"Das Glasperlenspiel" - читать интересную книгу автора (Hesse Hermann)Magister LudiKnecht hatte beschlossen, seine endgültige Rückkehr nach Waldzell auf das Frühjahr zu verlegen, auf die Zeit des großen öffentlichen Glasperlenspiels, des Ludus anniversarius oder sollemnis. War auch der Höhepunkt in der denkwürdigen Geschichte dieser Spiele, die Zeit der wochenlang dauernden, aus aller Welt von Würdenträgern und Repräsentanten besuchten Jahresspiele schon vorüber und gehörte für immer der Geschichte an, so waren doch immer noch diese Frühlingstagungen mit dem meist zehn bis vierzehn Tage dauernden solennen Spiel das große festliche Ereignis des Jahres für ganz Kastalien, ein Fest, dem auch eine hohe religiöse und moralische Bedeutung nicht fehlte, denn es vereinigte die Vertreter aller, nicht immer völlig gleichgerichteter Gesinnungen und Tendenzen der Provinz im Sinn eines Gleichnisses der Harmonie, es schloß Frieden zwischen den Egoismen der einzelnen Disziplinen und weckte die Erinnerung an die Einheit, welche über ihrer Vielfalt stand. Es besaß für die Gläubigen die sakramentale Kraft echter Weihe, war für die Glaubenslosen zumindest ein Religionsersatz und für beide ein Bad in den reinen Quellen des Schönen. In ähnlicher Weise waren einstmals die Passionen von Johann Sebastian Bach – nicht so sehr zur Zeit ihrer Entstehung als in dem auf ihre Wiederentdeckung folgenden Jahrhundert – für ihre Mitwirkenden und Hörer teils echte religiöse Handlung und Weihe, teils Andacht und Religionsersatz und für alle zugleich feierliche Manifestationen der Kunst und des Creator Spiritus gewesen. Es hatte Knecht wenig Mühe gekostet, für seinen Entschluß die Zustimmung sowohl der Klosterleute wie der heimatlichen Behörde zu erlangen. Er vermochte sich noch nicht recht vorzustellen, welcher Art seine Position nach der Wiedereinreihung in die kleine Republik des Vicus Lusorum sein werde, vermutete aber, daß man ihn nicht lange in dieser Position belassen, sondern sehr bald mit irgendeinem Amte oder Auftrag beladen und ehren werde. Vorläufig freute er sich auf die Heimkehr, auf die Freunde, auf die bevorstehende Festzeit, genoß die letzten Tage des Zusammenseins mit Pater Jakobus und nahm es mit guter Haltung und Laune entgegen, daß Abt und Konvent ihn zum Abschiede noch durch manche Kundgebungen ihres Wohlwollens feierten. Dann reiste er, nicht ohne Wehmut des Abschieds von einem liebgewonnenen Ort und von einem hinter ihm zurückbleibenden Lebensabschnitt, aber durch die das Festspiel vorbereitende Folge kontemplativer Exerzitien schon festlich vorgestimmt, denen er sich zwar ohne Führung und Kameraden, aber nach dem Wortlaut der Vorschriften genauestens unterzogen hatte. Daß es ihm nicht gelungen war, den vom Magister Ludi seit langem feierlich zum Jahresspiel eingeladenen Pater Jakobus zur Annahme der Einladung und zur Mitreise zu überreden, tat dieser Stimmung keinen Abbruch, er verstand die reservierte Haltung des alten Antikastaliers, und er selbst fühlte sich so für einen Augenblick allen Pflichten und Beengungen enthoben und völlig hingabebereit an die ihn erwartende Feier. Es ist nun mit Festlichkeiten eine eigene Sache. Ganz und gar mißglücken kann ein echtes Fest, es sei denn durch unseligen Einbruch höherer Gewalten, niemals; für den Frommen behält auch eine verregnete Prozession ihre Weihe, und auch ein verbratenes Festmahl kann ihn nicht ernüchtern, und so ist für die Glasperlenspieler jedes Jahresspiel festlich und gewissermaßen geheiligt. Dennoch gibt es, wie jeder von uns weiß, Feste und Spiele, bei welchen alles und jedes zusammenstimmt und einander hebt, beschwingt und steigert, so wie es theatralische und musikalische Aufführungen gibt, welche sich ohne deutlich erkennbare Ursache wie durch ein Wunder zu Höhepunkten und innigen Erlebnissen steigern, während andre, um nichts schlechter vorbereitete, nur eben brave Leistungen bleiben. Soweit nun das Zustandekommen jener hohen Erlebnisse im Gemütszustände des Erlebenden mitbegründet ist, wäre Josef Knecht aufs denkbar beste vorbereitet gewesen: