anlagen versehen. Rennen, die sich sogar einer großen Popularität erfreuten, konnte ich nicht als Sport anerkennen: selbstverständlich gab es da keine Pferde, keine Autos — es rannten nur automatisch gesteuerte Maschinen, auf die man setzen konnte. Der traditionelle Leistungssport hatte ziemlich an Bedeutung verloren. Es wurde mir erklärt, daß die körperlichen Leistungsgrenzen des Menschen bereits erreicht worden seien und daß die Rekorde nur von einem anormalen Menschen, irgendeinem Monstrum an Kraft oder Schnelligkeit, verbessert werden könnten. Vernunftmäßig mußte ich dem zustimmen. Übrigens war die Tatsache, daß die verbliebenen Reste athletischer Disziplinen sich so verbreitet hatten, recht lobenswert. Nach dieser dreistündigen Besichtigung ging ich dennoch ziemlich deprimiert aus dem Laden heraus.

Die von mir gewählten Turngeräte ließ ich nach Klavestra schikken. Nach einiger Überlegung verzichtete ich auf den Glider, ich wollte mir eine Yacht kaufen. Aber Segler gab es eigentlich keine, das heißt ehrliche, zum Steuern, sondern nur so mißratene Kähne, die das Gleichgewicht derart garantierten, daß ich nicht begreifen konnte, welche Art von Genugtuung einem das Segeln darauf bereiten konnte.

Als ich ins Hotel zurückging, war es schon Abend. Vom Westen her zogen flaumige, rötliche Wolken auf, die Sonne war bereits verschwunden, es kam der Mond im ersten Viertel, und am Zenit leuchtete ein zweiter — irgendein großer, künstlicher Satellit.

Hoch über den Dächern wimmelte es von Flugmaschinen. Die Zahl der Fußgänger hatte abgenommen, dafür erhöhte sich der Gliderverkehr, und es zeigten sich, die Fahrbahn mit langen Streifen beleuchtend, die spaltartigen Lichter, deren Bedeutung ich immer noch nicht kannte. Ich kam auf einem anderen Weg zurück und entdeckte plötzlich einen großen Garten. Am Anfang schien es mir ein Park zu sein, Terminalpark? Aber der schimmerte fern hinter dem gläsernen Bahnhofsberg im nördlichen, höheren Stadtteil.

Der Anblick war übrigens außerordentlich schön, denn während die ganze Gegend, nur durch die Straßenlichter unterbrochen, von Dunkelheit bedeckt wurde, flimmerten noch die höheren Terminalteile wie schneebedeckte Gipfel beim Alpenglühen.

Der Park war dicht bewachsen. Zahlreiche neue Baumarten, besonders Palmen, blühende, stachellose Kakteen. In einem von den Hauptalleen entfernten Winkel gelang es mir, einen Kastanienbaum zu finden, der mindestens zweihundert Jahre alt war.

Drei solche Burschen wie ich würden seinen Stamm nicht umfassen können. Ich setzte mich auf eine kleine Bank und sah eine Zeitlang in den Himmel. Wie ungefährlich, wie harmlos sahen doch die Sterne aus, die da blinkten und in den unsichtbaren Strömungen der Atmosphäre zitterten, die die Erde vor ihnen schützte. „Sternchen, dachte ich von ihnen, zum ersten Mal seit so vielen Jahren. Dort oben würde sich niemand trauen, sie so zu nennen, wir würden ihn für einen Verrückten halten. Sternchen, tatsächlich, ja, gefräßige Sternchen. Über den schon ganz dunklen Bäumen stieg in der Ferne ein Feuerwerk auf, und ganz plötzlich sah ich mit einer erstaunlichen Realität Arkturus. Die Feuerberge, über die ich, vor Kälte mit den Zähnen klappernd, geflogen war, und der Reif der Kühlapparatur schmolz und floß, ganz rot von Rost, über meinen Overall. Ich entnahm mit Hilfe eines Koronasauggeräts kleine Proben und hörte auf das Pfeifen der Kompressoren, ob sie auch nichts an Drehungen verlören.

Eine Havarie von nur einer Sekunde, ein Verschlucken, würde alle Panzer, Apparate und mich selbst in ein unsichtbares Dampfwölkchen verwandeln. Ein auf eine glühende Platte fallender Wassertropfen schwindet nicht so schnell wie ein Mensch in solch einem Fall.

Der Kastanienbaum war schon fast verblüht. Ich mochte den Duft seiner Blüten nicht, er erinnerte mich an Dinge, die längst vergangen waren. Über den Hecken erglühte immer noch der Schein des Feuerwerks, man hörte Lärm, den Zusammenklang verschiedener Orchester, alle paar Sekunden kam, vom Wind getragen, ein chorartiger Schrei der Teilnehmer an irgendeiner Vorstellung, vielleicht der Passagiere einer Berg — und Talbahn.

Meine Ecke aber blieb fast leer.

Auf einmal kam aus einer Seitenallee eine hohe, dunkelgekleidete Gestalt. Das Grün war bereits grau geworden, und das Gesicht des Menschen sah ich erst, als er, äußerst langsam mit kleinen Schritten gehend, die Füße kaum vom Erdboden hebend, einige Schritte weiter stehengeblieben war. Seine Hände steckten in trichterförmigen Verdichtungen, die in zwei dünnen Stäbchen ausliefen, und in kleinen schwarzen Birnen endeten. Er stützte sich darauf, nicht wie ein Paralytiker, mehr wie ein äußerst Entkräfteter. Er sah weder mich, noch sonst etwas — das Lachen, das chorartige Schreien, die Musik und das Feuerwerk schienen für ihn nicht zu existieren. Er stand so vielleicht eine Minute lang, atmete mit Anstrengung, und sein Gesicht schien mir von Mal zu Mal beim wiederkehrenden Aufleuchten des Feuerwerks so alt, daß die Jahre es jeglichen Ausdrucks beraubten, zuletzt war es nur noch Haut auf Knochen. Als er wieder vorwärts wollte und seine seltsamen Stützen oder Prothesen nach vorne schob, glitt eine davon aus, ich sprang von meiner Bank hoch, um ihn festzuhalten, doch erlangte er sein Gleichgewicht schon wieder. Er war einen Kopf kleiner als ich, für einen modernen Menschen recht groß; er sah mich leuchtenden Blickes an.

„Entschuldigung“, murmelte ich. Ich wollte weggehen, blieb aber; in seinen Augen war etwas wie ein Befehl.

„Ich bin Ihnen schon irgendwo begegnet, aber wo?“ sagte er mit einer unerwartet starken Stimme.

„Das bezweifle ich“, ich schüttelte den Kopf, „ich kam erst gestern von einer… recht langen Reise zurück.“ „Von wo?“

„Von Fomalhaut.“

Seine Augen leuchteten auf. „Arder! Tom Arder!!“

„Nein“, sagte ich. „Aber ich war mit ihm zusammen.“

„Und er?“

„Ging zugrunde.“

Er atmete schwer. „Helfen Sie mir… mich… zu setzen.“

Ich faßte ihn an den Schultern. Unter dem schwarzen, glitschigen Stoff gab es nichts als Knochen. Langsam ließ ich ihn auf die Bank gleiten und blieb daneben stehen. „Setzen… Sie sich.“

Ich setzte mich. Er keuchte immer noch mit halb geschlossenen Augen.

„Es ist nichts… die Aufregung“, flüsterte er. Nach einer Weile sah er auf. „Ich heiße Roemer“, sagte er ganz einfach. Mir blieb der Atem weg.

„Wie… Sie sind es… wirklich?… Wie alt…“

„Einhundertvierunddreißig“, sagte er trocken. „Damals war ich… sieben.“

Ich konnte mich an ihn erinnern. Er kam zu uns mit seinem Vater, einem genialen Mathematiker, dem Assistenten von Geonides, Schöpfer unserer Flugtheorie. Arder zeigte damals dem Jungen die große Testhalle, die Zentrifugen — und so blieb er mir im Gedächtnis; ein springlebendiger Siebenjähriger mit dunklen Augen — wie die seines Vaters; Arder hob ihn damals hoch, damit der Bub ganz nah das Innere der Gravitationskammer betrachten konnte, in der ich saß.

Wir schwiegen beide. Dieses Zusammentreffen war irgendwie unheimlich. Durch die Dunkelheit hindurch betrachtete ich schmerzlich und fast gierig sein so schrecklich altes Gesicht.

Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich wollte aus der Tasche eine Zigarette holen und konnte nicht hineingreifen, so zitterten mir die Finger.

„Was ist mit Arder geschehen?“ fragte er.

Ich sagte es ihm.

„Und was habt ihr dann gefunden — nichts?“

„Nein. Dort wird nichts wiedergefunden… wissen Sie.“

„Ich hielt Sie für ihn…“

„Verstehe schon. Die Größe und so weiter…“, sagte ich.

„Ja. Wie alt sind Sie jetzt? Biologisch…“

„Vierzig.“

„Ich konnte ja…“, flüsterte er.

Ich verstand ihn. „Bereuen Sie es nicht“, meinte ich hart. „Bereuen Sie es nicht. Bereuen Sie überhaupt nichts — verstehen Sie?“

Zum ersten Mal richtete er seinen Blick auf mein Gesicht. „Und warum?“

„Weil ich hier nichts zu tun habe“, sagte ich. „Keiner braucht mich. Und auch ich brauche… niemand.“

Es war, als hörte er mich nicht.

„Wie heißen Sie?“

„Bregg. Hal Bregg.“

„Bregg…“, wiederholte er. „Bregg… nein. Kann mich nicht erinnern. Waren Sie denn dort?“

„Ja. In Apprenous, als Ihr Vater die Korrekturen mitbrachte, die von Geonides im letzten Monat vor dem Start entdeckt worden sind… es hat sich erwiesen, daß die Refraktionskoeffizienten in den dunklen Staubmassen zu gering waren… ich weiß nicht, ob Ihnen das etwas sagt?“ Unsicher hielt ich inne.

„Doch. Selbstverständlich“, sagte er mit einer besonderen Betonung. „Mein Vater. Ja, natürlich. In Apprenous? Aber was machten Sie denn dort? Wo waren Sie da?“

„In der Gravitationskammer, bei Janssen. Sie sind damals dort gewesen, Arder brachte Sie dorthin, Sie standen oben, auf der kleinen Brücke, und sahen zu, wie man mir vierzig g gegeben hat.

Als ich herauskletterte, blutete ich aus der Nase… Sie gaben mir Ihr Taschentuch…“

„Ach! Sie sind das gewesen?“

„Ja.“

„Ich hatte den Eindruck, daß der Mann, dort in der Kammer…

dunkles Haar hatte.“

„Ja. Meine sind auch nicht hell. Sie sind grau. Nur kann man es jetzt nicht so gut sehen.“

Es kam wieder ein Schweigen, das länger andauerte als vorher.

„Sie sind, selbstverständlich, Professor?“ sagte ich, nur um dieses Schweigen zu brechen.

