"Das Glasperlenspiel" - читать интересную книгу автора (Hesse Hermann)Die MissionKnechts erster Aufenthalt im Kloster dauerte zwei Jahre; um die Zeit, von der hier die Rede ist, stand er im siebenunddreißigsten Lebensjahr. Am Ende dieses Gastaufenthaltes im Stift Mariafels, etwa zwei Monate nach dem Datum seines langen Briefes an den Vorstand Dubois, wurde er eines Morgens in das Sprechzimmer des Abtes gerufen. Er dachte, der leutselige Herr werde sich ein wenig über Chinesisches zu unterhalten Lust haben, und machte ungesäumt seine Aufwartung. Gervasius kam ihm mit einem Brief in der Hand entgegen. »Man beehrt mich mit einem Auftrag an Sie, Hochgeschätzter,« rief er in seiner behäbig gönnerhaften Art vergnügt und verfiel auch alsbald in den ironischen Neckton, wie er sich als Ausdruck des noch nicht ganz geklärten Freundschaftsverhältnisses zwischen dem geistlichen und dem kastalischen Orden herausgebildet hatte und der eigentlich eine Schöpfung des Paters Jakobus war. »Übrigens alle Achtung vor Ihrem Magister Ludi! Der kann Briefe schreiben! Mir hat er lateinisch geschrieben, der Herr, Gott weiß warum; bei euch Kastaliern weiß man ja, wenn ihr irgend etwas tut, niemals, ob ihr damit eine Höflichkeit oder eine Verspottung, eine Ehrung oder eine Belehrung beabsichtigt. Also mir hat dieser ehrwürdige Dominus lateinisch geschrieben, und zwar ein Latein, wie es zur Zeit in unsrem ganzen Orden niemand zustande brächte, höchstens den Pater Jakobus ausgenommen. Es ist ein Latein wie aus der unmittelbaren Schule Ciceros und doch mit einem wohlerwogenen kleinen Schuß Kirchenlatein parfümiert, von dem man natürlich auch wieder nicht weiß, ob er naiv als ein Köder für uns Pfaffen, oder ironisch gemeint, oder einfach nur aus einem unbezähmbaren Trieb zum Spielen, Stilisieren und Dekorieren entstanden ist. Also der Verehrungswürdige schreibt mir: man halte es dortseits für wünschenswert, Sie einmal wieder zu sehen und zu umarmen, auch festzustellen, inwieweit etwa der lange Aufenthalt unter uns Halbbarbaren moralisch und stilistisch korrumpierend auf Sie gewirkt habe. Kurz, sofern ich das umfangreiche literarische Kunstwerk richtig verstanden und gedeutet habe, wird Ihnen ein Urlaub bewilligt, und ich werde ersucht, meinen Gast für eine nicht befristete Weile nach Waldzell heimzusenden, nicht für immer jedoch, sondern es liege Ihre baldige Wiederkehr, sofern sie uns angenehm scheine, durchaus in der Absicht der dortigen Behörde. Nun, entschuldigen Sie, ich vermochte längst nicht alle Finessen des Schreibens würdig zu interpretieren, Magister Thomas hat das wohl auch gar nicht von mir erwartet. Das Briefchen hier soll ich Ihnen übergeben, und nun gehen Sie, und überlegen Sie sich, ob und wann Sie reisen wollen. Wir werden Sie vermissen, mein Lieber, und werden, falls Sie gar zu lange ausbleiben sollten, nicht verfehlen, Sie wieder bei Ihrer Behörde zu reklamieren.« In dem Briefe, den er Knecht übergeben hatte, wurde diesem von der Behörde kurz mitgeteilt, es sei ihm zur Erholung sowohl wie zur Aussprache mit den Oberen ein Urlaub gewährt, und man erwarte ihn nächstens in Waldzell. Auf die Vollendung des laufenden Spielkurses für Anfänger möge er, falls nicht der Abt es ausdrücklich wünsche, keine Rücksicht nehmen. Der Alt-Musikmeister lasse ihn grüßen. Beim Lesen dieser Zeile stutzte Josef und wurde nachdenklich: wie kam der Verfasser des Briefes, der Magister Ludi, dazu, mit diesem Gruß beauftragt zu werden, der ohnehin in das amtliche Schreiben nicht recht passen wollte? Es mußte eine Konferenz der Gesamtbehörde, unter Beiziehung auch der Alt-Meister, stattgefunden haben. Nun, ihn gingen die Sitzungen und Entschlüsse der Erziehungsbehörde nichts an; aber wunderlich berührte ihn dieser Gruß, merkwürdig kollegial klang er ihm. Einerlei, welcher Frage jene Konferenz mochte gegolten haben, der Gruß bewies, daß die Obersten bei diesem Anlaß auch von Josef Knecht gesprochen hatten. Stand ihm Neues bevor? Sollte er abberufen werden? Und würde das eine Beförderung oder ein Rückschritt sein? Aber der Brief sprach nur von Urlaub. Ja, auf diesen Urlaub freute er sich aufrichtig, am liebsten wäre er schon morgen gereist. Aber mindestens mußte er sich doch von seinen Schülern verabschieden und ihnen Weisungen zurücklassen. Anton würde sehr betrübt sein über seine Abreise. Und einigen von den Patres war er auch einen persönlichen Abschiedsbesuch schuldig. Nun dachte er an Jakobus, und beinahe zu seiner Verwunderung spürte er einen zarten Schmerz im Innern, eine Bewegung, die ihm sagte, daß er mit seinem Herzen mehr an diesem Mariafels hange, als er gewußt hatte. Es fehlte ihm hier vieles, woran er gewöhnt und was ihm teuer war, und im Laufe der zwei Jahre war Kastalien in seiner Vorstellung durch die Entfernung und Entbehrung noch immer schöner geworden; in diesem Augenblick aber erkannte er deutlich: was er an Pater Jakobus besaß, war unersetzlich und würde ihm in Kastalien fehlen. Damit wurde ihm auch klarer als bisher bewußt, was er hier erlebt und gelernt habe, und es überkam ihn eine Freude und Zuversicht im Gedanken an die Reise nach Waldzell, das Wiedersehen, das Glasperlenspiel, die Ferien, und die Freude wäre geringer gewesen ohne die Gewißheit der Rückkehr. In plötzlichem Entschluß suchte er den Pater auf, erzählte ihm von seiner Abberufung in einen Urlaub, und wie es ihn selbst überrascht habe, hinter seiner Freude auf die Heimkehr und das Wiedersehen auch schon wieder eine Freude auf die Rückkehr vorzufinden, und da diese Freude vor allem ihm, dem verehrten Pater, gelte, habe er sich ein Herz gefaßt und wage es, ihm eine große Bitte vorzutragen, er möge ihn nämlich nach seiner Wiederkehr ein wenig in die Schule nehmen, wenn auch nur für eine Stunde oder zwei in der Woche. Jakobus lachte abwehrend und formulierte wieder einmal die schönsten spöttischen Komplimente auf die unübertrefflich vielseitige kastalische Bildung, vor welcher ein simpler Klosterbruder wie er nur in stummer Bewunderung verharren und vor Erstaunen den Kopf schütteln könne; aber Josef hatte schon gemerkt, daß die Abwehr nicht ernst gemeint sei, und als er die Hand zum Abschied gab, sagte der Pater ihm freundlich, daß er sich seiner Bitte wegen keine Sorge machen möge, er werde gern das ihm irgend mögliche tun, und nahm den herzlichsten Abschied von ihm. Freudig zog er nun heimwärts in die Ferien, im Herzen dessen gewiß, daß seine Klosterzeit nicht nutzlos gewesen sei. Bei der Abreise kam er sich wie ein Knabe vor, um freilich bald zu merken, daß er kein Knabe und auch kein Jüngling mehr sei; er merkte es an einem Gefühl von Beschämung und innerem Widerstand, das sich in ihm einstellte, sobald er mit irgendeiner Gebärde, einem Ruf, einer kleinen Kinderei auf die Stimmung von Losgebundenheit und ferienhaftem Schulknabenglück antworten wollte. Nein, was einst selbstverständlich und erlösend gewesen wäre, ein Jubelschrei zu den Vögeln im Baum hinauf, ein laut angestimmtes Marschlied, ein schwebend rhythmisches Dahintanzen – es ging nicht mehr, es wäre steif und gespielt herausgekommen, es wäre dumm und kindisch gewesen. Er spürte, daß er ein Mann sei, jung im Gefühl und jung an Kraft, aber in der Hingabe an den Augenblick und die Stimmung nicht mehr geübt, nicht mehr frei, wach gehalten, angebunden und verpflichtet – wodurch? Durch ein Amt? Durch die Aufgabe, bei den Klosterleuten sein Land und seinen Orden zu vertreten? Nein, es war der Orden selbst, es war die Hierarchie, in die er sich bei dieser plötzlichen Selbstbetrachtung unbegreiflich hineingewachsen und eingebaut fand, es war die Verantwortung, das Umfangensein vom Allgemeinen und Höheren, das manchen Jungen alt und manchen Alten jung