von keiner Sorge gedrückt, mit Ehren aus der Fremde heimkehrend, sah er dem Kommenden mit freudiger Erwartung entgegen. Es war jedoch dem Ludus sollemnis dieses Mal nicht beschieden, von jenem Hauch des Wunders gestreift zu einem besonderen Grade von Weihe und Strahlung zu gedeihen. Es wurde sogar ein unfrohes, ein ausgesprochen glückloses, ein schon beinahe mißglücktes Spiel. Mochten trotzdem viele seiner Teilnehmer sich erbaut und gehoben fühlen, so spürten, wie immer in solchem Falle, die eigentlichen Träger, Veranstalter und Verantwortlichen desto unerbittlicher jene Atmosphäre von Stumpfheit, Gnadenlosigkeit und Mißerfolg, von Hemmung und Pech, welche den Himmel dieses Festes bedrohte. Knecht, obwohl natürlich auch er es spürte und eine gewisse Enttäuschung seiner hochgespannten Erwartung erlebte, war keineswegs unter denen, welche das Mißgeschick am deutlichsten zu fühlen bekamen: ihm, der bei diesem Spiel kein Mitwirkender war und keine Mitverantwortung trug, war es möglich, in jenen Tagen, obwohl die eigentliche Blüte und Begnadung sich dem Akt versagte, als frommer Teilnehmer dem geistvoll gebauten Spiele anerkennend zu folgen, die Meditationen ungestört ausschwingen zu lassen und in dankbarer Hingabe jenes allen Gästen dieser Spiele wohlbekannte Erlebnis einer Feier und eines Opfers, einer mystischen Einswerdung der Gemeinde zu Füßen des Göttlichen in sich zu vollziehen, wie es auch ein für den engen Kreis der ganz Eingeweihten »mißglückter« Festakt zu geben vermag. Immerhin blieb auch er nicht unberührt von dem Unstern, der über dieser Feier waltete. Das Spiel selbst freilich, sein Plan und Aufbau, war ohne Tadel, wie jedes Spiel des Meisters Thomas, es war sogar eines seiner eindrücklichsten, einfachsten, unmittelbarsten. Seine Ausführung aber stand unter einem besonderen Unstern und ist in der Geschichte Waldzells noch nicht vergessen. Als Knecht dort eintraf, eine Woche vor dem Beginn des großen Spieles, wurde er nach seiner Anmeldung im Spielerdorf nicht vom Glasperlenspielmeister empfangen, sondern von dessen Stellvertreter Bertram, der ihn höflich willkommen hieß, ihm aber ziemlich kurz und zerstreut mitteilte, der ehrwürdige Magister sei dieser Tage erkrankt und er selbst, Bertram, über Knechts Mission nicht genügend unterrichtet, um seinen Bericht entgegenzunehmen, er möge sich dieserhalb zur Ordensleitung nach Hirsland begeben, dort seine Rückkehr melden und deren Befehle erwarten. Als Knecht bei der Verabschiedung in Stimme oder Gebärde unwillkürlich eine gewisse Befremdung über die Kühle und Kürze seines Empfanges verriet, entschuldigte sich Bertram. Der Kollege möge verzeihen, wenn er ihn enttäuscht habe, er möge das Besondere der Situation verstehen: der Magister sei erkrankt, das große Jahresspiel stehe dicht vor der Tür, und noch sei es sehr ungewiß, ob der Magister es werde leiten können oder ob er, der Stellvertreter, für ihn werde einspringen müssen. Die Krankheit des Ehrwürdigen hätte auf keinen ungünstigeren und heikleren Augenblick fallen können; er sei zwar, wie jederzeit, in Bereitschaft, die Amtsgeschäfte statt des Magisters zu versehen, aber dazu noch innerhalb so kurzer Frist sich genügend auf das große Spiel vorzubereiten und dessen Leitung zu übernehmen, das würde, so fürchte er, doch über seine Kräfte gehen. Knecht bedauerte den sichtlich niedergeschlagenen und etwas aus dem Gleichgewicht gekommenen Mann und bedauerte nicht minder, daß in dessen Händen nun vielleicht die Verantwortung für das Fest liegen solle. Er war zu lange von Waldzell fort gewesen, um zu wissen, wie begründet die Sorgen Bertrams seien, denn dieser war, was für einen Stellvertreter immer das denkbar Mißlichste ist, seit einer Weile des Vertrauens der Elite, der sogenannten Repetenten, verlustig und hatte in der Tat einen sehr schweren Stand. Mit Sorge dachte Knecht des Glasperlenspielmeisters, dieses Helden der klassischen Form und der Ironie, des vollkommenen Magisters und Kastaliers; er hatte sich darauf gefreut, von ihm empfangen, angehört und wieder in das kleine Gemeinwesen der