„Gewesen. Jetzt… nichts mehr. Seit dreiundzwanzig Jahren.

Nichts.“ Und noch einmal, sehr leise, wiederholte er: „Nichts.“

„Ich habe heute Bücher gekauft…darunter ist auch die Topologie von Roemer. Ist die von Ihnen oder von Ihrem Vater?“

„Von mir. Sind Sie Mathematiker?“

Er sah mich mit neuem Interesse an.

„Nein“, sagte ich. „Aber… ich hatte recht viel Zeit… dort. Jeder tat, was er wollte. Mir hat die Mathematik… geholfen.“

„Wie meinen Sie das?“

„Wir hatten jede Menge von Mikrofilmen: Belletristik, Romane, alles was man sich nur wünschen konnte. Wissen Sie, daß wir dreihunderttausend Titel mitgenommen haben? Ihr Vater half Arder, den mathematischen Teil zu vervollständigen…“

„Das weiß ich.“

„Anfangs betrachteten wir es als eine Art von… Unterhaltung.

Um die Zeit totzuschlagen. Aber schon nach ein paar Monaten, als die Verbindung mit der Erde vollkommen abbrach und wir so — scheinbar reglos — den Sternen gegenüberhingen, da, wissen Sie, zu lesen, daß da irgendein Peter nervös eine Zigarette rauchte und qualvoll daran dachte, ob die Lucy wohl kommen würde, und sie dann hereinkam und ihre Handschuhe zerknüllte… dabei fing man erst zu lachen an, wie ein richtiger Idiot, und später konnte einen die Wut packen. Kurz: später hat niemand mehr auch nur einen Roman angerührt.“ „Also: die Mathematik?“

„Nein. Jedenfalls nicht gleich. Am Anfang machte ich mich an die Sprachen, wissen Sie, und verzichtete darauf bis zum Schluß nicht, obwohl ich wußte, daß es fast nutzlos war: wenn ich zurückkehrte, würden sie ja nur noch archaische Dialekte sein.

Aber Gimma und besonders Thurber haben mich zur Physik hingezogen. Meinten, die könnte von Nutzen sein. So machte ich mich daran, zusammen mit Arder und mit Olaf Staave — nur wir drei waren keine Wissenschaftler…“

„Sie hatten aber einen akademischen Grad.“

„Ja — Magister der Informationstheorie der Kosmodromie, und auch das Diplom eines Kerningenieurs hatte ich, das war aber alles rein professionell und nicht theoretisch. Sie wissen doch, wie sich ein Ingenieur in der Mathematik auskennt. Also — die Physik.

Aber ich wollte noch etwas — etwas eigenes haben. Und erst dann kam die reine Mathematik. Ich war nie mathematisch begabt. Gar keine Begabung in dieser Richtung. Nichts — außer Halsstarrigkeit.“

„Ja“, meinte er leise. „Die mußte man schon haben um… hinzufliegen. „Vielmehr, um zu dem Expeditionsteam zu gelangen“, verbesserte ich ihn. „Und wissen Sie, wieso es so mit der Mathematik war? Erst dort habe ich es verstanden. Denn sie steht ja über allem. Die Werke von Abel oder Kronecker sind heute genauso gut wie vor vierhundert Jahren, und so wird es immer sein. Es entstehen wohl neue Wege, doch die alten führen weiter. Sie schließen sich nicht. Dort… dort ist die Ewigkeit. Nur die Mathematik hat keine Angst vor ihr. Dort begriff ich, wie endgültig sie ist. Und wie stark. Es gab nichts Aehnliches. Und daß es für mich so schwer war, war auch gut. Ich mühte mich damit ab, und wenn ich nicht schlafen konnte, wiederholte ich die Probleme, an denen ich tagsüber gearbeitet hatte…“

„Interessant“, meinte er. In seiner Stimme war kein Interesse.

Ich wußte nicht mal, ob er mir zuhörte. Im Parkinnern flogen Feuersäulen hoch, rote und grüne Feuer, von vielstimmigen Freudenschreien begleitet. Hier, wo wir saßen, unter den Bäumen, war es dunkel. Ich verstummte. Aber diese Stille war nicht auszuhalten.

„Es hatte für mich einen Selbsterhaltungswert“, sagte ich. „Die Mengenlehre… all das, was Mirea und Averin mit dem Nachlaß von Cantor gemacht hatten, wissen Sie. Diese Operationen mit überendlichen, außerendlichen Größen, diese Continua, die sich genau spalten ließen, so stark… das war herrlich. Die Zeit, die ich dabei verbracht habe, ist mir noch so gegenwärtig, als ob es gestern gewesen wäre.“

„So nutzlos, wie Sie meinen, ist es auch nicht“, murmelte er. Er hörte also doch zu. „Von den Igalla — Arbeiten haben Sie wohl nicht gehört, wie?“

„Nein. Was ist denn das?“

„Die Theorie des nichtkontinuierlichen Antifeldes.“

„Über das Antifeld weiß ich ni chts. Was ist es?“

„Die Retronihilation. Daraus ging dann die Parastatik hervor.“

„Ich habe diese Termini niemals gehört.“

„Na, ja, das entstand erst vor sechzig Jahren. Es war übrigens erst eine Einführung in die Gravitologie.“

„Ich merke schon, daß ich mich da werde anstrengen müssen“, sagte ich. „Die Gravitologie ist wohl die Theorie der Gravitation, wie?“

„Mehr noch. Anders als mit der Mathematik läßt sich das nicht sagen. Kennen Sie Appiano und Froom?“ „Ja.“

„Na, dann sollten Sie eigentlich gar keine Schwierigkeiten damit haben. Es sind Metagen-Entwicklungen in einer N-mäßigen, konfigurativen und ausartenden Menge.“

„Was sagen Sie da? Skriabin hat doch bewiesen, daß es außer den variablen keine anderen Metagene gibt?“

„Ja. Eine sehr schöne Beweisführung. Aber dies ist ja außerkontinuierlich, wissen Sie.“

„Unmöglich! Dann müßte es… es müßte ja eine ganze Welt geöffnet haben!“

„Ja“, meinte er trocken.

„Ich erinnere mich an eine Arbeit von Mianikovsky…“, fing ich an.

„Ach, das liegt schon weit zurück. Zumindest… ist es die gleiche Richtung.“

„Wieviel Zeit werde ich brauchen, um alles, was inzwischen getan worden ist, aufzuholen?“ fragte ich.

Er schwieg eine Weile.

„Wozu brauchen Sie es?“

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.

„Fliegen werden Sie nicht mehr — oder?“

„Nein“, sagte ich. „Bin zu alt dazu. Ich könnte derartige Beschleunigungen nicht mehr ertragen… na, und überhaupt… ich würde nicht mehr fliegen wollen.“

Nach diesen Worten verfielen wir endgültig ins Schweigen. Die unerwartete Aufregung, mit der ich über die Mathematik gesprochen hatte, verflüchtigte sich plötzlich. Und nun saß ich neben ihm und spürte das Gewicht des eigenen Körpers, seine unnütze Größe. Außer der Mathematik hatten wir uns nichts zu sagen und wußten es alle beide sehr wohl. Plötzlich schien mir die Erregung, mit der ich von der heilbringenden Rolle der Mathematik während der Reise berichtet hatte, wie ein Betrug. Ich beging Selbstbetrug mit der Bescheidenheit, dem Fleiß eines heroischen Piloten, der sich zwischen den gähnenden kosmischen Nebeln mit theoretischen Studien über die Unendlichkeit befaßte. Total verlogen. Denn — am Ende —, was war es schon? Konnte sich etwa ein Schi ffbrüchiger, der monatelang auf den Meeren umherirrte und — um nicht verrückt zu werden — Tausende von Malen die Anzahl der Holzfasern berechnete, aus denen sein Floß bestand, dessen rühmen, wenn er wieder auf festem Land stand? Dessen, was ihm an Willenskraft reichte, um sich zu retten? Na — und?

Was ging das irgend jemanden an? Was konnte es einen schon interessieren, mit welchen Dingen ich mein unglückseliges Hirn innerhalb dieser zehn Jahre vollstopfte, und warum sollte das wichtiger sein als das, was meine Gedärme füllte? „Man muß diesem asketischen Heldenspiel ein Ende machen“, dachte ich. „Das werde ich mir leisten können, wenn ich so aussehe wie er. Jetzt muß ich an die Zukunft denken.“ „Helfen Sie mir aufzustehen“, flüsterte er.

Ich brachte ihn zum Glider, der auf der Straße stand. Wir gingen äußerst langsam. Da wo es zwischen den Hecken hell war, folgten uns die Blicke der Menschen. Ehe er in den Glider stieg, drehte er sich um, wollte sich von mir verabschieden. Weder er noch ich fanden dabei ein einziges Wort. Er machte irgendeine unverständliche Handbewegung, aus seiner Hand wuchs wie ein Degen einer seiner Stöcke hervor, er bewegte den Kopf, stieg ein, und das dunkle Fahrzeug setzte sich lautlos in Bewegung. Er war fortgeschwommen, und ich stand mit herabhängenden Armen da, bis der schwarze Glider in einem Rudel anderer verschwand. Dann steckte ich die Hände in die Hosentaschen und ging vorwärts, ohne eine Antwort auf die Frage finden zu können, wer von uns wohl die bessere Wahl getroffen hatte.

Die Tatsache, daß von der Stadt, die ich einst verließ, nicht ein Stein auf dem anderen geblieben war, fand ich gut. Als ob ich damals auf einer anderen Erde, unter ganz anderen Menschen gelebt hätte; das hat einmal angefangen und ging endgültig zu Ende; und dies hier war neu. Gar keine Überbleibsel, keine Ruinen, die mein biologisches Alter in Frage stellen konnten. Ich konnte diesen irdischen Ausgleich ganz vergessen, der ja so widerdie Natur war — bis mich dieser unwahrscheinliche Zufall mit jemandem zusammenbrachte, den ich einst verließ, als er noch ein kleines Kind war. Die ganze Zeit, als ich neben ihm saß, seine vertrockneten, mumienartigen Hände, sein Gesicht betrachtete, fühlte ich mich schuldig und wußte auch, daß er es wußte.

„Was für ein unwahrscheinlicher Zufall“ — wiederholte ich fast gedankenlos einige Male. Bis ich gewahr wurde, daß ihn eben derselbe Grund dorthin geführt haben konnte wie mich: dort wuchs ja die Kastanie, ein Baum, der noch älter war als wir beide.

Ich hatte keine Ahnung, wie weit es ihnen gelungen war, die Lebensgrenzen zu verschieben, merkte jedoch, daß das Alter von Roemer eine Ausnahme sein mußte: er war wahrscheinlich der letzte oder einer der letzten Menschen seiner Generation.