konnte erscheinen lassen, das einen festhielt, das einen stützte und zugleich der Freiheit beraubte wie der Pfahl, an den ein junger Baum gebunden wird, das einem die Unschuld nahm, während es doch gerade eine immer klarere Reinheit von einem forderte. In Monteport begrüßte er den Alt-Musikmeister, welcher selber einst in jungen Jahren Gast von Mariafels gewesen und dort die benediktinische Musik studiert hatte und der ihn nun nach vielem ausfragte. Er fand den alten Herrn zwar etwas leiser und abgewandter, aber an Aussehen kräftiger und heiterer als beim letztenmal, die Müdigkeit war aus seinem Gesicht gewichen, er war nicht jünger, aber hübscher und feiner geworden, seit er sein Amt niedergelegt hatte. Es fiel Knecht auf, daß er ihn wohl nach der Orgel, den Notenschränken und dem Chorgesang in Mariafels fragte, auch vom Baum im Kreuzgarten wissen wollte, ob er noch stehe, nach seiner dortigen Tätigkeit aber, nach dem Glasperlenspielkurs, nach dem Zweck seines Urlaubs ohne alle Neugierde schien. Immerhin gab ihm der Alte vor seiner Weiterreise ein Wort mit, das ihm wertvoll war. »Ich habe vernommen,« sagte er in einem wie spaßenden Ton, »du seiest so etwas wie ein Diplomat geworden. Eigentlich kein schöner Beruf, aber es scheint, man sei mit dir zufrieden. Denke du darüber, wie du magst! Falls es aber nicht dein Ehrgeiz sein sollte, in diesem Beruf für immer zu bleiben, dann sieh dich vor, Josef; ich glaube, man will dich einfangen. Wehre dich, du hast das Recht dazu. – Nein, frage nicht, ich sage kein Wort weiter. Du wirst ja sehen.« Trotz dieser Warnung, die er als Stachel in sich trug, empfand er bei seiner Ankunft in Waldzell eine Heimat- und Wiedersehensfreude wie noch nie; ihm wollte scheinen, dies Waldzell sei nicht nur seine Heimat und der schönste Ort der Welt, sondern es sei auch inzwischen noch hübscher und interessanter geworden, oder als habe er neue Augen und ein gesteigertes Sehvermögen mitgebracht. Und dies galt nicht nur den Toren, Türmen, den Bäumen und dem Fluß, den Höfen und Sälen, den Gestalten und altbekannten Gesichtern, er empfand auch während seines Urlaubs für den Geist Waldzells, für den Orden und das Glasperlenspiel jene gesteigerte Aufnahmefähigkeit, jenes gewachsene und dankbare Verständnis des Heimgekehrten, des Gereisten, des reifer und klüger Gewordenen. »Mir ist,« sagte er zu seinem Freund Tegularius am Schlüsse eines lebhaften Lobgesangs auf Waldzell und Kastalien, »mir ist, als habe ich alle die Jahre hier im Schlafe hingebracht, glücklich zwar, aber wie ohne Bewußtsein, und als sei ich jetzt erwacht und sähe alles scharf und klar, als Wirklichkeit bestätigt. Daß zwei Jahre Fremde so die Augen schärfen können!« Er genoß seinen Urlaub wie ein Fest, namentlich die Spiele und Diskussionen mit den Kameraden, im Kreis der Elite des Vicus Lusorum, das Wiedersehen der Freunde, den Genius Loci von Waldzell. Aber allerdings kam diese Hochstimmung von Glück und Freude erst nach seinem ersten Empfang beim Glasperlenspielmeister zum Blühen, bis dahin war seiner Freude noch eine Bangigkeit beigemischt. Der Magister Ludi stellte weniger Fragen, als Knecht erwartet hatte, kaum daß er den Anfänger-Spielkurs und Josefs Studien im Musikarchiv erwähnte, nur über den Pater Jakobus konnte er gar nicht genug zu hören bekommen, immer wieder kam er auf ihn zu sprechen, nichts war ihm zuviel, was Josef ihm von diesem Mann erzählte. Daß man mit ihm und seiner Mission bei den Benediktinern zufrieden, ja sogar sehr zufrieden sei, konnte er nicht nur aus der großen Freundlichkeit des Meisters schließen, sondern beinahe noch mehr aus dem Benehmen des Herrn Dubois, zu welchem der Magister ihn gleich weitergeschickt hatte. »Du hast deine Sache ausgezeichnet gemacht,« sagte dieser und fügte mit leisem Lachen hinzu: »Ich hatte wirklich damals keinen guten Instinkt, als ich von deiner Sendung ins Kloster abriet. Daß du außer dem Abt auch noch den großen Pater Jakobus für dich eingenommen und für Kastalien günstiger gestimmt hast, ist viel, es ist mehr, als irgend jemand zu hoffen wagte.« Zwei Tage später lud ihn der Glasperlenspielmeister zusammen mit Dubois und dem derzeitigen Leiter der Waldzeller Eliteschule, dem Nachfolger Zbindens, zum Essen ein, und bei der Gesprächsstunde nach dem Essen fand sich unversehens auch der neue Musikmeister sowie der Archivar des Ordens ein, zwei weitere Mitglieder der obersten Behörde also, und der eine von ihnen nahm ihn noch mit sich ins Gästehaus zu einer langen Unterhaltung. Diese Einladung rückte Knecht zum erstenmal für alle sichtbar in den engsten Kreis der Kandidaten für hohe Ämter und richtete zwischen ihm und dem Durchschnitt der Spielerelite eine alsbald fühlbare Schranke auf, die der Wachgewordene empfindlich spürte. Man gab ihm im übrigen einen vorläufigen Urlaub von vier Wochen und die für Beamte gebräuchliche Ausweiskarte für die Gästehäuser der Provinz. Obwohl man ihm keinerlei Verpflichtungen auferlegte, nicht einmal eine Meldepflicht, konnte er doch wohl merken, daß er von oben beobachtet werde, denn als er wirklich einige Besuche und Ausflüge unternahm, so nach Keuperheim, nach Hirsland und ins ostasiatische Studienhaus, erhielt er dort alsbald Einladungen der dortigen hohen Amtsstellen; er wurde in diesen paar Wochen tatsächlich mit der gesamten Ordensbehörde und mit der Mehrzahl der Magister und Studienleiter bekannt. Wären diese sehr offiziellen Einladungen und Bekanntschaften nicht gewesen, so hätten diese Ausflüge für Knecht eine Rückkehr in die Welt und Freiheit seiner Studienjahre bedeutet. Er schränkte sie ein, vor allem aus Rücksicht auf Tegularius, der jede Unterbrechung ihres Wiedersehens schwer empfand, aber auch des Glasperlenspieles wegen, denn ihm lag sehr daran, sich hier wieder an den neuesten Übungen und Problemstellungen zu beteiligen und zu bewähren, und hier tat ihm Tegularius unersetzliche Dienste. Sein andrer naher Freund, Ferromonte, gehörte dem Stab des neuen Musikmeisters an und war ihm in dieser Zeit nur zweimal erreichbar; er fand ihn arbeitsam und arbeitsglücklich, eine große musikgeschichtliche Aufgabe hatte sich ihm erschlossen, die griechische Musik und ihr Fortleben im Tanz und Volkslied der Balkanländer betreffend; voll Mitteilungslust erzählte er dem Freunde von seinen jüngsten Arbeiten und Funden; sie galten der Epoche des allmählichen Niederganges der barocken Musik etwa vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts an und dem Eindringen neuer musikalischer Substanz von seiten der slawischen Volksmusik her. Den Großteil dieser festlichen Ferienzeit aber brachte Knecht in Waldzell und beim Glasperlenspiel zu, repetierte mit Fritz Tegularius dessen Notizen aus einem Privatissimum, das der Magister in den beiden letzten Semestern für die Fortgeschrittensten gehalten hatte, und lebte sich nach der zweijährigen Entbehrung wieder mit allen Kräften in die edle Spielwelt ein, deren Zauber ihm von seinem Leben so untrennbar und so unentbehrlich schien wie der der Musik. Erst in den letzten Tagen des Urlaubs kam der Magister Ludi wieder auf Josefs Mariafelser Sendung und auf seine nächste Zukunft und Aufgabe zu sprechen. Im Plauderton zuerst, dann ernster und dringlicher werdend, erzählte er ihm von einem Plan der Behörde, an welchem der Mehrzahl der Magister sowie Herrn Dubois sehr viel gelegen sei, dem Plan nämlich, für die Zukunft eine ständige Vertretung Kastaliens beim Heiligen Stuhl in Rom einzurichten. Es sei, so führte Meister Thomas in seiner gewinnenden und formvollendeten Weise aus, der historische Augenblick gekommen oder doch nahe für eine Überbrückung der alten Kluft zwischen Rom und dem Orden, in etwaigen künftigen Gefahren würden sie