Spieler, vielleicht auf einen Vertrauensposten, eingereiht zu werden. Von Meister Thomas das Festspiel zelebriert zu sehen, unter seinen Augen weiter zu arbeiten und um seine Anerkennung zu werben, war sein Wunsch gewesen; nun war es ihm schmerzlich und enttäuschend, ihn hinter seiner Krankheit verborgen und sich an andere Instanzen gewiesen zu finden. Es entschädigte ihn dafür allerdings das achtungsvolle Wohlwollen, ja die Kollegialität, mit der ihn der Ordenssekretär und Herr Dubois empfingen und anhörten. Er konnte auch gleich bei der ersten Aussprache feststellen, daß man ihn bei dem römischen Plan vorerst nicht weiter zu brauchen gedenke und seinen Wunsch nach dauernder Rückkehr zum Spiel respektiere; vorerst lud man ihn freundlich ein, im Gästehaus des Vicus Lusorum Wohnung zu nehmen und erst einmal sich hier wieder umzusehen und dem Jahresspiel beizuwohnen. Mit seinem Freunde Tegularius widmete er die Vortage den Fasten- und Versenkungsübungen und hat jenes eigenartige Spiel, das manchen in so wenig erfreulicher Erinnerung geblieben ist, fromm und dankbar mitgemacht. Die Stellung der Magisterstellvertreter, auch »Schatten« genannt, und besonders die beim Musik- und beim Spielmeisteramt, ist eine höchst eigentümliche. Jeder der Magister hat einen Stellvertreter, den ihm nicht etwa die Behörde zur Seite stellt, sondern den er selbst aus dem engeren Kreis seiner Kandidaten wählt und für dessen Handlungen und Unterschrift der Meister selbst, den er vertritt, die volle Verantwortung trägt. Es ist also für einen Kandidaten eine große Auszeichnung und ein Zeichen höchsten Vertrauens, wenn er von seinem Magister zum Stellvertreter ernannt wird, er wird dadurch als intimer Mitarbeiter und rechte Hand des allmächtigen Magisters anerkannt und übt jedesmal, wenn der Magister verhindert ist und ihn schickt, dessen Amtshandlungen aus, allerdings nicht alle: an Abstimmungen der obersten Behörde zum Beispiel darf er nur als Überbringer eines Ja oder Nein im Namen seines Meisters auftreten, niemals als Redner oder Antragsteller, und was dergleichen Vorsichtsmaßregeln mehr sind. Während nun die Ernennung zum Stellvertreter diesen an einen sehr hohen und zuweilen recht exponierten Platz stellt, bedeutet sie dennoch zugleich etwas wie eine Kaltstellung, sie sondert ihn innerhalb der amtlichen Hierarchie gewissermaßen als einen Ausnahmefall ab, und während sie ihm häufig die wichtigsten Funktionen anvertraut und hohe Ehre gewährt, nimmt sie ihm doch gewisse Rechte und Möglichkeiten, deren jeder andere Mitstrebende genießt. Namentlich sind es zwei Punkte, in welchen seine Ausnahmestellung deutlich erkennbar wird: der Stellvertreter trägt nicht die Verantwortung für seine Amtshandlungen, und er kann innerhalb der Hierarchie nicht weiter emporsteigen. Das Gesetz ist zwar ungeschrieben, aber es ist aus der Geschichte Kastaliens zu lesen: niemals ist beim Tode oder der Amtsniederlegung eines Magisters dessen »Schatten« an seine Stelle nachgerückt, der ihn doch so oft vertreten hat und dessen ganze Existenz ihn zum Nachfolger zu prädestinieren scheint. Es ist, als wolle die Sitte hier eine scheinbar fließende und bewegliche Grenze und Schranke geflissentlich als unüberbrückbar betonen: die Grenze zwischen Magister und Stellvertreter steht wie ein Gleichnis für die Grenze zwischen Amt und Person. Indem denn also ein Kastalier den hohen Vertrauensposten eines Stellvertreters annimmt, verzichtet er auf die Aussicht, jemals selbst Magister zu werden, jemals mit den Amtskleidern und Insignien, die er so oft repräsentierend trägt, wirklich eins zu werden, und zugleich tritt er das merkwürdig zweideutige Recht an, mit etwaigen Verfehlungen in seiner Amtsführung nicht sich selber, sondern seinen Magister zu belasten, der allein für ihn einzustehen hat. Und es ist in der Tat schon vorgekommen, daß ein Magister das Opfer des von ihm gewählten Stellvertreters geworden ist und einer gröberen Verfehlung wegen, die der andere sich zuschulden kommen ließ, von seinem Amte hat zurücktreten müssen. Der Ausdruck, mit welchem in Waldzell der Stellvertreter des Glasperlenspielmeisters bezeichnet wurde, wird dessen eigentümlicher Stellung, seiner Verbundenheit, ja quasi Identität mit dem Magister sowohl wie dem Scheinhaften und Wesenlosen seiner amtlichen Existenz vorzüglich gerecht. Man nennt ihn dort den »Schatten.