„Wäre ich nicht geflogen, würde ich nicht mehr leben“, dachte ich. Zum ersten Mal zeigte sich mir die Expedition von ihrer anderen, unerwarteten Seite: als eine Art Ausflucht, als ein grausamer Betrug, den ich den anderen angetan hatte. Ich ging, fast ohne zu wissen wohin, um mich herum wuchs der Lärm der Menge, die mich mitriß und mitschob — und plötzlich, wie erwachend, blieb ich stehen.

Es herrschte ein unbeschreiblicher Lärm: unter vermischten Schreien und Musiklauten zerstoben hoch am Himmel die Feuerwerksalven und hingen oben in bunten Sträußen; ihre Flammenkugeln flogen in die benachbarten Baumkronen. Und all das wurde in regelmäßigen Abständen von einem vielstimmigen, schrillen Geschrei durchdrungen, als befände sich irgendwo in der Nähe eine Berg — und Talbahn; aber ihr Gerüst suchte ich vergebens.

Im Parkinnern gab es ein großes Gebäude mit Wehrmauern und Türmchen, wie eine aus dem Mittelalter übertragene Festung: kalte Neonflammen, die das Dach beleckten, formten von Zei t zu Zeit die Worte MERLINS SCHLOSS. Die Menge, die mich hierher geführt hatte, strebte jetzt seitwärts zu der scharlachroten Wand eines Pavillons, die eigenartig genug war, da sie an ein rnenschliches Gesicht erinnerte: ihre Fenster waren brennende Augen, und der riesige, grinsende Rachen voller Zähne tat sich auf, um eine nächste Portion von Menschen zu verschlingen, die sich unter allgemeiner Heiterkeit herandrängten: jedesmal wurde die gleiche Zahl von Personen verschlungen. Anfangs wollte ich aus der Menge heraus und weggehen, das war jedoch nicht einfach. Außerdem hatte ich ja kein anderes Ziel, und so kam mir der Gedanke, daß von allen möglichen Arten, den Abend zu verbringen, diese vielleicht nicht die schlechteste wäre.

Alleinstehende wie mich gab es unter denen, die mich umringten, nicht — es überwogen Paare, Jungen und Mädchen, Frauen und Männer, sie standen auch paarweise. Als ich an der Reihe war, was durch ein weißes Aufleuchten der Riesenzähne und die gähnende, scharlachrote Dunkelheit des geheimnisvollen Schlundes verkündet wurde, verspürte ich einige Befangenheit: ich wußte nicht, ob ich mich den bereits zusammenstehenden sechs Leuten anschließen durfte. Im letzten Moment wurde ich durch eine Frau erlöst, die mit einem jungen, noch extravaganter als alle anderen gekleideten Mann zusammenstand: sie nahm mich bei der Hand und zog mich ohne weiteres mit sich.

Es wurde fast ganz dunkel: ich spürte die warme und starke Hand der unbekannten Frau, der Fußboden rollte, nun wurde es heller, und wir befanden uns in einer geräumigen Grotte. Ein paar letzte Schritte galt es hinaufzugehen, über Felsengeröll, zwischen zerschlagenen Steinsäulen. Die Unbekannte ließ meine Hand los — der Reihe nach bückten wir uns in dem engen Ausgang der Höhle.

Obwohl ich auf Überraschungen gefaßt war, stutzte ich nun wirklich. Wir standen an dem weitläufigen Strand eines riesigen Flusses unter den stechenden Flammen der Wendekreissonne.

Das ferne gegenüberliegende Ufer war dschungelbewachsen. In reglosen Wasserlachen lagen Boote oder vielmehr Pirogen, die ausgehöhlte Baumstämme waren; auf dem Hintergrund der graugrünen Gewässer, die sich faul dahinwälzten, standen in hieratischen Posen riesige Neger, nackt, von Ol glänzend und mit einer kalkweißen Tätowierung bedeckt; jeder von ihnen stützte sich mit einem spatenartigen Ruder an Bord seines Bootes.

Eins davon fuhr gerade ab, randvoll: ihre schwarze Besatzung scheuchte durch Ruderhiebe und gellendes Geschrei die halb im Schlamm ruhenden, baumstammähnlichen, knorrigen Kroko dile, die sich dann umdrehten und — machtlos mit ihren Kiefern klappernd — sich ins tiefere Wasser gleiten ließen. Wи waren sieben, die das steile Ufer hinuntergingen. Die ersten vier nahmen Platz im nächsten Boot, die Neger stemmten mit sichtbarer Anstrengung die Ruder und schoben das schwankende Schiffchen so weit ab, bis es sich gedreht hatte; ich blieb etwas zurück, vor mir gab es nur das eine Paar, dem ich die Entscheidung wie auch die bevorstehende Reise verdankte. Soeben erschien ein weiteres Boot, wohl zehn Meter lang, die schwarzen Ruderer riefen uns etwas zu, kämpften mit dem Strom und gelangten recht geschickt ans Ufer. Wir sprangen ins moderne Bootsinnere, Staub wirbelte empor, der nach verkohlendem Holz roch. Der Jüngling in der phantastischen Tracht — einem Tigerfell, das einen ganzen Tiger darstellte, da die obere Schädelhälfte des Raubtiers, die ihm auf dem Rücken hing, ihm gegebenenfalls als Kopfbedeckung dienen konnte — half seiner Begleiterin, sich zu setzen. Ich nahm ihnen gegenüber Platz, und wir fuhren schon eine ganze Weile, ja, obwohl ich mich noch vor wenigen Minuten im Park, mitten in der Nacht, befunden hatte, war ich dessen nun nicht mehr so sicher. Der riesige Neger an der scharfen Bootsspitze schrie alle paar Sekunden wild auf, zwei aufglänzende Rückenreihen beugten sich, die Pagaya-Ruder tauchten kurz und kräftig ins Wasser, das Boot scheuerte am Grund, schleppte sich wieder vorwärts, bis es plötzlich in die Hauptströmung des Flusses geriet.

Ich spürte den schweren Geruch von warmem Wasser, von Schlamm und faulenden Pflanzen, die an uns vorbeischwammen, dicht an den Bootswänden, die kaum eine Handbreit über dem Wasserspiegel standen. Die Ufer entfernten sich, der typisch graugrüne, wie zu Asche gewordene Busch flog vorbei, von den sonnenverbrannten Sandbänken glitten manchmal — wiederbelebten Baumstämmen gleich — die Krokodile. Eines hielt sich recht lange hinter unserem Backbord, allmählich überschwemmte das Wasser seinen länglichen Kopf auf der Oberfläche, dann kamen die hervorstehenden Augen an die Reihe, und nur seine Nase, dunkel wie ein Flußstein, zerriß gerade noch die graue Wasseroberfläche. Unter den gleichmäßig schaukelnden Rücken der schwarzen Ruderer sah man die hochaufgestauten Buckel des Flusses, dort, wo er unterseeische Hindernisse zu passieren hatte — der Neger am Bug stieß dann einen anderen, nasa len Schrei aus, die Ruder begannen an einer Seite gewaltiger anzuschlagen, und das wuchs zusammen zu einem gewaltigen Schrei. Das Boot drehte sich. Es fiel mir schwer zu sagen, wann die dumpfen Brusttöne der Neger, wenn sie wieder die Ruder stießen, zu einem unheimlich finsteren, ständig wiederkehrenden Lied wurden, das in eine Klage ausartete und dessen Refrain das wütende Wogen des von Rudern durchfurchten Wassers war.

So schwammen wir, auf irgendeine Art fast ins Herz von Afrika versetzt, durch den Riesenfluß unter den graugrünen Steppen.

Die Dschungelwand entfernte sich allmählich und verschwand unter den zitternden Massen der erhitzten Luft. Der schwarze Steuermann gab das Tempo an. In der Ferne weideten in der Steppe die Antilopen, einmal zog eine Herde von Giraffen vorbei, in Staubwolken schwer und langsam dahintrabend. Und plötzlich fühlte ich auf mir den Blick der gegenübersitzenden Frau und erwiderte ihn.

Ihre Schönheit überraschte mich. Schon vorher hatte ich bemerkt, daß sie hübsch war: aber das war eine flüchtige Feststellung, die meine Aufmerksamkeit nicht weiter in Anspruch nahm.

Jetzt war ich ihr zu nah, um bei dieser ersten Beurteilung bleiben zu können: sie war nicht hübsch, sondern einfach schön. Sie hatte dunkles Haar mit einem kupfernen Glanz, ein weißes, unvorstellbar ruhiges Gesicht und einen reglosen, dunklen Mund. Sie hatte mich bezaubert. Nicht wie eine Frau bezaubert — eher wie dieses unter der Sonne verstummte Land. Ihre Schönheit war von jener Vollkommenheit, die ich immer gefürchtet hatte. Vielleicht kam es daher, daß ich auf der Erde viel zu wenig erlebt hatte, viel zuviel darüber nachdachte. Jedenfalls hatte ich hier vor mir eine dieser Frauen, die aus einem anderen Ton gemacht zu sein scheinen als die üblichen Sterblichen, obwohl diese herrliche Lüge nur von einer bestimmten Harmonie der Gesichtszüge stammt und ganz auf der Oberfläche bleibt. Wer aber denkt schon daran, während er sie ansieht?

Sie lächelte nur mit den Augen, ihre Lippen bewahrten den Ausdruck mokanter Gleichgültigkeit. Nicht mir gegenüber; er galt ihren eigenen Gedanken.

Ihr Weggenosse saß auf einem in die Baumstammhöhlung eingekeilten Bänkchen, er ließ seine linke Hand lose über Bord hängen, so daß seine Fingerspitzen im Wasser blieben. Doch er sah nicht hin, auch nicht auf das vorbeiziehende Panorama des wilden Afrika; er saß gelangweilt, wie im Wartezimmer eines Zahnarztes, ein für allemal uninteressiert und gleichgültig.

Vor uns erschienen nun auf dem ganzen Fluß verstreute graue Steine. Der Steuermann fing mit einer durchdri ngenden Stimme fast wie ein Beschwörer zu schreien an. Die Neger schlugen eifriger mit den Rudern, und als sich die Steine als Nilpferde entpuppten, hatte das Boot bereits an Schwung gewonnen: die Herde der Dickhäuter blieb hinter uns. Hinter dem rhythmischen Ruderschlag, dem heiseren, schweren Gesang der Ruderer vernahm man ein dumpfes Rauschen, es war nicht festzustellen, woher es kam. In der Ferne, dort, wo der Fluß zwischen den immer steileren Ufern verschwand, zeigten sich urplötzlich zwei riesige, einander entgegenschwimmende Regenbogen.

„Age! Annai! Annai Agee!!“ brüllte wie irrsinnig der Steuermann. Die Neger verdoppelten die Ruderschläge, das Boot flog, als ob es wirklich Flügel hätte, die Frau streckte den Arm aus und suchte, ohne hinzuschauen, die Hand ihres Begleiters.