ganz ohne Zweifel gemeinsame Feinde haben, würden Schicksalsgenossen und natürliche Verbündete sein, und auf die Dauer sei ja auch der bisherige Zustand unhaltbar und eigentlich unwürdig: nämlich daß die beiden Mächte in der Welt, deren geschichtliche Aufgabe die Erhaltung und Pflege des Geistes und des Friedens sei, so nebeneinander und einander beinahe fremd welterlebten. Die Römische Kirche habe die Erschütterungen und Krisen der letzten großen Kriegsepoche trotz schwerer Verluste überstanden und sich durch sie erneuert und gereinigt, während die damaligen weltlichen Pflegestätten der Wissenschaft und Bildung mit in den Untergang der Kultur hineingeraten seien; erst auf ihren Trümmern seien der Orden und der kastalische Gedanke entstanden. Schon darum und schon ihres so ehrwürdigen Alters wegen sei der Kirche ein Vorrang einzuräumen, sie sei die ältere, vornehmere, in mehr und in größeren Stürmen bewährte Macht. Vorerst handle es sich darum, das Bewußtsein von der Verwandtschaft beider Mächte und ihrem Aufeinanderangewiesensein in allen etwa kommenden Krisen auch bei den Römischen zu wecken und zu pflegen. (Hier dachte Knecht: »Oh, also nach Rom wollen sie mich schicken und womöglich für immer!« und setzte sich, der Warnung des Alt-Musikmeisters eingedenk, innerlich alsbald in Bereitschaft zur Abwehr.) Meister Thomas fuhr fort: Ein wichtiger Schritt in dieser von kastalischer Seite schon seit langem angestrebten Entwicklung sei durch Knechts Mariafelser Mission geschehen. Diese Mission, an sich nur ein Versuch, eine höfliche Gebärde und zu nichts verpflichtend, sei ohne Nebenabsichten auf Einladung des dortigen Partners hin unternommen worden, andernfalls hätte man selbstverständlich nicht einen politisch ahnungslosen Glasperlenspieler, sondern etwa einen jungem Beamten aus dem Bereich von Herrn Dubois dafür verwendet. Es habe nun aber dieser Versuch, diese kleine harmlose Mission, ein überraschend gutes Resultat ergeben, es sei durch sie ein führender Geist des heutigen Katholizismus, Pater Jakobus, mit dem Geist Kastaliens etwas näher bekannt geworden und habe von diesem Geist, den er bisher durchaus ablehnte, einen günstigeren Begriff bekommen. Man sei Josef Knecht dankbar für die Rolle, die er dabei gespielt habe. Hier nämlich liege der Sinn und der Erfolg seiner Mission, und von diesem Punkt aus müsse nicht nur der ganze Versuch einer Annäherung, sondern besonders auch Knechts Sendung und Arbeit weiter betrachtet und betrieben werden. Man habe ihm einen Urlaub gewährt, der auch noch etwas verlängert werden könne, falls er dies wünsche, man habe sich mit ihm ausgesprochen und ihn mit den meisten Mitgliedern der obersten Behörden bekannt gemacht, die Oberen hätten ihr Vertrauen zu Knecht ausgesprochen und hätten nun ihn, den Glasperlenspielmeister, beauftragt, Knecht mit einem besonderen Geschäft und erweiterten Kompetenzen nach Mariafels zurückzusenden, wo er ja glücklicherweise eines freundlichen Empfanges sicher sei. Er machte eine Pause, wie um seinem Zuhörer Zeit zu einer Frage zu lassen, aber dieser gab nur durch eine höfliche Gebärde der Ergebenheit zu verstehen, daß er aufmerke und seines Auftrags gewärtig sei. »Der Auftrag, den ich dir zu übergeben habe,« sagte nun der Magister, »ist also dieser: wir planen, für früher oder später, die Einrichtung einer ständigen Vertretung unsres Ordens beim Vatikan, womöglich auf Gegenseitigkeit. Wir sind, als die Jüngeren, Rom gegenüber zu einer zwar nicht servilen, aber sehr ehrfurchtsvollen Haltung bereit, wir wollen gerne den zweiten Rang einnehmen und ihm den ersten lassen. Vielleicht – Ich weiß das so wenig, wie Herr Dubois es weiß – würde der Papst unser Anerbieten schon heute annehmen; was wir aber unbedingt zu vermeiden haben, ist eine abschlägige Antwort von dort. Es gibt nun einen uns bekannten und erreichbaren Mann, dessen Stimme in Rom das allergrößte Gewicht hat, den Pater Jakobus. Und dein Auftrag ist, du sollst ins Benediktinerstift zurückkehren, sollst wie bisher dort leben, Studien treiben, einen harmlosen Glasperlenspielkurs abhalten und sollst all dein Augenmerk und deine Sorgfalt daran wenden, den Pater Jakobus langsam für uns zu gewinnen und dafür, daß er dir seine Befürwortung unsres Vorhabens in Rom zusagt. Diesmal ist das Endziel deiner Sendung also genau umgrenzt. Wie lange du brauchen wirst, um es zu erreichen, ist nebensächlich; wir denken, es werde mindestens noch ein Jahr dauern, aber es können auch zwei, auch mehrere Jahre sein. Du kennst ja das benediktinische Tempo und hast gelernt, dich ihm anzupassen. Wir dürfen unter keinen Umständen den Eindruck von Ungeduld und Gierigkeit machen, die Sache muß wie von selber spruchreif werden, nicht wahr? Ich hoffe dich mit dem Auftrag einverstanden und bitte um offene Aussprache jedes Einwandes, den du etwa zu machen hast. Wenn du es wünschest, stehen auch ein paar Tage Bedenkzeit zur Verfügung.« Knecht, den der Auftrag nach manchem vorangegangenen Gespräch nicht mehr überraschte, erklärte die Bedenkzeit für überflüssig, nahm den Auftrag gehorsam an, setzte aber hinzu: »Ihr wisset, daß Missionen dieser Art am besten gelingen, wenn der Beauftragte dabei nicht eigene innere Widerstände und Hemmungen zu bekämpfen hat. Ich habe gegen den Auftrag selbst keine Widerstände, ich begreife seine Wichtigkeit und hoffe ihm gerecht werden zu können. Eine gewisse Furcht und Bedrückung aber empfinde ich meiner Zukunft wegen; seid so gütig, Magister, und höret mein ganz persönliches, egoistisches Anliegen und Geständnis an. Ich bin Glasperlenspieler, wie Ihr wisset, infolge meiner Sendung zu den Patres habe ich nun zwei volle Jahre in meinen Studien versäumt, habe nichts hinzugelernt und meine Kunst vernachlässigt, nun kommt mindestens ein weiteres Jahr hinzu, wahrscheinlich mehr. Ich möchte in dieser Zeit nicht noch weiter zurückkommen. Darum bitte ich um öfteren kurzen Urlaub nach Waldzell und um ständigen Funkanschluß an die Vorträge und Spezialübungen eures Seminars für Fortgeschrittene.« »Gern bewilligt,« rief der Meister und hatte schon etwas von Verabschiedung im Ton, da hob Knecht die Stimme und sagte auch das andere noch, nämlich, daß er befürchte, falls das Vorhaben mit Mariafels glücke, etwa nach Rom geschickt oder sonst weiter zu diplomatischen Diensten gebraucht zu werden. »Und diese Aussicht,« schloß er, »würde auf mich und meine Bemühungen im Kloster niederdrückend und hemmend wirken. Denn auf die Dauer in den diplomatischen Dienst abgeschoben zu werden, war mir äußerst unerwünscht.« Der Magister zog die Brauen zusammen und hob rügend den Finger. »Du sprichst von Abgeschobenwerden, das Wort ist wirklich schlecht gewählt, niemand hat je an Abschieben gedacht, eher an Auszeichnung, an Beförderung. Ich bin nicht befugt, dir über die Art, wie man dich späterhin verwenden wird, Auskunft zu geben oder Versprechungen zu machen. Doch kann ich deine Bedenken zur Not verstehen, und vermutlich werde ich dir behilflich sein können, falls du wirklich mit deiner Furcht recht behalten solltest. Und nun höre: du hast eine gewisse Gabe, dich angenehm und beliebt zu machen, ein Übelwollender könnte dich beinahe einen Charmeur heißen; vermutlich hat ja auch diese Gabe die Behörde zu deiner zweimaligen Absendung ins Kloster veranlaßt. Aber mache nicht allzuvielen Gebrauch von deiner Gabe, Josef, und suche nicht den Preis deiner Leistungen in die Höhe zu treiben. Wenn es dir mit dem Pater Jakobus glückt, so wird das der rechte Augenblick für dich sein, eine persönliche Bitte an die Behörde zu richten. Heute scheint es mir zu früh. Laß es mich wissen, wenn du reisebereit bist.