« Meister Thomas von der Trave nun hatte seit Jahr und Tag einen »Schatten« namens Bertram walten lassen, dem es mehr an Glück als an Begabung oder gutem Willen gemangelt zu haben scheint. Er war ein vorzüglicher Glasperlenspieler, wie es sich von selbst versteht, er war auch ein mindestens nicht ungeschickter Lehrer und ein gewissenhafter Beamter, seinem Meister unbedingt ergeben; dennoch war er im Lauf der letzten Jahre bei den Beamten eher unbeliebt geworden und hatte die nachwachsende jüngste Schicht der Elite gegen sich, und da er nicht die ritterlich klare Natur seines Meisters besaß, störte das die Sicherheit und Ruhe seiner Haltung. Der Magister ließ ihn nicht fallen, hatte ihn aber seit Jahren den Reibungen mit jener Elite möglichst entzogen, ihn überhaupt immer seltener an die Öffentlichkeit gestellt und mehr in den Kanzleien und im Archiv verwendet. Dieser unbescholtene, aber nicht oder doch zur Zeit nicht mehr beliebte Mann, vom Glück sichtlich nicht begünstigt, sah sich nun plötzlich durch die Krankheit seines Meisters an die Spitze des Vicus Lusorum und, falls er wirklich das Jahresspiel zu leiten haben würde, für die Festzeit an den sichtbarsten Posten der ganzen Provinz gestellt und wäre dieser großen Aufgabe nur dann gewachsen gewesen, wenn die Mehrzahl der Glasperlenspieler oder doch die Repetentenschaft ihn durch ihr Vertrauen gestützt hätte, was jedoch bedauerlicherweise nicht geschah. So kam es denn, daß das Ludus sollemnis diesmal zu einer schweren Prüfung, beinahe zu einer Katastrophe für Waldzell wurde. Erst am Tage vor Spielbeginn wurde amtlich bekanntgegeben, daß der Magister ernstlich erkrankt und außerstande sei, das Spiel zu leiten. Wir wissen nicht, ob diese Hintanhaltung der Mitteilung etwa vom Willen des kranken Magisters diktiert war, der vielleicht bis zum letzten Augenblick hoffte, sich wieder aufraffen und dem Spiele doch noch vorstehen zu können. Wahrscheinlich ist, daß er schon zu krank war, um solche Gedanken zu hegen, und daß sein »Schatten« den Fehler beging, Kastalien bis zur vorletzten Stunde im Ungewissen über die Lage in Waldzell zu lassen. Freilich ließe sich auch darüber noch streiten, ob dies Zögern wirklich ein Fehler war. Es geschah ohne Zweifel in guter Absicht, nämlich um das Fest nicht von vornherein zu mißkreditieren und die Verehrer des Meisters Thomas vom Besuch abzuschrecken. Und wäre alles gut gegangen, hätte zwischen der Waldzeller Spielergemeinde und Bertram das Vertrauen bestanden, so hätte – es ist sehr wohl denkbar – der »Schatten« wirklich zum Stellvertreter werden und das Fehlen des Magisters nahezu unbemerkt bleiben können. Es ist müßig, weitere Vermutungen hierüber aufzustellen; wir glaubten nur andeuten zu müssen, daß jener Bertram nicht so unbedingt ein Versager oder gar ein Unwürdiger war, wie die öffentliche Meinung Waldzells damals ihn sah. Er war weit mehr Opfer als Schuldiger. Es vollzog sich nun wie alljährlich der Zustrom der Gäste zum großen Spiel. Viele kamen ahnungslos, andre mit Besorgnis um das Ergehen des Magister Ludi und mit unfrohen Vorgefühlen für den Verlauf des Festes. Waldzell und die nahen Siedlungen füllten sich mit Menschen, die Ordensleitung und die Erziehungsbehörde fanden sich beinahe vollzählig ein, auch aus entlegenem Teilen des Landes und dem Auslande kamen festlich gestimmte Reisende, die Gästehäuser überfüllend. Wie immer wurde die Feier am Abend vor Spielbeginn durch die Meditationsstunde eröffnet, während welcher vom Glockenzeichen an das ganze mit Menschen gefüllte Festgebiet in ein tiefes, andächtiges Schweigen versank. Der folgende Morgen brachte die erste der musikalischen Aufführungen und die Verkündigung des ersten Spielsatzes sowie die Meditation über die beiden musikalischen Themata dieses Satzes. Bertram, in der Festtracht des Glasperlenspielmeisters, zeigte ein gemessenes und beherrschtes Auftreten, nur war er sehr blaß und erschien in der Folge von Tag zu Tag mehr überanstrengt, leidend und resigniert, in den letzten Tagen glich er wirklich einem Schatten. Schon am zweiten Spieltage verbreitete sich das Gerücht, Magister Thomas« Befinden habe sich verschlechtert, und sein Leben sei in Gefahr, und am Abend dieses Tages vernahm man da und dort und überall unter den Eingeweihteren die ersten Beiträge zu der allmählich entstehenden Legende um den kranken Meister und seinen »Schatten.