Der Steuermann brüllte. Die Piroge lief mit einer staunenswerten Geschwindigkeit. Der Schnabel kam hoch, wir glitten den Kamm einer riesengroßen, scheinbar reglosen Welle hinab, und zwischen den Rei hen der in wahnsinnigem Tempo arbeitenden schwarzen Rücken sah ich eine mächtige Flußbiegung: das Wasser, plötzlich dunkel, schlug gegen einen Felseneingang. Die Strömung teilte sich, wir zogen nach rechts, wo das Wasser mit weißen Schaumkronen hochwirbe lte. Der linke Flußarm verschwand wie abgeschnitten. Nur ein Riesendonner samt Säulen von Wasserstaub zeugte davon, daß die Felsen dort einen Wasserfall verbargen.

Wir umkreisten ihn und kamen in den anderen Flußarm, doch auch hier herrschte keine Ruhe. Die Piroge spurtete nun wie ein Pferd zwischen den schwarzen Felsen, die eine Wand von röhrendem Wasser zum Stehen brachten. Wir kamen dem Ufer nahe, die Neger an der rechten Bootsseite hörten auf zu rudern, legten die stumpfen Handgriffe der Pagaya an die Brust, und die Piroge, vom Felsen abgeprallt, gelangte in den inneren Streifen des Flußarms. Der Schnabel flog hoch, der dort stehende Steuermann bewahrte sein Gleichgewicht nur wie durch ein Wunder.

Ich war von den umhersprühenden kalten Wasserspritzern bald durchtränkt. Die Piroge zitterte wie eine Saite und schoß nun hinunter. Unheimlich war diese Wildflußfahrt; beiderseits flogen schwarze Felsen mit wehenden Wassermähnen vorbei. Ein und noch ein anderes Mal prallte die Piroge mit einem dumpfen Dröhnen von den Steinbrocken ab und kam, wie ein auf weißem Schaum f!iegender Pfeil, in den Rachen der rasenden Geschwindigkeit. Ich sah hoch und bemerkte oben auseinanderklaffende Sykomorenkronen; zwischen ihren Ästen sprangen kleine Aeffchen herum. Ich mußte mich am Bootsrand festhalten, so stark war die Erschütterung beim Hochwerfen. Und beim Donnern der Wassermassen wurden wir im Nu völlig naß.

Wir gingen noch steiler hinab — oder war das schon ein Fallen?

Die Felsbrocken am Ufer flogen zurück wie monströse Vögel mit einem Wasserwirbel an den Flügeln — Donner, Donner. Auf dem Hintergrund des Himmels zeichneten sich die aufrechtstehenden Silhouetten der Ruderer wie Bewacher dieser Naturkatastrophe ab — wir liefen geradewegs auf eine Felsensäule, vor uns wirbelte eine schwarze Wassermenge, die sich teilte, wir flogen einem Hindernis entgegen, und ich hörte einen Frauenschrei.

Die Neger kämpften verzweifelt, der Steuermann hob beide Arme, ich sah seinen im Schrei offenen Mund, hörte aber keine Stimme, er tanzte auf dem Bootsschnabel, die Piroge lief seitlich, die abgeprallte Welle hielt uns, eine Sekunde lang blieben wir an Ort und Stelle, dann — als ob es die verbissene Arbeit der Pagaya nie gegeben hätte — drehte sich das Boot um und glitt rückwärts, immer schneller.

Urplötzlich, die Ruder hinwerfend, verschwanden die beiden Reihen der Neger, sie sprangen ohne zu überlegen von beiden Seiten der Piroge ins Wasser. Als letzter machte der Steuermann den Todessprung.

Die Frau schrie zum zweiten Mal auf; ihr Begleiter stemmte beide Beine auf die gegenüberliegende Bootsseite, sie lief auf ihn zu; ich betrachtete, wahrhaft entzückt, diese Schau der herabdonnernden Wassermengen, der leuchtenden Regenbogen, das Boot schlug gegen irgend etwas — ein Schrei, ein schrecklicher Schrei…

Quer zu diesem herabwallenden Wasserfall, der uns trug, lag dicht über der Oberfläche ein Baum, ein Waldriese, der von oben herabgefallen war und eine Art Brücke bildete. Meine beiden Mitfahrer fielen auf den Kielboden. Einen Sekundenbruchteil zögerte ich, es ihnen nachzutun. Ich wußte ja, daß das alles — die Neger, diese ganze Reise, der afrikanische Wasserfall — nur stau nenswerte Illusion war, aber reglos sitzen zu bleiben, wenn sich der Bootsschnabel schon unter den wasserüberfluteten, teerigen Stamm des Riesenbaumes schob, ging über meine Kräfte. Blitzartig legte ich mich lang, hob aber gleichzeitig den Arm: der ging durch den Stamm durch, ohne ihn zu berühren, ich spürte — wider Erwarten — gar nichts. Trotzdem blieb die Vorstellung bestehen, wir wären wie durch ein Wunder einer Katastrophe entgangen.

Es war noch nicht zu Ende: auf der nächsten Welle stand die Piroge hoch, eine Flut überschwemmte uns, drehte das Boot, ein paar Herzschläge lang kreiste es, höllisch ins Zentrum des Wehrs zielend. Wenn die Frau schrie, so hörte ich es nicht, konnte auch nichts hören: das Brechen, Knarren der berstenden Bootsteile fühlte ich mit meinem ganzen Körper, das Gehör war vom Tosen des Wasserfalls wie ausgeschaltet; die Piroge, mit unmenschlicher Kraft hochgeworfen, keilte sich zwischen den Felsbrocken fest.

Die beiden anderen sprangen auf den vom Wasser überfluteten Felsen, robbten hinauf und ich hinterdrein.

Wir befanden uns auf einem Felsbrocken zwischen zwei Wasserarmen von zuckendem Weiß. Das rechte Ufer war ziemlich weit; zum linken führte ein Steg, in den Felsspalten verankert, dicht über den Wellen, die ins Innere des Höllenkessels schlugen.

Die Luft war ei sig von Nebel und Wasserspritzern. Der schmale Steg, ohne Geländer, glitschig von Feuchtigkeit, hing über einer harten, dröhnenden Wand; man mußte die Füße auf die morschen Bretter stellen, die lose in geflochtenen Leinen hingen, und ein paar Schritte bis zum Ufer gehen. Die anderen knieten vor mir und schienen sich zu zanken, wer von ihnen als erster gehen sollte. Selbstverständlich hörte ich nichts. Die Luft schien erhärtet durch das unablässige Donnern.

Endlich stand der junge Mann auf und sagte irgend etwas zu mir, indem er nach unten wies. Ich sah die Piroge: ihr abgetrennter Teil tanzte gerade auf einer Welle und verschwand, stets schneller wirbelnd, vom Wehr eingesogen. Der junge Mann mit dem Tigerfell war weniger gleichgültig oder schläfrig als zu Anfang der Reise, dafür aber verärgert, als hätte er sich hier gegen seinen Willen eingefunden. Er faßte die Frau an den Schultern, und ich dachte, er wäre verrückt geworden: offensichtlich versuchte er sie direkt in den dröhnenden Rachen zu stoßen. Die Frau sagte etwas zu ihm, ich sah die Empörung in ihren Augen aufleuchten. Ich legte ihnen beiden die Hände auf die Schultern, als Zeichen, daß sie mich durchlassen möchten, und kam auf den Steg. Der wippte und tanzte: ich ging nicht sehr schnell, fing mein Gleichgewicht mit den Schultern, einmal und noch ein zweites Mal schwankte ich etwas. Urplötzlich erzitterte der Steg derart, daß ich fast hinunterfiel. Das war die Frau, die, ohne mein Durchgehen abzuwarten, schon auf den Steg kam — aus Angst hinunterzufallen, sprang ich stark vornüber, landete an dem äußersten Felsenzipfel und drehte mich sogleich um.

Die Frau kam nicht durch: sie ging zurück. Der junge Mann ging jetzt als erster, hielt sie an der Hand. Die unheimlichen Nebelgestalten, die vom Wasserfall geboren wurden, bildeten als weiße und schwarze Phantome den Hintergrund für ihr unsicheres Gehen. Er war schon dicht bei mir: ich reichte ihm die Hand — zugleich aber stolperte die Frau, der Steg erzitterte. Ich zog den Mann so, daß ich ihm viel eher den Arm ausgerissen, als ihn hinunterfallen gelassen hätte; durch den ungestümen Ruck flog er zwei Meter weit und landete hinter mir, auf den Knien — aber er hatte sie losgelassen.

Sie befand sich noch in der Luft, als ich sprang, mit den Füßen nach vorn: ich zielte auf die Wellen seitlich zwischen dem Ufer und der Wand des nächsten Felsbrockens. Darüber nachgedacht habe ich erst später, als ich Zeit hatte. Im Grunde wußte ich, daß Wasserfall wie Flußfahrt nur Illusionen waren. Als Beweis hatte ich ja den Baumstamm, durch den meine Hand hindurchgegangen war. Trotzdem sprang ich, als könnte die Frau dort tatsächlich umkommen. Ich weiß sogar noch, daß ich rein instinktiv auf den eisigen Wasserstoß vorbereitet war, dessen Spritzer immerfort auf unsere Gesichter und Kleider fielen.

Ich spürte nichts außer einem starken Luftstoß und landete in einem geräumigen Saal auf nur leicht eingeknickten Knien, als wäre ich höchstens aus einem Meter Höhe herabgesprungen. Ich hörte ein chorähnliches Gelächter.

Ich stand auf einem weichen, plastartigen Boden, rundum gab es eine Menge Leute, manche hatten noch durchnäßte Kleider.

Sie hatten die Köpfe erhoben und brüllten vor Lachen.

Ich folgte ihnen mit dem Blick — und es war unheimlich.

Keine Spur von Wasserfällen, Felsen, afrikanischem Himmel.

Ich sah nur eine leuchtende Saaldecke und darunter — eine eben heranschwimmende Piroge, vielmehr eine Art Kulisse; denn an ein Boot erinnerte es nur von oben und von den Seiten — am Bo den befand sich eine Metallkonstruktion. Flach lagen darin vier Menschen, um sie herum aber gab es nichts — weder Neger, noch Felsen, noch Fluß, von Mal zu Mal flogen nur, aus verdeckten Düsen geschossen, dünne Wasserstrahlen. Etwas weiter befand sich wie ein Sperrballon, durch nichts gestützt, der Felsenobelisk, auf dem unsere Reise geendet hatte. Von ihm führte ein Steg zu einer Steinstufe, die aus einer Metallwand herausragte. Etwas höher waren eine kleine Treppe mit Geländer und eine Tür. Das war alles. Die Piroge mit den Menschen schaukelte, kam hoch und ganz plötzlich wieder herunter, ohne das leiseste Geräusch, ich hörte nur die Heiterkeitsausbrüche, die die einzelnen Etappen der Wasserfallfahrt, die es überhaupt nicht gab, begleiteten.

Nach einer Weile schlug die Piroge gegen den Felsen, die Menschen sprangen heraus, mußten über den Steg gehen.

Seit meinem Sprung waren wohl zwanzig Sekunden vergangen.