« Schweigend nahm Josef die Worte entgegen, sich mehr an das hinter ihnen versteckte Wohlwollen als an die Rüge haltend, und reiste bald darauf nach Mariafels zurück. Dort empfand er die Sicherheit, welche ein genau umgrenzter Auftrag gibt, sehr wohltätig. Überdies war dieser Auftrag wichtig und ehrenvoll, und in einer Hinsicht traf er mit den eigensten Wünschen des Beauftragten zusammen: soviel wie nur möglich sich an den Pater Jakobus anzuschließen und dessen volle Freundschaft zu erwerben. Daß seine neue Mission hier im Stift ernst genommen werde und er selbst im Range erhöht sei, bewies ihm überdies die etwas veränderte Haltung der Würdenträger des Klosters, namentlich des Abtes; sie war unvermindert freundlich, aber um einen spürbaren Grad respektvoller als vormals. Josef war nicht mehr der junge Gast ohne Rang, gegen den man seiner Herkunft wegen und aus Wohlwollen für seine Persönlichkeit artig ist, er wurde jetzt eher wie ein höherer kastalischer Beamter empfangen und behandelt, ein bevollmächtigter Gesandter etwa. Nicht mehr blind in diesen Dingen, zog er daraus seine Schlüsse. Bei Pater Jakobus allerdings konnte er keine Änderung des Verhaltens entdecken: die Freundschaftlichkeit und Freude, mit der ihn der Pater begrüßte und, ohne Knechts Bitte oder Mahnung abzuwarten, an die vereinbarte gemeinsame Arbeit erinnerte, rührte ihn tief. Sein Arbeitsplan und Tageslauf bekam nun ein wesentlich anderes Gesicht als vor dem Urlaub. Im Arbeitsplan und Pflichtenkreis nahm diesmal der Glasperlenspielkurs längst nicht mehr die erste Stelle ein, und von seinen musikarchivalischen Studien sowie der kollegialen Zusammenarbeit mit dem Organisten war überhaupt nicht mehr die Rede. Obenan stand jetzt der Unterricht bei Pater Jakobus, ein Unterricht in mehreren Fächern der Geschichtswissenschaft zugleich, denn der Pater führte seinen Vorzugsschüler nicht nur in die Vor- und Frühgeschichte des Benediktinerordens ein, sondern auch in die Quellenkunde des frühen Mittelalters, und las außerdem in einer gesonderten Stunde mit ihm einen der alten Chronisten im Urtext. Es gefiel dem Pater, daß Knecht ihn mit der Bitte bestürmte, auch den jungen Anton teilnehmen zu lassen, doch wurde es ihm nicht schwer, ihn davon zu überzeugen, daß auch der bestgewillte Dritte diese Art von privatestem Unterricht erheblich hemmen müßte, und so wurde Anton, der von Knechts Fürsprache nichts ahnte, nur zur Teilnahme an der Chronistenlektüre eingeladen und war darüber hoch beglückt. Ohne Zweifel waren diese Stunden für den jungen Bruder, über dessen Leben wir des weiteren nicht unterrichtet sind, eine Auszeichnung, ein Genuß und Ansporn höchster Art; es waren zwei der reinsten Geister und originalsten Köpfe seiner Zeit, an deren Arbeit und deren Austausch er als Zuhörer und junger Rekrut ein wenig teilhaben durfte. Knechts Gegenleistung an den Pater bestand in einer fortlaufenden, jeweils auf die Lektionen in Epigraphik und Quellenkunde folgenden Einführung in die Geschichte und Struktur Kastaliens und der leitenden Ideen des Glasperlenspiels, wobei der Schüler zum Lehrer, der verehrte Lehrer zum aufmerksamen Zuhörer und oft recht schwer zu befriedigenden Fragensteller und Kritiker wurde. Sein Mißtrauen gegen die gesamte kastalische Mentalität blieb immer wach; da er eine eigentlich religiöse Haltung an ihr vermißte, zweifelte er an ihrer Fähigkeit und Würdigkeit zum Erziehen eines wirklich ernst zu nehmenden Menschentyps, obwohl ihm in Knechts Person ein so edles Ergebnis dieser Erziehung gegenüberstand. Auch als er längst, soweit dies eben möglich war, eine Art von Bekehrung durch Knechts Unterricht und Beispiel erfahren hatte und längst entschlossen war, die Annäherung Kastaliens an Rom zu befürworten, schlief dies Mißtrauen nie völlig ein, Knechts Aufzeichnungen sind voll von drastischen, jeweils im Moment notierten Beispielen, deren wir eins anführen: Pater: »Ihr seid große Gelehrte und Ästhetiker, ihr Kastalier, ihr messet das Gewicht der Vokale in einem alten Gedicht und setzt seine Formel zu der einen Planetenbahn in Beziehung. Das ist entzückend, aber es ist ein Spiel. Ein Spiel ist ja auch euer höchstes Geheimnis und Symbol, das Glasperlenspiel. Ich will auch anerkennen, daß ihr den Versuch machet, dies hübsche Spiel zu so etwas wie einem Sakrament zu erheben, oder mindestens zu einem Mittel der Erbauung. Aber Sakramente entstehen nicht aus solchen Bemühungen, das Spiel bleibt Spiel.« Josef: »Sie meinen, Pater, es fehle uns das Fundament der Theologie?« Pater: »Ach, von Theologie wollen wir gar nicht reden, davon seid ihr noch allzuweit entfernt. Es wäre euch schon mit einigen einfacheren Fundamenten gedient, mit einer Anthropologie zum Beispiel, einer wirklichen Lehre und einem wirklichen Wissen vom Menschen. Ihr kennt ihn nicht, den Menschen, nicht seine Bestialität und nicht seine Gottesbildschaft. Ihr kennt bloß den Kastalier, eine Spezialität, eine Kaste, einen aparten Züchtungsversuch.« Für Knecht war es ja ein Glücksfall außerordentlicher Art, daß er für seine Aufgabe, den Pater für Kastalien zu gewinnen und vom Wert einer Bundesgenossenschaft zu überzeugen, in diesen Stunden das denkbar günstigste und breiteste Feld eingeräumt bekam. Es war ihm damit eine Situation geboten, welche allem nur irgend Wünsch- und Ersinnbaren so vollkommen entsprach, daß er schon bald etwas wie Gewissensskrupel dabei empfand, denn es wollte ihm beschämend und unwürdig erscheinen, wie ihm da der verehrte Mann vertrauensvoll sich hingebend gegenübersaß oder mit ihm den Kreuzgang hinab und hinauf wanderte, während er doch das Objekt und Ziel geheimer politischer Absichten und Geschäfte war. Knecht hätte diese Lage nicht lange schweigend hingenommen und sann nur noch über die Form nach, die er seiner Demaskierung zu geben habe, als ihm der Alte zu seiner Überraschung zuvorkam. »Lieber Freund,« sagte er eines Tages wie nebenher, »wir haben da wirklich eine höchst angenehme und, so hoffe ich, auch fruchtbare Art des Austausches erfunden. Die beiden Tätigkeiten, die mir zeitlebens die liebsten waren, das Lernen und das Lehren, haben in unsern gemeinsamen Arbeitsstunden eine schöne neue Kombination gefunden, und für mich kam das gerade zur richtigen Zeit, denn ich beginne zu altern und hätte mir eine bessere Kur und Auffrischung, als unsre Stunden sie sind, gar nicht ausdenken können. Also was mich betrifft, ich bin bei unsrem Austausch der Gewinnende, auf jeden Fall. Dagegen bin ich nicht so sicher, ob auch Sie, Freund, und namentlich ob die Leute, deren Abgesandter Sie sind und in deren Dienst Sie stehen, so viel bei der Sache zu gewinnen haben, wie sie vielleicht hoffen. Ich möchte einer spätem Enttäuschung vorbeugen und möchte außerdem zwischen uns beiden kein unklares Verhältnis entstehen lassen, darum erlauben Sie einem alten Praktiker eine Frage: ich habe mir über Ihren Aufenthalt in unsrem Klösterchen, so angenehm er mir ist, natürlich schon des öftern Gedanken gemacht. Bis vor kurzem, bis zu Ihrem neulichen Urlaub nämlich, glaubte ich feststellen zu können, daß der Sinn und das Ziel Ihrer Anwesenheit bei uns auch Ihnen selbst keineswegs vollkommen klar sei. Habe ich richtig beobachtet?« Und als Knecht bejahte, fuhr er fort: »Gut. Seit Ihrer Rückkehr nun aus jenem Urlaub hat sich das geändert. Sie machen sich jetzt keine Gedanken und Sorgen mehr über den Zweck Ihres Hierseins, sondern wissen darüber Bescheid. Stimmt es? – Gut, ich habe also nicht fehlgeraten. Vermutlich rate ich auch nicht fehl mit der Vorstellung, die ich mir vom Zweck Ihres Hierseins mache. Sie haben einen diplomatischen Auftrag, und der gilt weder unsrem Kloster noch unsrem Herrn Abt, sondern er gilt mir. – Sie sehen, es bleibt von Ihrem Geheimnis nicht gar so viel übrig. Um die Lage vollends ganz zu klären, tue ich den letzten Schritt und gebe Ihnen den Rat, mir auch den Rest vollends mitzuteilen. Wie also lautet Ihr Auftrag?