« Diese Legende, vom innersten Kreis des Vicus Lusorum, der Repetentenschaft ausgehend, wollte wissen, der Meister sei willens und wäre auch fähig gewesen, als Spielleiter zu amtieren, habe jedoch dem Ehrgeiz seines »Schattens« das Opfer gebracht und diesem die festliche Aufgabe überlassen. Nun aber, da Bertram seiner hohen Rolle eben doch nicht ganz gewachsen scheine und das Spiel zu einer Enttäuschung zu werden drohe, wisse der kranke Mann sich für das Spiel, für seinen »Schatten« und dessen Versagen verantwortlich und habe es auf sich genommen, an dessen Stelle selbst für den Fehler zu büßen; dies und nichts andres sei die Ursache der raschen Verschlimmerung seines Befindens und der Steigerung des Fiebers. Natürlich war dies nicht die einzige Lesart der Legende, doch war es die der Elite, und zeigte deutlich, daß die Elite, der strebsame Nachwuchs, die Situation als tragisch empfand und kein Abbiegen, Aufhellen oder Beschönigen dieser Tragik zu unterstützen gewillt war. Der Verehrung gegen den Meister hielt die Abneigung gegen seinen »Schatten« die Waage, diesem wurden Mißerfolg und Sturz gewünscht, sollte selbst der Meister mitbüßen müssen. Wieder einen Tag später konnte man erzählen hören, der Magister habe vom Krankenlager aus seinen Stellvertreter sowie zwei Senioren der Elite beschworen, Frieden zu halten und das Fest nicht zu gefährden; andern Tages wurde behauptet, er habe seinen letzten Willen diktiert und der Behörde den Mann namhaft gemacht, den er sich zum Nachfolger wünsche; es wurden auch Namen genannt. Zusammen mit den Nachrichten von dem sich stets verschlimmernden Befinden des Magisters zirkulierten diese und andere Gerüchte, und im Festsaal sowohl wie in den Gästehäusern sank die Stimmung von Tag zu Tag, wenn auch niemand sich so weit gehen ließ, auf die Fortführung zu verzichten und abzureisen. Es lag ein schwerer und finsterer Druck über der ganzen Veranstaltung, deren äußerer Ablauf sich dennoch in korrekter Form vollzog, aber von der Freude und Gehobenheit, die man bei diesem Feste kannte und erwartete, war wenig zu spüren, und als am vorletzten Spieltage der Schöpfer des Festspieles, Magister Thomas, die Augen für immer schloß, gelang es den Bemühungen der Behörde nicht, die Verbreitung der Nachricht zu unterdrücken, und merkwürdigerweise empfanden manche Teilnehmer diese Lösung des Knotens als befreiend. Die Spielschüler und namentlich die Elite, obwohl sie vor dem Ende des Ludus sollemnis weder Trauer anlegen noch den in diesen Tagen so streng vorgeschriebenen Ablauf der Stunden mit ihrem Wechsel von Vorführungen und Versenkungsübungen im geringsten unterbrechen durften, begingen den letzten Festakt und Festtag einmütig in einer Haltung und Stimmung, als wäre er eine Trauerfeier für den verehrten Toten, und ließen um den übermüdeten, schlaflosen, bleich und mit halbgeschlossenen Augen weiter amtierenden Bertram eine eisige Atmosphäre der Vereinsamung entstehen. Josef Knecht, obwohl durch Tegularius noch in lebendiger Fühlung mit der Elite und als alter Spieler für alle diese Strömungen und Stimmungen voll empfänglich, ließ sie dennoch nicht in sich eindringen, vom vierten oder fünften Tage an verbot er seinem Freunde Fritz sogar, ihn mit Nachrichten über des Magisters Krankheit zu behelligen; er empfand und verstand zwar die tragische Beschattung des Festes wohl, er gedachte des Meisters mit tiefer Besorgnis und Trauer und des wie zum Mitsterben verurteilten »Schattens« Bertram mit wachsendem