Ich suchte mit meinem Blick die Frau. Sie sah mich an. Ich hatte ein etwas flaues Gefühl. Wußte nicht recht, ob ich mich ihr nähern sollte. Die Anwesenden fingen gerade an wegzugehen, und im nächsten Moment standen wir beieinander.

„Es ist immer dasselbe“, sagte sie dann, „immer falle ich da runter!“

Die Nacht im Park, Feuerwerke und Musik schienen nicht ganz real. Wir gingen hinaus inmitten der noch immer aufgeregten Menge; ich sah den Begleiter der Frau, er schob sich zu ihr durch.

Wieder war er schläfrig, wie schon vorher. Er schien mich überhaupt nicht zu bemerken.

„Gehen wir zu Merlin“, sagte die Frau so laut, daß ich es hörte.

Ich hatte nicht die Absicht hinzuhören. Aber eine neue Welle der Hinausgehenden brachte uns noch näher. So stand ich immer noch bei ihnen.

„Es sieht wie eine Flucht aus“, sagte sie und lächelte dabei, „vor Zauberei hast du wohl keine Angst, wie?“

Sie sprach zu ihm, sah aber mich an. Selbstverständlich konnte ich mir einen Weg bahnen, aber, wie immer in solchen Situationen, fürchtete ich mich am meisten vor der Lächerlichkeit. Sie gingen weiter, es entstand ein freier Platz, andere Leute neben mir beschlossen nun auch plötzlich, das Merlinschloß zu besuchen, und als ich mich ebenfalls dorthin wandte, ein paar Menschen uns aber getrennt hatten, spürte ich Zweifel, ob ich mich doch nicht getäuscht hatte.

Wir gingen Schritt für Schritt. Auf dem Rasen standen Teerfässer, in denen Flammen loderten; ihr Licht zeigte steile Ziegelbasteien. Wir gingen auf der Brücke über den Graben, unter den gefletschten Zähnen eines Gitters hindurch. Dann umfing uns Halbdunkel und die Kühle eines steinernen Ganges, von wo aus eine Wendeltreppe emporführte — vom Gestampf menschlicher Füße erfüllt. Der spitzbogenförmige Gang oben war schon weniger bevölkert. Er führte zu einem Kreuzgang, von dem man in den Hof sah. Dort brüllte und lief hinter irgendeinem schwarzen Monstrum eine pöbelhafte Menge auf Pferden her, die mit Schabracken bedeckt waren; ich ging unentschlossen weiter, ohne zu wissen, wohin, unter Menschen, die ich allmählich zu unterscheiden begann. Die Frau mit ihrem Begleiter erblickte ich nur kurz zwischen den Säulen.

In den Wandnischen standen leere Rüstungen. Im Innern öffneten sich kupferbeschlagene Türen, wie für Riesen. Wir kamen in eine mit rotem Damast ausgeschlagene Kemenate, die von Fakkeln beleuchtet war, ihr Reisigrauch reizte die Nase.

An den Tischen schmauste eine schreierisch aufgemachte Menge von Piraten und wandernden Rittern. Auf den Spießen, von Flammen beleckt, drehten sich riesige Fleischstücke, ein rötlicher Schein sprang über die von Schweiß glänzenden Gesichter, die Knochen knackten in den Kiefern der gepanzerten Schmausenden, die manchmal von den Tischen aufstanden und unter uns wandelten.

Im nächsten Saal war eine Menge Riesen beim Kegeln, wobei sie Totenschädel als Kugeln gebrauchten; das Ganze schien mir naiv und tölpelhaft. Ich blieb neben den Spielern, die von meinem Wuchs waren, stehen, als irgend jemand von hinten auf mich prallte und wider Willen erstaunt aufschrie. Ich drehte mich um und sah einem Jüngling in die Augen. Er murmelte eine Entschuldigung und ging schnell mit einem dummen Gesichtsausdruck weg. Erst der Blick der dunkelhaarigen Frau, die bewirkt hatte, daß ich in dieses Schloß der billigen Wunder kam, erklärte mir, was geschehen war: dieser junge Mann wollte durch mich hindurchgehen, da er mich für einen irrealen Schmauser von Merlin hielt.

Merlin selbst empfing uns in einem entfernten Flügel des Schlosses, umgeben von maskierten Höflingen, die reglos seinen Zauberkünsten assistierten. Ich aber hatte bereits genug davon und nahm die Offenbarungen seiner Zauberei gleichgültig hin.

Die Schau endete auch schnell, die Anwesenden fingen an hinauszugehen, als Merlin, silberhaarig und großartig, uns den Weg versperrte und schweigend auf eine entgegengesetzte, mit Flor bespannte Tür wies.

Nur uns drei hatte er dorthin eingeladen. Er selber folgte uns nicht. Wir fanden uns in einem nicht sehr großen, aber hohen Raum, dessen eine Wand von der Decke bis zu dem schwarz und weiß gekachelten Boden ein Spiegel war. Dadurch schien dieses Zimmer doppelt so groß zu sein wie in Wirklichkeit. Und es schien sechs Menschen auf einem steinernen Schachbrett einzuschließen.

Möbel gab es nicht — nichts außer einer hohen Alabasterurne mit einem Strauß Blumen, die orchideenähnlich waren, aber ungewöhnlich große Kelche hatten. Jede Blume hatte eine andere Farbe. Wir standen vor dem Spiegel.

Plötzlich sah mich mein Spiegelbild an. Diese Bewegung war nicht die Spiegelung meiner eigenen Person. Ich selbst stand reglos. Der andere — groß, stämmig — sah langsam erst die dunkelhaarige Frau, dann ihren Begleiter an. Keiner von uns bewegte sich, nur unsere Spiegelbilder, auf unverständliche Art selbständig geworden, lebten auf und spielten unter sich schweigend eine Pantomime.

Der Jüngling im Spiegel trat an die Frau heran und sah ihr in die Augen, sie verneinte mit dem Kopf. Aus der Vase nahm sie die Blumen, zerteilte sie mit den Fingern und wählte drei auseine weiße, eine gelbe und eine schwarze. Die weiße gab sie ihm, und mit den beiden anderen kam sie auf mich zu. Zu mir — im Spiegel. Sie streckte mir die beiden Blumen entgegen. Ich nahm die schwarze. Dann kehrte sie auf ihren vorherigen Platz zurück, und alle drei — dort, im Spiegelzimmer — nahmen genau dieselben Haltungen ein, die wir tatsächlich eingenommen hatten. Als dies geschah, verschwanden die Blumen aus den Händen unserer Doppelgänger. Nun waren es normale, jede Geste wiederholende Spiegelbilder.

Die Tür in der gegenüberliegenden Wand ging auf: wir gingen eine Wendeltreppe hinunter. Die Säulen, Nischen, Gewölbe gingen unmerklich in das Silber und Weiß von Plastikgängen über.

Wir gingen weiter, schweigend — nicht einzeln und auch nicht zusammen; diese Situation bedrückte mich immer mehr, aber was sollte ich tun? Jetzt ein zeremonielles, dem „Benimm“-Kodex aus dem früheren Jahrhundert entsprechendes „Sich-vorstellen“

unternehmen?

Klänge entfernter Musik. Wir waren in den Kulissen hinter einer unsichtbaren Bühne. Im Innern gab es ein paar leere Tischchen und zurückgeschobene Stühle.

Die Frau blieb stehen und fragte ihren Begleiter: „Gehst du nicht tanzen?“

„Hab’ keine Lust“, sagte er. Zum ersten Mal hörte ich seine Stimme.

Er war hübsch, doch irgendwie leblos, von einer unverständlichen Passivität, als läge ihm an nichts mehr in der Wett. Er hatte einen wunderschönen, fast mädchenhaften Mund. Er sah mich an. Dann sie. Stand da und schwieg.

„Na, dann geh, wenn du willst…“, sagte sie. Er schob den Vorhang, der eine der Wände darstellte, auseinander und ging. Ich ging ihm nach.

„Hallo?“ hörte ich hinter mir.

Ich blieb stehen. Hinter dem Vorhang ertönte Beifall.

„Wollen Sie sich nicht setzen?“

Wortlos setzte ich mich. Ihr Profil war herrlich. Die Ohrmuscheln waren von großen Perlen verdeckt.

„Ich bin Aen Aenis.“

„Hal Bregg.“

Sie schien etwas erstaunt zu sein. Nicht durch meinen Namen.

Der sagte ihr ja nichts. Eher dadurch, daß ich ihren Namen so gleichgültig hinnahm. Jetzt konnte ich sie aus der Nähe betrachten. Ihre Schönheit war vollkommen und in gewisser Weise unerbittlich. Auch ihre ruhigen, gefaßten und nachlässigen Bewegungen. Sie hatte ein graurosa, mehr grau als rosa, Kleid an, das wie ein Hintergrund zur Betonung ihres weißen Gesichts, ihrer weißen Hände war.

„Mögen Sie mich nicht?“ fragte sie ruhig.

Jetzt war ich es, der erstaunt war. „Ich kenne Sie nicht.“

„Ich bin die Ammai — von den „Wahren“.“

„Was sind die „Wahren“?“

Ihre Augen ruhten mit Interesse auf mir. „Sie haben die „Wahren“ nicht gesehen?“

„Ich weiß nicht einmal, was das ist.“

„Woher kommen Sie denn?“

„Ich kam aus dem Hotel.“

„Ach, so? Aus dem Hotel…“ In ihrer Stimme klang offener Spott. „Und darf man erfahren, wo Sie vorher — ehe Sie ins Hotel gingen — gewesen sind?“

„Doch, das darf man. In Fomalhaut.“

„Was ist das?“

„Eine Konstellation.“

„Was?“

„Ein Sternensystem, dreiundzwanzig Lichtjahre von hier entfernt.“

Ihre Augenlider zuckten. Der Mund ging auf. Sie war sehr schön.

„Astronaut?“

„Ja.“

„Ich verstehe. Ich bin eine Realistin — ziemlich bekannt.“

Ich sagte nichts. Wir schwiegen. Die Musik spielte.

„Tanzen Sie?“

Fast hätte ich laut losgelacht.

„Das, was man jetzt tanzt — nicht.“

„Schade. Aber das läßt sich nachholen. Warum haben Sie dаs getan?“

„Was?“

„Dort, auf dem Steg.“

Ich antwortete nicht gleich. „Es war… eine unwillkürliche Reaktion.“

„Kannten Sie das?“

„Diese künstliche Reise? Nein.“

„Nein?“

„Nein.“

Eine Weile Schweigen. Ihre Augen, einmal grün, wurden jetzt fast schwarz.

„Nur auf sehr alten Kopien kann man so etwas sehen“, sagte sie wie nebenbei. „Keiner kann es spielen. Das geht nicht. Als ich es sah, dachte ich… daß Sie…“ Ich wartete.

„…es könnten. Denn Sie nahmen es ernst. Nicht wahr?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht.“

„Macht nichts. Ich weiß es. Möchten Sie? Ich stehe recht gut mit Frenet. Vielleicht wissen Sie nicht, wer das ist? Der Hauptproduzent des Reals. Ich muß es ihm sagen… Wenn Sie Lust haben…“

Ich prustete vor Lachen. Sie zuckte zusammen.