« Knecht war aufgesprungen und stand ihm überrascht, verlegen, beinahe bestürzt gegenüber. »Sie haben recht,« rief er, »aber während Sie mich erleichtern, beschämen Sie mich auch, indem Sie mir zuvorkommen. Seit einer Weile schon habe ich überlegt, wie ich unsrem Verhältnis die Klarheit geben könne, die Sie nun so rasch hergestellt haben. Ein Glück nur, daß meine Bitte um Ihre Unterweisungen und unsre Vereinbarung wegen meiner Einführung in Ihre Wissenschaft noch in die Zeit vor meinem Urlaub fallen, es hätte sonst wahrhaftig den Anschein, als sei das alles Diplomatie von mir gewesen und unsre Studien nur Vorwand!« Freundlich beruhigte ihn der Alte. »Ich wollte nichts, als uns beiden einen Schritt vorwärts helfen. Die Lauterkeit Ihrer Absichten bedarf keiner Versicherung. Wenn ich Ihnen zuvorgekommen bin und nichts herbeigeführt habe, als was auch Ihnen erwünscht schien, ist ja alles gut.« Über den Inhalt von Knechts Auftrag, den dieser ihm nun mitteilte, meinte er: »Ihre Herren in Kastalien sind nicht gerade geniale, aber doch ganz annehmbare Diplomaten, und Glück haben sie auch. Ihren Auftrag werde ich mir in aller Ruhe überlegen, und meine Entscheidung wird zum Teil davon abhängen, wie weit es Ihnen gelingt, mich in Ihre kastalische Verfassung und Ideenwelt einzuführen und sie mir plausibel zu machen. Wir wollen uns damit alle Zeit lassen.« Und als er Knecht noch immer etwas betreten sah, lachte er hart auf und meinte: »Wenn Sie wollen, können Sie mein Vorgehen auch als eine Art von Lektion auffassen. Wir sind zwei Diplomaten, und deren Beisammensein ist stets ein Kampf, auch wenn er freundschaftliche Formen hat. In unsrem Kampf nun war ich momentan im Nachteil, das Gesetz des Handelns war mir entschlüpft, Sie wußten mehr als ich. Jetzt ist das also ausgeglichen. Der Schachzug ist geglückt, er war also richtig.« Wenn es Knecht wertvoll und wichtig erschien, den Pater für die Absichten der kastalischen Behörde zu gewinnen, so schien es ihm doch noch weit wichtiger, so viel als nur möglich bei ihm zu lernen und seinerseits dem gelehrten und mächtigen Manne ein zuverlässiger Führer in die kastalische Welt zu sein. Um vieles ist Knecht von manchen seiner Freunde und Schüler beneidet worden, so wie eben ausgezeichnete Menschen nicht nur um ihre innere Größe und Energie, sondern auch um ihr scheinbares Glück, ihre scheinbare Bevorzugung durch das Schicksal beneidet zu werden pflegen. Der Kleinere sieht am Größeren das, was er eben zu sehen vermag, und Josef Knechts Laufbahn und Aufstieg hat in der Tat für jeden Betrachter etwas ungewöhnlich Glänzendes, Rasches, scheinbar Müheloses; von jener Zeit seines Lebens kann man wohl versucht sein zu sagen: er hat Glück gehabt. Wir wollen auch nicht den Versuch machen, dies »Glück« rationalistisch oder moralistisch, sei es als kausale Folge äußerer Umstände, sei es als eine Art von Belohnung seiner besonderen Tugend zu erklären. Glück hat weder mit Ratio noch mit Moral etwas zu tun, es ist etwas seinem Wesen nach Magisches, einer frühen, jugendlichen Menschheitsstufe Zugehörendes. Der naive Glückliche, der von den Feen Beschenkte, von den Göttern Verwöhnte ist kein Gegenstand für die rationale Betrachtung und somit auch nicht für die biographische, er ist Symbol und steht jenseits des Persönlichen und des Geschichtlichen. Dennoch gibt es hervorragende Menschen, aus deren Leben das »Glück« nicht wegzudenken ist, bestehe es auch nur darin, daß sie und die ihnen gemäße Aufgabe tatsächlich geschichtlich und biographisch einander finden und treffen, daß sie nicht zu früh und nicht zu spät geboren wurden; und zu ihnen scheint Knecht zu gehören. So macht denn sein Leben, wenigstens eine Strecke weit, den Eindruck, als sei ihm alles Wünschenswerte wie von selbst in den Schoß gefallen. Wir wollen diesen Aspekt nicht leugnen und nicht wegwischen, wir könnten ihn auch vernunftgemäß nur durch eine biographische Methode erklären, welche nicht die unsre und nicht die in Kastalien erwünschte und erlaubte ist, mit einem beinahe grenzenlosen Eingehen nämlich auf das Persönlichste, Privateste, auf die Gesundheit und Krankheit, die Schwankungen und Kurven im Lebens- und im Selbstgefühl. Wir sind überzeugt, daß eine solche, für uns nicht in Frage kommende Art der Biographie uns zum Nachweis eines vollkommenen Gleichgewichtes zwischen seinem »Glück« und seinen Leiden führen und dennoch das Bild seiner Gestalt und seines Lebens fälschen würde. Genug der Abschweifung. Wir sprachen davon, daß Knecht von vielen, die ihn kannten oder die auch nur von ihm hörten, beneidet wurde. Aber wohl nichts in seinem Leben ist Kleineren so beneidenswert erschienen wie sein Verhältnis zu dem alten Benediktinerpater, das zugleich Schülerschaft und Lehrerschaft, Nehmen und Geben, Erobertsein und Erobern, zugleich Freundschaft und innige Arbeitsgemeinschaft war. Auch ist Knecht selbst von keiner seiner Eroberungen seit der des Älteren Bruders im Bambusgehölz so beglückt gewesen, durch keine hat er sich so sehr zugleich ausgezeichnet und beschämt, beschenkt und angespornt gefühlt wie durch diese. Kaum einer seiner späteren Vorzugsschüler, der nicht bezeugt hätte, wie häufig, wie gern und freudig er auf Pater Jakobus zu sprechen kam. Bei ihm lernte Knecht etwas, was er im damaligen Kastalien kaum hätte lernen können; er erwarb nicht nur den Überblick über die Methoden und Mittel historischer Erkenntnis und Forschung und seine erste Übung in ihrer Anwendung, sondern weit darüber hinaus gewann und erlebte er Geschichte nicht als Wissensgebiet, sondern als Wirklichkeit, als Leben, und dazu gehört als Entsprechung die Wandlung und Steigerung des eigenen, persönlichen Lebens zu Geschichte. Er hätte dies von einem bloßen Gelehrten nicht lernen können. Jakobus war nicht nur, weit über die Gelehrtheit hinaus, ein Schauender und Weiser. Er war überdies ein Erlebender und Mitschaffender, er hatte die Stelle, an die ihn sein Schicksal gestellt, nicht dazu benutzt, sich im Behagen eines betrachtenden Daseins zu wärmen, sondern hatte die Winde der Welt durch seine Gelehrtenstube wehen lassen und die Nöte und Ahnungen seiner Epoche in sein Herz eingelassen, er war am Geschehen seiner Zeit mittätig, mitschuldig und mitverantwortlich geworden und hatte es nicht nur mit dem Überblicken, Ordnen und Deuten längst abgelaufener Begebnisse und nicht nur mit Ideen zu tun gehabt, sondern nicht minder mit der Widerspenstigkeit der Materie und der Menschen. Er wurde, zusammen mit seinem Mitarbeiter und Gegenspieler, einem unlängst verstorbenen Jesuiten, als der eigentliche Gründer der diplomatischen und moralischen Macht und des hohen politischen Ansehens betrachtet, das die Römische Kirche nach Zeiten der Resignation und großer Dürftigkeit wiedergewonnen hatte. Wenn nun auch in den Gesprächen zwischen Lehrer und Schüler von der politischen Gegenwart kaum jemals die Rede war – nicht allein die Übung des Paters im Schweigen und Zurückhalten, sondern ebensosehr die Scheu des Jüngeren vor dem Hineingezogenwerden ins Diplomatische und Politische verhinderte das – so hatte doch die politische Stellung und Tätigkeit des Benediktiners seine Betrachtung der Weltgeschichte so durchdrungen, daß aus jeder seiner Ansichten, aus jedem seiner Blicke ins Gewirre der Welthändel auch der praktische Politiker mitsprach, ein nicht ehrgeiziger, nicht intriganter Politiker allerdings, kein Regent und Führer, auch kein Streber, sondern ein Ratgeber und Vermittler, ein Mann, dessen Aktivität durch Weisheit, dessen Streben durch eine tiefe Einsicht in die