Unbehagen und Mitleid, wehrte sich aber standhaft und hart gegen alle Beeinflussungen durch echte oder legendäre Nachrichten, übte strengste Konzentration, gab sich den Übungen und dem Gange des schön gebauten Spieles willig hin und erlebte denn trotz allen Unstimmigkeiten und Verdunkelungen das Fest in ernster Gehobenheit. Dem »Schatten« Bertram blieb es erspart, als Vizemagister am Ende auch noch die Gratulanten und die Behörden wie üblich empfangen zu müssen, auch der herkömmliche Freudentag der Studierenden des Glasperlenspiels fiel diesmal dahin. Unmittelbar nach dem musikalischen Schlußakt des Festes gab die Behörde den Tod des Magisters bekannt, und es begannen im Vicus Lusorum die Trauertage, welche auch der im Gästehaus wohnende Josef Knecht mitbeging. Das Begräbnis des verdienten Mannes, der noch heute in hohem Ansehen steht, wurde mit der in Kastalien üblichen Einfachheit begangen. Bertram, sein »Schatten,« der seine schwere Rolle während des Festes mit Aufgebot seiner letzten Kräfte zu Ende gespielt hatte, begriff seine Lage. Er bat um Urlaub und wanderte ins Gebirge. Im Spielerdorf, ja in ganz Waldzell herrschte Trauer. Vielleicht hatte niemand zum verstorbenen Magister intime, betont freundschaftliche Beziehungen gehabt, aber die Überlegenheit und Lauterkeit seines vornehmen Wesens zusammen mit seiner Klugheit und seinem zart ausgebildeten Sinn für Formen hatten ihn zu einem Regenten und Repräsentanten gemacht, wie ihn das im Grunde ganz demokratisch angelegte Kastalien nicht zu allen Zeiten hervorbrachte. Man war stolz auf ihn gewesen. Schien seine Person den Bezirken der Leidenschaft, der Liebe, der Freundschaft entrückt, so war sie ein desto geeigneterer Gegenstand für das Verehrungsbedürfnis der Heranwachsenden gewesen, und diese Würde und fürstliche Grazie, die ihm übrigens den halb zärtlich gemeinten Spottnamen »die Exzellenz« eingetragen, hatte ihm trotz harter Widerstände im Lauf der Jahre auch im hohen Rat, in den Sitzungen und gemeinsamen Arbeiten der Erziehungsbehörde eine etwas gesonderte Stellung gegeben. Die Frage der Wiederbesetzung seines hohen Amtes wurde natürlich eifrig besprochen, nirgends eifriger als in der Elite der Glasperlenspieler. Die Funktionen des Magisteramtes waren nach dem Ausscheiden und der Abreise des »Schattens,« dessen Sturz man in diesem Kreise gewollt und erreicht hatte, von der Elite selbst durch Abstimmung an drei provisorische Vertreter verteilt worden, das heißt natürlich nur die internen Funktionen im Vicus Lusorum, nicht die behördlichen im Erziehungsrat. Dem Herkommen gemäß würde dieser das Magistrat nicht länger als drei Wochen unbesetzt lassen. In Fällen, wo ein sterbender oder ausscheidender Magister einen dezidierten, konkurrenzlosen Nachfolger hinterließ, war das Amt sogar sofort, nach nur einer einzigen Vollsitzung der Behörde, neu besetzt worden. Diesmal würde es wohl länger dauern. Während der Trauertage sprach Josef Knecht mit seinem Freunde gelegentlich über das beendete Spiel und seinen so merkwürdig verdüsterten Verlauf. »Dieser Stellvertreter Bertram,« sagte Knecht, »hat seine Rolle nicht nur leidlich zu Ende geführt, das heißt einen wirklichen Magister bis zuletzt zu spielen versucht, sondern hat meines Erachtens weit mehr getan, er hat sich diesem Ludus sollemnis als seiner letzten und feierlichsten Amtshandlung zum Opfer gebracht. Ihr wäret hart, nein, grausam gegen ihn, ihr hättet das Fest und hättet Bertram retten können und habet es nicht getan, ich erlaube mir kein Urteil darüber, ihr werdet Gründe gehabt haben. Jetzt aber, wo dieser arme Bertram ausgeschieden ist und ihr euren Willen durchgesetzt habet, solltet ihr großmütig sein. Ihr müsset ihm, wenn er wieder erscheint, entgegenkommen und zeigen, daß ihr sein Opfer verstanden habt.« Tegularius schüttelte den Kopf. »Wir haben es verstanden,« sagte er, »und haben es angenommen. Du warst so glücklich, das Spiel diesmal als Gast und parteilos mitmachen zu dürfen, darum hast du wohl den Vorgang nicht so genau verfolgt. Nein, Josef, wir werden keine Gelegenheit mehr haben, irgendwelche Gefühle für Bertram in die Tat umzusetzen. Er weiß, daß sein Opfer notwendig war, und wird nicht versuchen, es rückgängig zu machen.