„Entschuldigung. Aber — ihr großen, schwarzen und blauen Himmel! Sie dachten daran, mich… zu engagieren…“ „Ja.“

Beleidigt sah sie nicht aus. Eher umgekehrt.

„Danke, nein. Lieber nicht, wissen Sie.“

„Aber Sie können mir sagen, wie Sie es gemacht haben! Oder ist das ein Geheimnis?“

„Wieso — wie? Sie haben doch selbst gesehen…“ Ich brach den Satz ab. „…Sie wollen wissen, wie ich es fertigbrachte?“

„Sie sind sehr scharfsinnig.“

Sie verstand — wie sonst niemand — nur mit den Augen zu lächeln.

„Warte, bald vergeht dir die Lust, mich zu locken…“, dachte ich.

„Das ist ganz einfach. Und gar kein Geheimnis. Ich bin nicht betrisiert.“

„Ach…“

Eine Weile dachte ich, daß sie aufstehen würde, sie gewann jedoch ihre Fassung wieder. Ihre Augen kamen auch wieder — groß, schmachtend. Sie sah mich an wie eine nur einen Schritt von ihr entfernt liegende Bestie, als fände sie perverse Lust in dem Schrecken, den ich ihr einflößte. Das war für mich eine größere Beleidigung als ihre Angst allein. „Sie können…?“

„Töten?“ fragte ich und lächelte dabei recht nett. „Ja. Das kann ich.“

Wir schwiegen. Die Musik spielte. Ein paarmal hob sie die Augen zu mir. Sie sprach nicht. Ich auch nicht. Musik. Beifall. Musik.

So saßen wir wohl eine Viertelstunde. Plötzlich stand sie auf.

„Wollen Sie mit mir gehen?“

„Wohin?“

„Zu mir.“

„Um Brit zu trinken?“

„Nein.“

Sie drehte sich um und ging. Ich saß reglos. Ich haßte sie. Ohne sich umzuwenden, ging sie anders als alle Frauen, die ich je sah.

Sie ging nicht: sie glitt. Wie eine Königin.

Ich holte sie zwischen den Hecken ein, wo es schon fast dunkel war. Der Rest des Lichts aus den Pavillons vermischte sich mit dem bläulichen Lichtschimmer der Stadt. Sie mußte meine Schritte gehört haben, ging aber weiter“ ohne hinzuschauen“ als ob sie allein wäre“ sogar dann, als ich sie unterhakte. Sie ging weiter; es war wie eine Ohrfeige. Ich faßte sie an den Schultern, drehte sie zu mir, ihr Gesicht, weiß in der Dunkelheit, hob sich: sie sah mir in die Augen. Sie versuchte nicht, sich freizumachen.

Sie hätte es übrigens auch nicht gekonnt. Ich küßte sie stürmisch, haßerfüllt, spürte, wie sie zitterte.

„Du…“, sagte sie mit einer tiefen Stimme, als wir uns voneinander lösten. „Schweig. „Nun versuchte sie doch, sich freizumachen.

„Noch nicht“, sagte ich und fing wieder an, sie zu küssen. Plötzlich verkehrte sich diese Wut in Ekel gegen mich selbst, ich ließ sie los. Ich dachte, sie würde fliehen. Aber sie blieb. Sie versuchte, in mein Gesicht zu sehen. Ich wandte den Kopf.

„Was hast du?“ fragte sie leise.

„Nichts.“

Sie faßte mich an der Schulter. „Gehen wir.“

Ein Paar ging an uns vorüber und verschwand im Dunkel. Ich ging hinterdrein. Dort, im Dunkel, war irgendwie alles möglich.

Als es heller wurde, schien mein Ausbruch von vorhin nur lächerlich. Ich fühlte, daß ich in etwas Falsches hineingeriet, so wie Gefahr und Zauber und alles falsch gewesen waren — und ging weiter. Weder Zorn, noch Haß — nichts —, es war mir alles gleichgültig. Ich befand mich unter hohen hellen Lichtern und fühlte meine große, schwere Anwesenheit, die jeden Schritt neben ihr zu einer Groteske machte. Aber sie schien es nicht zu bemerken. Sie ging den Wall entlang, an dem reihenweise Glider standen. Ich wollte dableiben, aber sie ließ ihre Hand an meinem Arm entlanggleiten und faßte meine Hand an. Ich müßte meine Hand wegzerren und würde nur noch lächerlicher werden — ein Denkmal astronautischer Tugend, von einer Potiphar versucht.

Ich stieg ihr nach, der Glider zuckte und flog. Zum ersten Mal befand ich mich in einem Glider und verstand nun, warum sie keine Fenster hatten. Von innen her waren sie völlig durchsichtig, wie aus Glas.

Schweigend fuhren wir noch lange. Die Bauten im Zentrum wichen den wunderlichen Formen der suburbanen Architekturunter kleinen, künstlichen Sonnen lagen im Grünen Gebäude mit verschwommenen Linien, aufgedunsen in wunderliche Kissen mit etlichen Flügeln, derart, daß sich die Grenze zwischen dem Innern der Häuser und ihrer Umgebung verwischte. Erzeugnisse einer Phantasmagorie, immerwährender Bestrebungen, etwas zu schaffen, was nicht eine Wiederholung der alten Formen wäre.

Der Glider verließ die breite Fahrbahn, lief durch den dunklen Park und hielt bei einer Treppe, die einem gläsernen Wasserfall glich: indem ich sie hinaufstieg, sah ich unter meinen Füßen ein Treibhaus ausgebreitet.

Das schwere Tor ging lautlos auf. Eine Riesenhalle, hoch von einer Galerie umrahmt, hellrosa Lampenschilder ohne Stütze oder Aufhang, an den sich neigenden Wänden. Nischen — wie Fenster, die in einen anderen Raum geschlagen wären. Und in ihnen weder Fotos, noch Puppen, sondern Aen selbst, riesengroß, mir gegenüber: umfangen von einem dunkelhaarigen Mann, der sie über dem Katarakt der Treppe küßte — Aen in einem weißen, flimmernden Stoffberg — über lila Blumen gebeugt, die wie ihr Gesicht riesengroß waren. Hinter ihr hergehend, sah ich sie nochmals, in einem anderen Fenster, mädchenhaft lächelnd, allein, das Licht zitterte in ihrem Kupferhaar.

Grüne Treppen. Eine weiße Zimmerflucht. Silbertreppen.

Durchgänge und dann ein unaufhörlich langsame Bewegung atmender Raum. Die Wände verschoben sich reglos, sie bildeten Durchgänge für die Vorübergehenden; man konnte auf den Gedanken kommen, daß ein unspürbarer Geist die Ecken der Galerie abrundete, sie meißelte und alles, was ich bisher sah, nur eine Schwelle, eine Einleitung gewesen war. Durch ein weißes Zimmer, derart von den dünnsten Eisäderchen durchleuchtet, daß sogar die Schatten dort milchig zu sein schienen, kamen wir in ein kleineres — nach der makellosen Helle des anderen war seine Bronze wie ein Schrei. Hier gab es nur Licht, das aus einer unbekannten und wie umgekehrten Quelle kam: es beleuchtete uns und unsere Gesichter von unten; sie bewegte ihre Hand, dann wurde es dunkel; sie trat an eine Wand heran und zauberte daraus mit einigen Gesten eine Schwellung, die sich sogleich weiter entfaltete und etwas wie eine breite Doppelliege bildete — ich kannte genug Topologie, um zu wissen, was allein die Stützlinie hier an Forschungen kosten mußte.

„Wir haben einen Gast“, sagte sie, indem sie stehenblieb. Von der offenen Holzverkleidung kam ein niedriges, vollgedecktes Tischchen und lief — wie ein Hund — auf sie zu. Die großen Lichter erloschen, als sie über die Sessel nische — was für Sessel es waren, ich finde überhaupt keine Worte dafür! — mit einer Geste befahl, daß eine kleine Lampe erscheine, und die Wand gehorchte ihr auch gleich.

Wahrscheinlich hatte sie nun genug von den knospenden, vor unseren Augen aufblühenden Möbeln, denn sie bückte sich über das Tischchen und fragte, ohne mich anzusehen: „Blar?“

„Meinetwegen“, sagte ich. Ich stellte keine Fragen; daß ich ein Wilder war, konnte ich nicht ändern, zumindest aber konnte ich ein schweigsamer Wilder sein.

Sie gab mir einen hohen Kegel mit einem Röhrchen, der wie ein Rubin schillerte, dabei aber weich war, wie flaumige Obsthaut.

Sie selber nahm einen zweiten. Wir setzten uns. Unerträglich weich, man saß wie auf Wolken. Die Flüssigkeit schmeckte nach unbekannten frischen Früchten mit kleinen festen Kernen, die unerwartet und komisch auf der Zunge zersprangen.

„Gut?“ fragte sie.

„Ja.“

Vielleicht war es irgendein ritueller Trank. Zum Beispiel für die Auserwählten, oder auch umgekehrt, um die besonders Gefährlichen zu zähmen. Aber ich hatte mir ja vorgenommen, keine Fragen zu stellen.

„Es ist besser, wenn du sitzt.“

„Warum?“

„Du bist schrecklich groß.“

„Das weiß ich.“

„Versuchst du mit Absicht so unhöflich zu sein?“

„Nein. Das gelingt mir mühelos.“

Sie fing leise zu lachen an.

„Witzig bin ich auch“, sagte ich. „Eine ganze Menge von Vorteilen — nicht?“

„Du bist anders“, sagte sie. „Keiner spricht so. Sag mir — wie ist es? Wie fühlst du denn?“ „Ich verstehe nicht.“

„Du verstellst dich wohl. Oder hast du gelogen — nein. Das ist nicht möglich. Du könntest nicht so…“ „Springen?“

„Nicht daran dachte ich.“

„Sondern? „Ihre Augen wurden eng. „Weißt du es nicht?“

„Na, sag mal“, meinte ich, „tut man denn das nicht mehr?“

„Schon, aber nicht so.“

„Aha, und ich kann es also gut?“

„Nein. Das nicht… sondern so, als ob du…“ Sie beendete den Satz nicht. „Was?“

„Du weißt es selber. Ich fühlte es.“

„Ich war verärgert“, gab ich zu.

„Verärgert“, meinte sie geringschätzig. „Ich dachte… ach, ich weiß selbst nicht, was ich dachte! Niemand würde so etwas wagen — weißt du?“

Ganz leise und fast unmerklich lächelte ich.

„Und das hat dir so gefallen?“

„Ach, du verstehst ja nichts. Die Welt ist ohne Angst, aber vor dir kann man Angst haben.“

„Willst du noch mehr?“ fragte ich. Ihre Lippen öffneten sich, wieder sah sie mich wie ein Fabeltier an. „Ja.“

Sie schob sich näher heran zu mir. Ich nahm ihre Hand, legte sie auf die meine, ganz flach — die Finger gingen kaum über meine Handfläche.