Unzulänglichkeit und Schwierigkeit des Menschenwesens gemildert war, dem aber sein Ruhm, seine Erfahrung, seine Kenntnis der Menschen und Zustände und nicht zuletzt seine Selbstlosigkeit und Integrität als Person eine bedeutende Macht gaben. Von alledem hatte Knecht, als er nach Mariafels kam, nichts gewußt, es war ihm nicht einmal der Name des Paters bekannt gewesen. Die Mehrzahl der Bewohner Kastaliens lebte in einer politischen Unschuld und Ahnungslosigkeit, wie sie dem Gelehrtenstande auch in früheren Epochen nicht selten eigen war; aktive politische Rechte und Pflichten besaß man nicht, Zeitungen bekam man kaum zu Gesicht; und wenn dies die Haltung und Gewohnheit der Durchschnittskastalier war, so war die Scheu vor dem Aktuellen, der Politik, der Zeitung noch größer bei den Glasperlenspielern, die sich gern für die eigentliche Elite und Creme der Provinz hielten und sehr darauf hielten, die dünne sublimierte Atmosphäre ihres gelehrt-artistischen Daseins durch nichts trüben zu lassen. Bei seinem erstmaligen Erscheinen im Kloster war Knecht ja auch nicht als Träger eines diplomatischen Auftrags, sondern lediglich als Lehrer des Glasperlenspiels gekommen, und hatte keine andren Kenntnisse politischer Art als die ihm von Monsieur Dubois in ein paar Wochen beigebrachten. Verglichen mit damals war er heute zwar sehr viel wissender geworden, hatte aber den Widerwillen des Waldzellers gegen die Beschäftigung mit aktueller Politik keineswegs aufgegeben. Wenn er auch in politischer Hinsicht im Umgang mit dem Pater Jakobus vielfach geweckt und erzogen wurde, so geschah das nicht, weil Knecht ein Bedürfnis danach gespürt hätte, so wie er etwa auf die Historie geradezu gierig war, sondern es geschah, weil unvermeidlich, wie beiläufig. Um sein Rüstzeug zu ergänzen und seiner ehrenvollen Aufgabe, den Pater in seinen Vorträgen de rebus castaliensibus zum Schüler zu haben, eher gewachsen zu sein, hatte Knecht Literatur über die Verfassung und Geschichte der Provinz, über das System der Eliteschulen und die Entwicklungsgeschichte des Glasperlenspiels aus Waldzell mitgebracht. Einige dieser Bücher – er hatte sie seitdem nicht wieder vor Augen gehabt – hatten ihm schon vor zwanzig Jahren bei seinem Kampf mit Plinio Designori gedient; andre, die man ihm damals noch hatte vorenthalten müssen, da sie speziell für die Beamten Kastaliens verfaßt waren, las er erst jetzt. So kam es, daß er zur gleichen Zeit, da seine Studiengebiete sich so erweiterten, die eigene geistige und geschichtliche Basis neu zu betrachten, zu erfassen und zu stärken genötigt war. Bei seinem Versuch, dem Pater das Wesen des Ordens und des kastalischen Systems möglichst einfach und klar vor Augen zu stellen, stieß er, wie es nicht anders sein konnte, alsbald auf den schwächsten Punkt seiner eigenen wie der ganzen kastalischen Bildung; es zeigte sich, daß die weltgeschichtlichen Zustände, welche einst das Entstehen des Ordens und alles, was daraus folgte, ermöglicht und gefordert hatten, ihm selber nur in einem schematisierten und blassen Bilde vorstellbar waren, das der Anschaulichkeit und der Ordnung ermangelte. So kam es, da der Pater ein nichts weniger als passiver Schüler war, zu einer gesteigerten Zusammenarbeit, einem höchst lebendigen Austausch: während er die Geschichte seines kastalischen Ordens vorzutragen versuchte, half ihm Jakobus diese Geschichte in mancher Hinsicht erst richtig sehen und erleben und ihre Wurzeln in der allgemeinen Welt- und Staatengeschichte finden. Wir werden diese intensiven, durch das Temperament des Paters nicht selten bis zur heftigsten Diskussion gesteigerten Auseinandersetzungen noch nach Jahren ihre Frucht tragen und bis zu Knechts Ende lebendig fortwirken sehen. Wie aufmerksam andrerseits der Pater Knechts Ausführungen folgte und wie weit er durch sie Kastalien hat kennen und anerkennen lernen, zeigte sein ganzes späteres Verhalten; das bis heute bestehende, mit wohlwollender Neutralität und gelegentlichem gelehrtem Austausch beginnende und zeitweise bis zur wirklichen Zusammenarbeit und Bundesgenossenschaft gediehene Einvernehmen zwischen Rom und Kastalien ist diesen beiden Männern zu danken. Sogar in die Theorie des Glasperlenspiels – was er anfangs lächelnd von sich gewiesen hatte – begehrte der Pater schließlich eingeführt zu werden, denn er spürte wohl, daß dort das Geheimnis des Ordens und gewissermaßen dessen Glaube oder Religion zu suchen sei, und da er nun einmal willens war, in diese ihm bisher nur vom Hörensagen bekannte und wenig sympathische Welt einzudringen, ging er in seiner ebenso kräftigen wie listigen Art entschlossen aufs Zentrum los, und wenn er auch kein Glasperlenspieler geworden ist – dazu war er ohnehin viel zu alt – so haben doch die Geister des Spiels und des Ordens sich außerhalb Kastaliens kaum jemals einen ernstern und wertvollem Freund gewonnen als den großen Benediktiner. Je und je gab der Pater, wenn Knecht sich nach einer Arbeitszeit von ihm verabschiedete, ihm zu verstehen, daß er heute abend für ihn zu Hause sei; das waren auf die Anstrengungen der Lektionen und die Spannungen der Diskussionen hin friedliche Stunden, zu welchen Josef häufig sein Klavichord oder auch eine Geige mitbrachte, dann setzte sich der Alte ans Klavier im sanften Licht einer Kerze, deren süßer Wachsduft den kleinen Raum erfüllte gleich der Musik von Corelli, Scarlatti, Telemann oder Bach, die sie abwechselnd oder gemeinsam spielten. Früh ging der alte Herr schlafen, während Knecht, von der kleinen musikalischen Abendandacht gestärkt, seine Arbeitszeit bis zur Grenze des von der Disziplin Erlaubten in die Nacht ausdehnte. Außer seinem Lernen und Lehren beim Pater nämlich, dem läßlich betriebenen Spielkurs im Kloster und etwa je und je einem chinesischen Colloquium mit dem Abt Gervasius finden wir Knecht zu jener Zeit noch mit einer recht umfangreichen Arbeit beschäftigt; er beteiligte sich, was er die beiden letzten Male unterlassen hatte, an dem jährlichen Wettbewerb der Waldzeller Elite. Bei diesem Wettbewerb mußten auf Grund von drei bis vier vorgeschriebenen Hauptthemen Entwürfe zu Glasperlenspielen ausgearbeitet werden, es wurde Wert auf neue, kühne und originelle Verknüpfungen der Themen bei höchster formaler Sauberkeit und Kalligraphie gelegt, und es waren bei diesem einzigen Anlaß den Konkurrenten auch Überschreitungen des Kanons erlaubt, das heißt, man hatte das Recht, sich auch neuer, in den offiziellen Kodex und Hieroglyphenschatz noch nicht aufgenommener Chiffern zu bedienen. Dadurch wurde dieser Wettbewerb, nächst den öffentlichen großen Weihespielen ohnehin das erregendste Ereignis im Spielerdorf, auch zu einer Konkurrenz der aussichtsreichsten Anwärter auf neue Spielzeichen, und die denkbar höchste, sehr selten verliehene Auszeichnung eines Siegers bei diesem Wettkampf bestand darin, daß nicht nur sein Spiel als das beste Kandidatenspiel des Jahres feierlich zur Aufführung gelangte, sondern daß auch noch der von ihm dargebotene Zuwachs zu Grammatik und Sprachschatz des Spieles anerkannt und in das Spielarchiv und die Spielsprache aufgenommen wurde. Einst war, vor etwa fünfundzwanzig Jahren, der große Thomas von der Trave, der jetzige Magister Ludi, dieser seltenen Ehre gewürdigt worden mit seinen neuen Abbreviaturen für die alchimistische Bedeutung der Tierkreiszeichen, wie denn Magister Thomas auch späterhin viel für die Kenntnis und Einordnung der Alchimie als einer aufschlußreichen Geheimsprache geleistet hat. Knecht nun verzichtete für diesmal auf die Verwendung neuer Spielwerte, deren er wie wohl fast jeder Kandidat manche bereit gehabt hätte, er nahm ferner auch die Gelegenheit nicht wahr, ein Bekenntnis zur psychologischen