« Erst jetzt verstand Knecht ihn ganz und verstummte betrübt. Er hatte, so sah er, in der Tat diese Spieltage nicht als ein richtiger Waldzeller und Kamerad miterlebt, sondern wirklich mehr wie ein Gast, und so begriff er erst jetzt, wie es eigentlich mit Bertrams Opfer beschaffen sei. Bisher war ihm Bertram als ein Ehrgeiziger erschienen, der einer über sein Vermögen gehenden Aufgabe erlegen war, der auf weitere Ziele des Ehrgeizes verzichten und zu vergessen suchen mußte, daß er einmal der »Schatten« eines Meisters und der Leiter eines Jahresspiels gewesen war. Jetzt erst, bei seines Freundes letzten Worten, hatte er – und war dabei jäh verstummt – begriffen, daß Bertram von seinen Richtern völlig verurteilt worden war und nicht zurückkehren würde. Man hatte ihm erlaubt, das Festspiel zu Ende zu führen, und hatte dabei gerade so viel mitgeholfen, daß es ohne Skandal ablief, aber man hatte das nicht getan, um Bertram, sondern um Waldzell zu schonen. Die Stellung eines »Schattens« verlangte nun einmal nicht nur das volle Vertrauen des Magisters – daran hatte es Bertram nicht gefehlt –, sondern nicht minder das Vertrauen der Elite, und dies hatte sich der Bedauernswerte nicht zu erhalten vermocht. Beging er einen Fehler, so stand hinter ihm nicht, wie hinter seinem Herrn und Vorbild, die Hierarchie, um ihn zu schützen. Und wurde er von seinen ehemaligen Kameraden nicht für voll anerkannt, so stand keine Autorität ihm bei, und seine Kameraden, die Repetenten, wurden zu seinen Richtern. Waren sie unerbittlich, so war der »Schatten« erledigt. Und wirklich kehrte dieser Bertram von seinem Ausflug in die Berge nicht mehr zurück, und nach einer Weile wurde erzählt, er sei an einer Steilwand zu Tode gestürzt. Weiter wurde nicht darüber gesprochen. Unterdessen erschienen jeden Tag hohe und höchste Beamte der Ordensleitung und der Erziehungsbehörde im Spielerdorf, und jeden Augenblick wurden einzelne aus der Elite wie aus der Beamtenschaft zu Befragungen abgerufen, über deren Inhalt nur innerhalb der Elite selbst dieses und jenes verlautete. Auch Josef Knecht wurde des öftern abgerufen und befragt; einmal von zwei Herren der Ordensleitung, einmal vom philologischen Magister, dann von Monsieur Dubois, und nochmals von zwei Magistern. Tegularius, welcher ebenfalls zu einigen solchen Informationen berufen wurde, war angenehm aufgeregt und machte Witze über diese Konklavestimmung, wie er sie nannte. Josef hatte schon während der Spieltage wohl bemerkt, wie wenig von seinem einstigen engen Zusammenhang mit der Elite übriggeblieben war, und bekam es während dieser Konklavezeit noch deutlicher zu fühlen. Nicht nur, daß er im Gästehaus wohnte wie ein Fremder und daß die Oberen mit ihm wie mit ihresgleichen zu verkehren schienen; die Elite selbst, die Repetentenschaft, nahm ihn nicht wieder vertraulich und kameradschaftlich auf, sondern mit einer spöttischen Höflichkeit oder zumindest mit einer abwartenden Kühle; sie war schon damals von ihm abgerückt, als er den Ruf nach Mariafels erhalten hatte, und dies war richtig und natürlich: wer den Schritt von der Freiheit in den Dienst, von der Studenten- oder Repetentenschaft in die Hierarchie einmal getan hatte, war nicht mehr Kamerad, sondern auf dem Wege zum Vorgesetzten und Bonzen, er gehörte nicht mehr der Elite an und mußte wissen, daß diese vorläufig kritisch zu ihm stehen werde. So ging es jedem in seiner Lage. Nur spürte er die Distanzierung und Kühle um diese Zeit besonders stark, einmal weil die Elite jetzt, wo sie verwaist war und einen neuen Magister erhalten sollte, sich doppelt dicht und abwehrend zusammenschloß, und dann auch, weil ihre Entschlossenheit und Unnachgiebigkeit sich soeben im Schicksal des »Schattens« Bertram so hart gezeigt hatte. Eines Abends kam Tegularius höchst aufgeregt ins Gästehaus gelaufen, suchte Josef, zog ihn in eine leere Kammer, schloß die Tür und sprudelte los: »Josef! Josef! Mein Gott, ich hätte es doch ahnen können, ich hätte es wissen müssen, es lag ja gar nicht so fern … Ach, ich bin ganz außer mir und weiß wahrhaftig nicht, ob ich mich freuen soll.