„Warum ist deine Hand so hart?“ fragte sie.

„Von den Sternen. Die sind so kantig. Und jetzt frag mich mal, warum ich so schreckliche Zähne habe.“

Sie lächelte. „Deine Zähne sind völlig normal.“

Dabei hob sie meine Hand und war so vorsichtig, daß ich an meine Begegnung mit dem Löwen denken mußte. Statt mich betroffen zu fühlen, lächelte ich einfach. Letzten Endes war das alles schrecklich dumm.

Sie erhob sich hinter meiner Schulter, goß sich etwas aus einer kleinen, dunklen Flasche ein und trank es aus.

„Weißt du, was das ist?“ fragte sie und schloß die Augen mit einem Ausdruck, als ob es eine brennende Flüssigkeit gewesen wäre. Sie hatte riesenlange Wimpern, bestimmt falsche. Schauspielerinnen haben immer falsche Wimpern. „Nein.“

„Sagst es aber keinem?“

„Nein.“

„Perto…“

die Augen wieder.

„Ich sah dich schon vorher. Du bist mit so einem schrecklichen Greis gegangen und kamst dann allein zurück.“

„Es war der Sohn meines jüngeren Kollegen“, sagte ich. — „Das Komische dabei ist, daß es beinah stimmt“, fuhr es mir durch den Sinn.

„Du erregst Aufsehen — weißt du das?“

„Was kann man da schon tun?“

„Nicht allein wegen deiner Größe. Du gehst auch anders — und guckst so als ob…“ „Was?“

„Als ob du dich in acht nehmen müßtest.“

„Wovor? „Sie antwortete nicht. Ihre Gesichtsfarbe wechselte. Sie atmete hörbar, schaute die eigene Hand an. Ihre Fingerspitzen zitterten.

„Jetzt“, sagte sie leise und lächelte mich doch nicht an. Ihr Lächeln war wie inspiriert, die Augen weiteten sich so, daß die Regenbogenhaut schwand. Sie lehnte sich langsam zurück, bis sie dann auf dem grauen Diwan lag. Ihr Kupferhaar löste sich, und sie schaute mich triumphierend und zugleich erstarrend an.

„KüB mich.“

Ich umarmte sie. Aber es war schauderhaft: ich wollte und wollte nicht — ich hatte das Gefühl, mich selbst aufzugeben. Es war, als könnte meine Partnerin jeden Augenblick zu etwas anderem werden. Sie krallte ihre Finger in mein Haar, ihr Atem, als sie von mir abfiel, hörte sich an wie ein Wimmern. „Eins von uns beiden ist unwirklich“, dachte ich, „wer aber — sie oder ich?“ Ich küßte sie, ihr Gesicht war schmerzhaft schön, schrecklich fremd, dann gab es nur die Lust, nicht auszuhalten, aber selbst dann blieb in mir ein kalter, schweigender Beobachter, ich verlor mich nicht ganz. Der Diwan, gehorsam, fast gedankenlesend, wurde zur Stütze für unsere Köpfe: es war wie die Anwesenheit eines Dritten. Man fühlte sich bewacht, und wir tauschten kein einziges Wort miteinander. Ich schlief schon fast ein an ihrem Hals und hatte immer noch das Gefühl, daß da jemand zusähe…

Als ich aufwachte, schlief sie. Es war ein anderes Zimmer. Nein — dasselbe. Aber irgendwie verändert — ein Teil der Wand war zurückgeschoben, man sah den anbrechenden Tag. Über unswie vergessen — leuchtete ein schmales Lämpchen. Gegenüber über den fast noch schwarzen Baumspitzen — hellte sich der Himmel schon auf. Vorsichtig schob ich mich bis an den Rand des Lagers. Sie murmelte etwas, das sich wie „Alan“ anhörte, und schlief weiter.

Ich ging durch leere, große Säle. Die Fenster waren alle nach Osten gerichtet. Ein Schimmer von Morgenrot kam herein und füllte die durchsichtigen Möbel, zitterte wie eine Rotweinflamme. Durch die Zimmerflucht hindurch sah ich die Silhouette eines Vorbeigehenden — es war ein perlmuttgrauer Roboter, gesichtslos, sein Rumpf leuchtete schwach, es glühte darin — wie ein Lämpchen vor dem Heiligenbild — eine kleine, rubinrote Flamme.

„Ich will hier weg“, sagte ich.

„Sehr wohl, mein Herr.“

Treppen — silbern, grün, blau. Ich verabschiedete mich von allen Aen-Gesichtern auf einmal in der kirchenhohen Halle. Es war schon völlig Tag. Der Roboter machte mir das Tor auf. Ich ließ ihn einen Glider bestellen.

„Sehr wohl, mein Herr. Möchten Sie den Hausglider benutzen?“

„Meinetwegen. Ich will zum Hotel Alcaron.“

„Sehr wohl. Stets zu Diensten.“

Jemand hatte mir das schon einmal gesagt. Aber wer? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern.

Über eine steile Treppe — damit man bis zum Schluß nicht vergäße, daß dies ein Palast und kein gewöhnliches Haus war — gingen wir beide hinunter; im Licht der aufgehenden Sonne setzte ich mich in die Maschine. Als sie losfuhr, sah ich mich um. Der Roboter stand noch da in seiner ehrfurchtsvollen Haltung, etwas der Gottesanbeterin ähnlich mit seinen gekreuzten, dünnen Armen.

Die Straßen waren fast leer. In den Gärten ruhten die Villen wie verlassene Schiffe. Oder so, als hätten sie sich nur für einen Augenblick zwischen den Hecken und Bäumen niedergelassen und ihre scharfwinkligen bunten Flügel zusammengelegt.

Im Zentrum gab es mehr Menschen. Nadelhäuser, deren Gipfel von der Sonne erhitzt waren, Palmenhäuser, Riesenhäuser auf breit auseinanderstehenden Stützen — die Straße zerschnitt sie, flog in den blauen Raum hinaus; ich habe nicht mehr hingeschaut.

Im Hotel nahm ich ein Bad und telefonierte mit dem Reisebüro.

Ich bestellte den Ulder für zwölf Uhr. Es war belustigend, so frei mit diesen Bezeichnungen umzugehen, wo ich doch keine Ahnung hatte, was ein Ulder überhaupt war.

Ich hatte noch vier Stunden Zeit. Ich rief den Hotel — Infor an und fragte wegen der Breggs nach. Ich selbst hatte keine Geschwister, doch der Bruder meines Vaters hinterließ zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Sollten die nicht mehr leben, dann müßten doch ihre Kinder…

Der Infor zählte mir elf Breggs auf. Dann wollte ich etwas über die Genealogie erfahren. Es stellte sich dabei heraus, daß nur einer von ihnen, Atal Bregg, aus meiner Familie stammte. Er war der Enkel meines Onkels, nicht mehr jung übrigens, fast schon sechzig Jahre alt.

Nun wußte ich also, was ich wissen wollte. Ich nahm sogar schon den Hörer auf, um ihn anzurufen, legte ihn aber wieder ab. Was hatte ich ihm schon zu sagen? Oder er — mir? Wie mein Vater gestorben war? Meine Mutter? Ich starb ihnen ja schon früher weg und hatte als Posthumus kein Recht zu fragen. Es wäre geradezu eine Perversität, eine Irreführung. Ich alle in konnte mich in der Zeit verstecken, die für mich weniger als für sie tödlich war. Sie haben mich doch beigesetzt, in den Sternen, nicht ich sie auf der Erde.

Trotzdem hob ich den Hörer ab. Das Signal war lang. Endlich meldete sich der Hausroboter und sagte mir, Atal Bregg wäre außerhalb der Erde.

„Wo?“ erkundigte ich mich schnell.

„Auf Luna. Er flog für vier Tage hin. Was soll ich ihm ausrichten?“

„Was macht er? Was ist sein Beruf?“ fragte ich. „Denn… ich weiß nicht so recht, ob es der Herr ist, den ich suche, vielleicht liegt da ein Irrtum vor…“

Denn Roboter konnte man irgendwie leichter belügen.

„Er ist ein Psychopäde.“

„Danke. Werde selbst in einigen Tagen anrufen.“

Ich legte den Hörer hin. Jedenfalls war er kein Astronaut; auch gut.

Ich verband mich wieder mit dem Hotel — Infor und fragte, was für eine Art von Unterhaltung er mir für zirka zwei bis drei Stunden empfehlen könnte.

„Wir laden Sie in unser Realon ein“, sagte er.

„Was gibt es dort?“

„Die Braut“ Den neuesten Real von Aen Aenis.“

Ich fuhr hinunter: das gab es im Untergeschoß. Die Vorführung hatte bereits begonnen, doch der Roboter am Eingang sagte mir, ich hätte fast nichts versäumt — nur ein paar Minuten. Er führte mich ins Dunkl e, holte daraus auf irgendwelche seltsame Art einen eiförmigen Sessel, setzte mich da hinein und entschwand.

Der erste Eindruck war ähnlich wie im Theater ganz vorn — oder auch nicht: man saß auf der Bühne selbst, so nahe waren die Schauspieler. Als ob man sie — die Hand ausstreckend — anfassen könnte. Ich hätte es kaum besser treffen können: denn es war ein Stück aus meiner Zeit — also ein historisches Drama; die Zeit der Handlung war nicht genau bestimmt, aber nach einigen Einzelheiten zu urteilen, geschah das Ganze einige Jahre nach meinem Abflug.

Anfangs ergötzte ich mich über die Kostüme: das Bühnenbild war naturalistisch, eben darum amüsierte ich mich, indem ich eine Menge von Anachronismen fand. Der Hauptdarsteller, ein sehr schöner, dunkelhaariger Mann, ging im Frack aus dem Hausees war am frühen Morgen — und fuhr mit dem Auto, um sich mit seiner Liebsten zu treffen; er hatte sogar einen Zylinder, doch einen grauen, wie ein Engländer, der zum Derby f’fihrt. Dann erschien ein romantisches Wirtshaus mit einem Wirt, den es nie im Leben gab — er sah wie ein Pirat aus —, der Held setzte sich auf die Frackschöße und trank Bier durch einen Strohhalm. Und so ging es immer weiter.

Plötzlich hörte ich auf zu lächeln: Aen kam herei n. Sie war unsinnig gekleidet, aber auf einmal war das nicht so wichtig. Der Zuschauer wußte, daß sie einen anderen liebte und jenen Jüngling betrog; die typische, melodramatische Rolle einer durchtriebenen Frau. Sentimentales Klischee. Aen aber nahm es nicht auf.

Sie war ein Mädchen, das stets hier und jetzt lebte, reflexionsfrei, fühlend, nicht nachtragend und durch die grenzenlose Naivität ihrer Grausamkeit ein schuldloses Wesen, das alle unglücklich macht, weil es überhaupt niemand unglücklich machen wollte.