Spielmethode abzulegen, was ihm eigentlich wohl nahegelegen wäre; er baute ein Spiel von zwar moderner und persönlicher Struktur und Thematik, vor allem aber von einer durchsichtig klaren, klassischen Komposition und streng symmetrischer, nur mäßig ornamentierender, altmeisterlich anmutiger Durchführung auf. Vielleicht war es die Entfernung von Waldzell und dem Spielarchiv, die ihn dazu zwang, vielleicht war es die starke Inanspruchnahme seiner Kraft und seiner Zeit durch die historischen Studien, vielleicht auch leitete ihn mehr oder weniger bewußt der Wunsch, sein Spiel so zu stilisieren, wie es dem Geschmack seines Lehrers und Freundes, des Paters Jakobus, am meisten entsprechen mochte; wir wissen es nicht. Wir haben den Ausdruck »psychologische Spielmethode« gebraucht, der vielleicht nicht jedem unserer Leser ohne weiteres verständlich ist; zu Knechts Zeiten war er ein oft gehörtes Schlagwort. Es gab wohl zu jeder Zeit Strömungen, Moden, Kämpfe und wechselnde Anschauungen und Sinngebungen unter den Eingeweihten des Glasperlenspiels, und zu jener Zeit waren es vor allem zwei Auffassungen des Spiels, um die der Streit und die Diskussion ging. Man unterschied zwei Spieltypen, den formalen und den psychologischen, und wir wissen, daß Knecht, ebenso wie Tegularius, obwohl er sich dem Wortstreit ferne hielt, zu den Anhängern und Förderern des letzteren gehörte, nur hat Knecht, statt von der »psychologischen Spielweise,« meist lieber von der »pädagogischen« gesprochen. Das formale Spiel strebte danach, aus den sachlichen Inhalten jedes Spieles, den mathematischen, sprachlichen, musikalischen und so weiter, eine möglichst dichte, lückenlose, formal vollkommene Einheit und Harmonie zu bilden. Das psychologische Spiel dagegen suchte die Einheit und Harmonie, die kosmoshafte Rundheit und Vollkommenheit nicht so sehr in der Wahl, Anordnung, Verschränkung, Verknüpfung und Gegenüberstellung der Inhalte als in der jeder Etappe des Spieles folgenden Meditation, auf die es allen Nachdruck legte. Ein solches psychologisches oder, wie Knecht lieber sagte, pädagogisches Spiel bot nicht von außen her den Anblick des Vollkommenen, sondern leitete den Spieler durch die Folge seiner genau vorgeschriebenen Meditationen zum Erlebnis des Vollkommenen und Göttlichen. »Das Spiel, wie ich es meine,« schrieb Knecht einmal an den Alt-Musikmeister, »umschließt nach absolvierter Meditation den Spieler so, wie die Oberfläche einer Kugel ihren Mittelpunkt umschließt, und entläßt ihn mit dem Gefühl, eine restlos symmetrische und harmonische Welt aus der zufälligen und wirren gelöst und in sich aufgenommen zu haben.« Jenes Spiel nun, mit dem sich Knecht am großen Wettbewerb beteiligte, war also ein formal, nicht ein psychologisch aufgebautes. Möglich, daß er damit den Oberen und auch sich selbst zu beweisen wünschte, er habe über dem Gastspiel in Mariafels und seiner diplomatischen Mission als Glasperlenspieler nichts an Übung, Elastizität, Eleganz und Virtuosität eingebüßt, und dieser Beweis ist ihm gelungen. Die letzte Ausführung und Reinschrift seines Spielentwurfes hat er, da sie nur im Waldzeller Spielarchiv besorgt werden konnte, seinem Freunde Tegularius anvertraut, welcher übrigens selbst zu den Teilnehmern am Wettbewerb gehörte. Auch konnte er seine Papiere dem Freunde selbst übergeben und sie mit ihm durchsprechen, wie er auch dessen Entwurf mit ihm durchsah, denn es war ihm gelungen, Fritz für drei Tage zu sich ins Kloster zu bekommen; zum erstenmal hatte Magister Thomas diese schon zweimal an ihn gerichtete Bitte erfüllt. So sehr sich Tegularius des Besuches freute, und so viel Neugierde er als kastalischer Insulaner mitbrachte, so fühlte er sich doch im Kloster äußerst unbehaglich, ja der sensible Mensch erkrankte beinahe unter all den fremdartigen Eindrücken und zwischen diesen freundlichen, aber einfachen, gesunden, auch etwas derben Menschen, deren keinem seine Gedanken, Sorgen und Probleme das geringste bedeutet hätten. »Du lebst hier auf einem fremden Gestirn,« sagte er zu seinem Freunde, »und ich begreife nicht und bewundere dich dafür, daß du es hier schon drei Jahre ausgehalten hast. Deine Patres sind ja sehr artig gegen mich, aber ich fühle mich hier von allem abgelehnt und zurückgestoßen, nichts kommt mir entgegen, nichts versteht sich von selber, nichts läßt sich ohne Widerstände und Schmerzen assimilieren; zwei Wochen hier leben zu müssen, wäre mir die Hölle.« Knecht hatte Mühe mit ihm, sah auch mit Unbehagen zum erstenmal diese Fremdheit zwischen den beiden Orden und Welten als Zuschauer mit an und fühlte, daß sein überempfindlicher Freund mit seiner ängstlichen Hilflosigkeit hier keinen guten Eindruck mache. Aber ihre beiden Spielpläne für den Wettbewerb gingen sie miteinander gründlich und kritisch durch, und wenn Knecht nach einer solchen Stunde zu Pater Jakobus in den andern Flügel hinüberging oder zu einer Mahlzeit, hatte auch er das Gefühl, aus einem heimatlichen Lande plötzlich in ein ganz anderes, mit anderer Erde und Luft, anderem Klima und anderen Sternen, versetzt zu sein. Als Fritz wieder fort war, provozierte er beim Pater eine Äußerung über dessen Eindruck. »Ich hoffe,« sagte Jakobus, »die Mehrzahl der Kastalier sei mehr Ihnen ähnlich als Ihrem Freunde. Das ist eine unvertraute, überzüchtete, schwächliche und dabei, fürchte ich, auch etwas hochmütige Menschenart, die Sie uns in ihm vorgeführt haben. Ich will mich weiterhin an Sie halten, sonst würde ich ungerecht gegen eure Art werden. Denn dieser arme, empfindliche, überkluge, zapplige Mensch könnte einem eure ganze Provinz wieder entleiden.« »Nun,« sagte Knecht, »es wird auch unter den Herren Benediktinern im Lauf der Jahrhunderte etwa einmal einen kränklichen, körperlich schwachen, aber geistig darum doch vollwertigen Mann gegeben haben, wie mein Freund einer ist. Es war vermutlich unklug, ihn hieher einzuladen, wo man zwar scharfe Augen für seine Schwächen, aber kein Organ für seine großen Vorzüge hat. Mir hat er durch sein Kommen einen großen Freundesdienst getan.« Und er erzählte dem Pater von seiner Teilnahme am Wettbewerb. Dieser sah es gerne, daß Knecht sich für seinen Freund wehrte. »Gut gegeben!« lachte er freundlich. »Aber Sie haben auch wirklich, wie es scheint, lauter Freunde, mit denen es sich etwas schwierig verkehrt.« Er genoß Knechts Nichtverstehen und verwundertes Gesicht und sagte dann leichthin: »Diesmal meine ich einen andern. Wissen Sie Neues von Ihrem Freund Plinio Designori?« Josefs Verwunderung wurde womöglich noch größer; ganz betroffen bat er um Aufklärung. Es hing so zusammen: Designori hatte in einer politischen Streitschrift sich zu heftig antiklerikalen Gesinnungen bekannt und dabei auch den Pater Jakobus recht energisch angegriffen. Dieser hatte von seinen Freunden bei der katholischen Presse Informationen über Designori bekommen, in welchen auch dessen kastalische Schulzeit und sein bekanntes Verhältnis zu Knecht erwähnt war. Josef bat sich den Aufsatz Plinios zum Lesen aus; daran schloß sich das erste Gespräch aktuell politischen Inhalts, das er mit dem Pater hatte und dem auch nur wenige nachfolgten. »Wunderlich und beinahe erschreckend,« schrieb er an Ferromonte, »war es mir, die Figur unsres Plinio und, als Anhängsel, auch meine eigene plötzlich auf das Welttheater der Politik gestellt zu sehen, ein Aspekt, an dessen Möglichkeit ich bis dahin nie gedacht hatte.« Übrigens sprach sich der Pater über jene Streitschrift Plinios eher anerkennend, jedenfalls ohne Empfindlichkeit aus, er lobte Designoris Stil und fand, man merke ihm die Eliteschule recht wohl an, man sei sonst in der Tagespolitik mit sehr viel weniger an Geist und Niveau zufrieden. Von seinem Freund Ferromonte bekam Knecht um diese Zeit die Abschrift eines ersten Teiles seiner später zu Berühmtheit gelangten Arbeit zugesandt mit dem Titel: »Die Aufnahme und Verarbeitung slawischer Volksmusik durch die deutsche Kunstmusik von Josef Haydn an.« In Knechts Antwortbrief auf diese Sendung lesen wir unter andrem: »Du hast aus Deinen Studien, deren Genosse ich einst eine Weile sein durfte, ein bündiges Fazit gezogen; die beiden Kapitel über Schubert, zumal über die Quartette, gehören zum Gediegensten an Musikgeschichte, was ich aus neuerer Zeit kenne. Gedenke meiner zuweilen, ich bin weit von solch einer Ernte entfernt, wie sie Dir geglückt ist. So sehr ich mit meiner hiesigen Existenz zufrieden sein darf – denn meine Mariafelser Mission scheint nicht erfolglos zu sein –, empfinde ich doch zuweilen meine lange Entfernung aus der Provinz und aus dem Waldzeller Kreis, dem ich angehöre, als beklemmend. Ich lerne hier viel, unendlich viel, aber es ist nicht ein Zuwachs an Sicherheit und fachlicher Brauchbarkeit, den ich hier erfahre, sondern ein Zuwachs an Problematik. Freilich auch an Horizont. Über die Unsicherheit, Fremdheit, den Mangel an Zuversicht, Heiterkeit und Selbstvertrauen und andres Üble, was ich namentlich während meiner ersten zwei Jahre hier oft empfand, bin ich freilich jetzt beruhigter: neulich war Tegularius hier, nur drei Tage, aber so sehr er sich auf mich gefreut hatte und auf Mariafels neugierig gewesen war, er hielt es schon am zweiten Tage beinahe nicht mehr aus vor Bedrücktheit und Sichfremdfühlen. Da ja schließlich auch ein Kloster eher eine behütete, friedliche und gastfreundliche Welt ist und noch lange kein Zuchthaus, keine Kaserne oder Fabrik, ziehe ich aus meiner Erfahrung den Schluß, daß wir Leute aus unsrer lieben Provinz weit verwöhnter und empfindsamer sind, als wir selber wissen.« Eben in jener Zeit, aus welcher der Brief an Carlo datiert ist, brachte Knecht den Pater Jakobus dazu, daß er in einem kurzen Schreiben an die kastalische Ordensleitung sein Jawort in der bewußten diplomatischen Frage gab, jedoch die Bitte hinzufügte, man möge den »hierorts allgemein beliebten Glasperlenspieler Josef Knecht,« der ihn eines Privatissimum de rebus castaliensibus würdige, noch eine Weile hier belassen. Selbstverständlich machte man sich drüben eine Ehre daraus, seinen Wunsch zu erfüllen. Knecht aber, der eben noch so weit von seiner »Ernte« entfernt zu sein geglaubt hatte, erhielt ein von der Ordensleitung und Herrn Dubois gezeichnetes Anerkennungsschreiben über die Durchführung seines Auftrags. Was ihm an diesem hochamtlichen Schreiben im Augenblick am wichtigsten schien und die meiste Freude machte (er meldete es beinahe triumphierend in einem Briefchen an Fritz), war ein kurzer Satz des Inhalts, der Orden sei durch den Glasperlenspielmeister über seinen Wunsch, in den Vicus Lusorum zurückzukehren, unterrichtet und durchaus geneigt, diesem Wunsch nach Beendigung seines jetzigen Auftrags zu entsprechen. Er las diese Stelle auch dem Pater Jakobus vor und bekannte ihm, wie sehr er sich über sie freue, bekannte jetzt auch, wie sehr er gefürchtet habe, vielleicht dauernd von Kastalien verbannt zu bleiben und nach Rom geschickt zu werden. Der Pater meinte lachend: »Ja, die Orden haben es in sich, Freund, man lebt lieber in ihrem Schoß als an der Peripherie oder gar im Exil. Sie mögen ruhig das bißchen Politik wieder vergessen, in dessen unlautere Nähe Sie hier geraten sind, denn ein Politiker sind Sie nicht. Aber der Geschichte sollten Sie nicht untreu werden, auch wenn sie vielleicht immer ein Neben- und Liebhaberfach für Sie bleibt. Denn zum Historiker hätten Sie das Zeug. Und jetzt wollen wir beide noch voneinander profitieren, solang ich Sie habe.« Von der Erlaubnis zu häufigeren Besuchen in Waldzell scheint Josef Knecht wenig Gebrauch gemacht zu haben; doch hörte er am Apparat ein Übungsseminar und manche Vorträge und Spiele mit. Und so nahm er auch aus der Ferne, in seinem vornehmen Gastzimmer im Stift sitzend, an jener »Solennität« teil, bei welcher im Festsaal des Vicus Lusorum die Ergebnisse des Preisausschreibens bekanntgegeben wurden. Er hatte eine nicht sehr persönliche und gar nicht revolutionäre, aber gediegene und höchst elegante Arbeit eingereicht, die er einzuschätzen wußte, und war auf eine lobende Erwähnung oder einen dritten oder zweiten Preis gefaßt. Zu seiner Überraschung hörte er nun, daß ihm der erste Preis zugesprochen sei, und noch ehe die Überraschung die Freude in ihm recht hatte aufkommen lassen, las schon der Sprecher des Spielmeisteramtes mit seiner schönen tiefen Stimme weiter und nannte als Träger des zweiten Preises Tegularius. Dies war nun allerdings ein bewegendes und entzückendes Erlebnis, daß sie beide, Hand in Hand, als gekrönte Sieger aus diesem Wettkampf hervorgingen! Er sprang auf, ohne weiter zuzuhören, und lief die Treppe hinab und durch die hallenden Dormente ins Freie. In einem Brief an den Alt-Musikmeister, der in jenen Tagen geschrieben ist, lesen wir: »Ich bin sehr glücklich, Verehrter, wie Du Dir denken kannst. Erst die Durchführung meiner Mission und deren ehrenvolle Anerkennung durch die Ordensleitung samt der mir so wichtigen Aussicht auf baldige Rückkehr in die Heimat, zu den Freunden und zum Glasperlenspiel, statt weiter in diplomatischen Diensten verwendet zu werden, und nun dieser erste Preis für ein Spiel, bei dem ich mir zwar mit dem Formalen Mühe gegeben habe, das aber aus guten Gründen nicht alles erschöpft, was ich zu geben hätte, und zu allem noch die Freude, diesen Erfolg mit meinem Freunde zu teilen – es war in der Tat viel auf einmal. Ich bin glücklich, ja, aber ich könnte nicht sagen, daß ich fröhlich sei. Auf eine karge Zeit hin, oder doch eine, die mir so erschien, kommen diese Erfüllungen für mein innerstes Gefühl etwas zu plötzlich und zu reichlich; meiner Dankbarkeit ist eine gewisse Bangigkeit beigemischt, so, als bedürfe es im randvoll gefüllten Gefäß nur noch eines hinzukommenden Tropfens, um alles wieder fragwürdig zu machen. Aber betrachte dies, bitte, als nicht gesagt, hier ist jedes Wort schon zuviel.« Wir werden sehen, daß das randvoll gefüllte Gefäß bald noch mehr als nur einen Tropfen aufzunehmen bestimmt war. In der kurzen Zeit bis dahin aber lebte Josef Knecht seinem Glück und der ihm beigemischten Bangigkeit mit einer Hingabe und Intensität, als hätte er die nahe bevorstehende große Änderung vorausgefühlt. Auch für den Pater Jakobus waren diese paar Monate eine glückliche und beschwingte Zeit. Es tat ihm leid, diesen Schüler und Kollegen bald verlieren zu sollen, und er suchte ihm, in den Arbeitsstunden selbst und noch mehr in ihren freien Unterhaltungen, das äußerst Mögliche von dem mitzugeben und zu vererben, was er in seinem arbeits- und gedankenreichen Leben an Einsicht in die Höhen und Tiefen des Menschen- und Völkerlebens gewonnen hatte. Auch über den Sinn und die Folgen von Knechts Mission sprach er zuweilen mit ihm, über die Möglichkeit und den Wert einer Befreundung und politischen Einigkeit zwischen Rom und Kastalien, und empfahl ihm das Studium jener Epoche, zu deren Früchten die Gründung des kastalischen Ordens ebenso wie die allmähliche Wiedererhebung Roms aus einer demütigenden Prüfungszeit gehörten. Er empfahl ihm auch zwei Werke über die Reformation und Kirchenspaltung im sechzehnten Jahrhundert, legte ihm jedoch sehr ans Herz, grundsätzlich das unmittelbare Quellenstudium und die jeweilige Beschränkung auf übersehbare Teilgebiete stets dem Lesen weltgeschichtlicher Wälzer vorzuziehen, und machte kein Hehl aus seinem tiefen Mißtrauen gegen alle Geschichtsphilosophien. |
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