Indem sie in die Arme des einen kam, vergaß sie den anderen so vollständig, daß man an ihre — momentane — Aufrichtigkeit wirklich glaubte.

Dieser ganze Unsinn fiel gar nicht ins Gewicht — es blieb nur Aen — die große Schauspielerin.

Real war etwas mehr als ein Ferntheater: als ich einen Bruchteil der Bühne betrachtete, wurde dieser größer und breiter, der Zuschauer entschied durch eigene Wahl, ob er ein Nahbild oder das Ganze sehen wollte. Dabei wurden die Proportionen dessen, was im Blickfeld verblieb, nicht verunstaltet. Es war irgendeine verteufelt feinsinnige optische Kombination — die eine Illusion von übernatürlichem, wie verstärktem und wachem Leben gab.

Ich fuhr auf mein Zimmer, nach oben, um meine Sachen zu pakken, da ich in einigen Minuten abreisen sollte. Es stellte sich heraus, daß ich weit mehr zu packen hatte, als ich mir vorstellte. Ich war noch nicht ganz fertig, als das Telefon zu singen anfing: mein Ulder war schon bereitgestellt.

„Komme gleich hinunter“, sagte ich. Der Gepäck-Roboter nahm die Koffer, und eben ging ich aus dem Zimmer, als sich das Telefon wieder meldete. Ich zögerte. Das leise Signal wiederholte sich unermüdlich. „Es soll nicht nach einer Flucht aussehen“, dachte ich und hob den Hörer ab, nicht ganz sicher, weshalb ich es wirklich tat.

„Bist du das?“

„Ja. Schon wach?“

„Seit langem. Was machst du?“

„Habe dich gesehen. Im Real.“

„So?“ sagte sie nur, doch hatte ich in ihrer Stimme etwas wie Genugtuung gehört. Es hieß: nun ist er mein.

„Nein“, sagte ich.

„Was — nein?“

„Mädchen, du bist eine große Schauspielerin. Aber ich bin etwas ganz anderes, als dir scheint.“

„Schien es mir wohl auch diese Nacht so?“ Sie unterbrach den Satz. In ihrer Stimme schwang Belustigung mit — und plötzlich kam die Lächerlichkeit wieder. Ich konnte kaum davon loskommen; ein Sternenquäker, der schon einmal gefallen war — verzweifelt, streng und züchtig.

„Nein“, sagte ich, indem ich mich beherrschte, „das schien dir wohl nicht. Aber ich fahre weg.“ „In alle Ewigkeit?“

Sie hatte Spaß an diesem Gespräch.

„Mädchen“, begann ich und wußte nicht, was ich noch sagen sollte. Einen Moment lang hörte ich nur ihren Atem.

„Na — und weiter?“ fragte sie.

„Ich weiß nicht“, ich verbesserte mich schnell: „Nichts. Ich fahre eben weg. Das hat ja keinen Sinn.“

„Sicher hat es keinen Sinn“, gab sie zu, „und kann ja gerade deshalb herrlich sein. Was hast du dir angesehen? Die „Wahren“?“

„Nein. „Die Braut“. Hör mal…“

„Es ist wirklich ein Reinfall. Ich kann es nicht mehr sehen. Das Schlimmste, was ich je gemacht habe. Sieh dir die „Wahren“ an, oder nein, komm wieder am Abend. Ich werde es dir zeigen.

Nein, nein, heute kann ich nicht. Aber morgen.“

„Aen, ich werde nicht kommen. Ich fahre tatsächlich weg…“

„Sag nicht Aen zu mir, sag „Mädchen“ „, bat sie.

„Mädchen, der Deibel soll dich holen!!“ rief ich, legte den Hörer auf, war schrecklich verschämt, hob nochmals den Hörer ab, legte ihn wieder auf und lief aus dem Zimmer. Als ob jemand hinter mir her wäre. Ich fuhr hinunter, wo es sich herausstellte, daß der Ulder sich auf dem Dach befand. Also fuhr ich wieder nach oben. Auf dem Dach gab es ein Gartenrestaurant und einen Flugplatz. Eigentlich ein Restaurant-Flugplatz, eine Mischung der Ebenen, fliegende Bahnsteige, unsichtbare Fensterscheiben — meinen Ulder würde ich hier nicht mal in einem Jahr finden.

Aber man führte mich fast an der Hand zu ihm. Er war kleiner, als ich dachte. Ich fragte, wie lange der Flug dauern würde, da ich lesen wollte.

„Ungefähr zwölf Minuten.“ Da lohnte es sich nicht, ein Buch aufzuschlagen. Das Innere des Ulders erinnerte einigermaßen an eine Experimentalrakete: Thermofax, die ich einmal leitete, nur mit mehr Komfort. Aber als sich die Tür hinter dem Roboter schloß, der mir höflich eine gute Reise wünschte, wurden die Wände sofort durchsichtig, und da ich im ersten der vier Sessel saß — die anderen waren unbesetzt-, hatte ich den Eindruck, als flöge ich auf einem Stuhl innerhalb eines großen Glases.

Sehr lustig, aber das hatte nichts mit einer Rakete oder einem Flugzeug gemein: eher schon mit einem fliegenden Teppich. Das eigenartige Fahrzeug schoß anfangs vertikal hoch, ohne die geringste Vibration, pfiff dabei langgezogen und — wie auf Kommando — flog dann waagerecht. Wieder geschah dasselbe, was ich schon beobachtet hatte: die Beschleunigung der Bewegung war nicht von einer Steigerung der Trägheit begleitet. Schwer zu sagen, was für eine Art von Gefühl mich überkam — denn falls sie tatsächlich die Beschleunigung von der Trägheit zu lösen ver-!

standen hatten, dann waren sämtliche Hybernisierungen, Proben, Selektionen, Qualen und Sorgen unserer Reise völlig umsonst gewesen: so wie ich konnte sich wohl der Eroberer eines Himalajagipfels fühlen, der sich nach den unbeschreiblichen Schwierigkeiten des Aufstiegs plötzlich überzeugt, daß da hoch oben ein Hotel voller Ausflügler steht, weil man während seiner einsamen Bemühungen von der anderen Seite aus eine Seilbahn angebracht hatte. Die Tatsache, daß ich, auf der Erde bleibend, wahrscheinlich die geheimnisvolle Entdeckung nicht erleben würde, tröstete mich nicht im mindesten — viel eher schon die Idee, daß sich die neue Erfindung vielleicht in der Raumfahrt nicht auswirken würde. Das war selbstverständlich der Beweis von reinem Egoismus, und ich war mir dessen auch bewußt: doch der Schock war zu groß, als daß ich mich zu wirklichem Enthusiasmus hätte aufschwingen können.

Inzwischen flog der Ulder bereits geräuschlos: ich schaute nach unten. Wir flogen eben am Terminal vorbei — er zog sich langsam nach hinten zurück, wie eine Eisfestung —, auf den von der Stadt aus unsichtbaren, äußeren Stockwerken standen die schwarzen Trichter der Raketen-Einflüge. Dann gelangten wir ziemlich nahe an dem Nadelhaus vorbei — dem mit den silbernen Und schwarzen Streifen —, es überragte meine Flughöhe. Von der Erde aus ließ sich seine Größe nicht einschätzen. Es war wie eine Röhrenbrücke, die die Stadt mit dem Himmel verband, und die „Kleinregale“, die aus ihm herausragten, wimmelten von Uldern und anderen, größeren Maschinen. Menschen sahen auf diesen Landungsplätzen wie Mohnkörnchen auf einem silbernen Teller aus.

Wir flogen über weiße und blaue Häuserkolonien, über Gärten, die Straßen wurden immer breiter, und die Fahrbahnen wurden nun bunt — Blaßrosa und Ocker dominierten als Farben. Ein Häusermeer zog sich bis zum Horizont, selten von Grünstreifen geteilt. Ich bekam Angst, so würde es bis Klavestra bleiben. Doch die Maschine beschleunigte ihr Tempo, die Häuser zerfielen, zerliefen in den Gärten, dagegen erschienen Riesenknäuel und auch gerade Wege: sie zogen durch mehrere Ebenen, liefen zusammen, kreuzten sich, verschwanden unter dem Erdboden, liefen sternförmig aufeinander zu und schossen heraus in den graugrünen Raum unter der hohen Sonne, der von Glidern wim rnelte. Dann, zwischen quadratischen Baumgruppen, sah man Riesenbauten mit Dächern, die konvexen Spiegeln ähnlich waren: in ihren Zentren glimmte ein rötlicher Schein. Noch weiter liefen die Straßen auseinander, und das Grün beherrschte nun alles, von Zeit zu Zeit durch einen Quadratmeter anderer Pflanzen unterbrochen — rot, blau —, Blumen konnten es nicht sein, dafür waren die Farben zu intensiv. Doktor Juffon wäre auf mich stolz“, dachte ich. „Erst der dritte Tag und bereits… Und was für ein Anfang. Keine Durchschnittseroberung. Eine berühmte Schauspielerin, weltbekannt. Angst hatte sie wohl kaum, und wenn doch, so bereitete ihr diese Angst Vergnügen. Weiter so. Aber weshalb sprach er von der Nähe? Sieht denn die Nähe so aus?

Und wie heldenmütig ich in den Wasserfall gesprungen bin.

Edel — Gorilla. Dafür hat ihn dann eine Schönheit, vor der die Menge hinfällt, auch reichlich entschädigt: wie edel dies auch ihrerseits war!“ Mein ganzes Gesicht brannte. „Du blöder Kerl“, sprach ich milde zu mir selbst, „was willst du denn eigentlich? Eine Frau.

Nun hattest du eine Frau. Du hattest bereits alles, was man hier haben kann, dazu noch den Vorschlag, im Real aufzutreten. Jetzt wirst du ein Haus haben, im Garten spazieren, Bücher lesen, die Sterne angucken und still, voller Bescheidenheit wiederholen: dort bin ich gewesen. Gewesen und zurückgekommen. Und sogar die Gesetze der Physik haben für dich gearbeitet, du Glückspilz, ein halbes Leben hast du noch vor dir, und wie sieht der Roemer, hundert Jahre älter als du, jetzt aus?“

Der Ulder fing an hinabzugleiten, es entstand ein Pfeifen, die Gegend, voller weißer und blauer Straßen, deren Fahrbahnen wie mit Emaille ausgegossen glänzten, wuchs mir entgegen. Große Teiche und kleine quadratische Schwimmbecken schickten Sonnenglitzer hoch hinauf. Die Häuschen, auf den Hügeln flacher Erhöhungen stehend, wurden deutlicher und immer größer.

Am Horizont, von der Luft blau, stand eine Gebirgskette mit weißen Gipfeln. Ich sah noch Kieswege, Blumenrabatten, Blumenbeete, das kalte Grün von Wasser in einem Betonrahmen, Gartenwege, Sträucher, ein weißes D ach, all das drehte sich langsam, umringte mich, erstarrte und nahm mich auf.