« Und er, der alle Nachrichtenquellen im Spielerdorf genauestens kannte, berichtete eifrig: es sei mehr als wahrscheinlich, es sei schon so gut wie gewiß, daß Josef Knecht zum Glasperlenspielmeister gewählt werden würde. Der Archivleiter, den viele für den prädestinierten Nachfolger des Meisters Thomas gehalten hatten, sei schon seit vorgestern offenkundig aus der engern Wahl ausgeschieden, und von den drei Kandidaten aus der Elite, deren Namen bisher in den Befragungen obenan standen, habe anscheinend keiner die spezielle Gunst und Empfehlung eines Magisters oder der Ordensleitung hinter sich stehen, während für Knecht sowohl zwei Mitglieder der Ordensleitung wie Herr Dubois einträten, und hinzu käme die gewichtige Stimme des Alt-Musikmeisters, der dieser Tage, wie man bestimmt wisse, von mehreren Magistern persönlich aufgesucht worden sei. »Josef, sie machen dich zum Magister,« stieß er nochmals heftig hervor, da legte sein Freund ihm die Hand auf den Mund. Josef war im ersten Augenblick von der Vermutung kaum weniger überrascht und ergriffen als Fritz, und sie hatte ihm ganz und gar unmöglich geschienen, aber schon während jener die Spielerdorfmeinungen über den Stand und Verlauf des »Konklave« mitteilte, begann Knecht einzusehen, daß die Vermutung des Freundes nicht fehlgehe. Vielmehr, er spürte etwas wie ein Ja in seiner Seele, etwas wie die Empfindung, er habe es ja gewußt und erwartet, es sei ja richtig und natürlich. Nun also legte er dem erregten Kameraden die Hand auf den Mund, sah ihn fremd und verweisend, wie aus einer plötzlich vorhandenen Distanz und Ferne an und sagte: »Sprich nicht soviel, Amice; ich will diesen Klatsch nicht wissen. Geh zu deinen Kameraden.« Tegularius, soviel er noch hätte sagen mögen, verstummte vor diesem Blick, aus dem ein neuer, ihm noch nicht bekannter Mensch ihn ansah, sofort, erbleichte und ging hinaus. Später hat er erzählt, Knechts merkwürdige Ruhe und Kälte in diesem Augenblick habe er zuerst wie einen Schlag und eine Beleidigung, wie eine Ohrfeige empfunden, einen Verrat an ihrer alten Freundschaft und Vertrautheit, ein kaum begreifliches Überbetonen und Vorwegnehmen seiner demnächstigen Stellung als höchster Vorgesetzter. Erst im Weggehen – und er ging wirklich wie ein Geschlagener weg – sei der Sinn dieses unvergeßlichen Blickes ihm aufgegangen, dieses fernen, königlichen, aber nicht minder leidenden Blickes, und er habe begriffen, daß sein Freund das ihm Zugefallene nicht stolz, sondern in Demut angenommen habe. Er habe, erzählte er, an den nachdenklichen Blick Josef Knechts und den Ton tiefen Mitgefühls in seiner Stimme denken müssen, mit dem er vor kurzem sich über Bertram und dessen Opfer erkundigt hatte. Wie wenn er selbst im Begriff wäre, gleich jenem »Schatten« sich zu opfern und auszulöschen, so stolz und demütig zugleich, so erhaben und ergeben, so einsam und schicksalbereit sei jenes Gesicht gewesen, mit dem ihn sein Freund angeblickt, als sei es ein Monument aller je gewesenen Magister Kastaliens. »Geh zu deinen Kameraden,« hatte er zu ihm gesagt. Also schon in der Sekunde, da er von seiner neuen Würde zum erstenmal erfuhr, war dieser nie zu Kennende eingeordnet und sah die Welt vom neuen Mittelpunkte aus, war kein Kamerad mehr, würde es nie mehr sein. Knecht hätte seine Ernennung, diese letzte und höchste seiner Berufungen, recht wohl auch selbst erraten oder mindestens als möglich, vielleicht als wahrscheinlich erkennen können; doch überraschte, ja erschreckte sie ihn auch diesmal. Er hätte es sich denken können, sagte er sich nachträglich, und lächelte über den eifrigen Tegularius, der die Ernennung zwar auch nicht von Anfang an erwartet, doch immerhin mehrere Tage vor der Entscheidung und Bekanntgebung, errechnet und vorausgesagt hatte. Es sprach in der Tat nichts gegen eine Wahl Josefs in die oberste Behörde, außer etwa seine Jugend; die meisten seiner Kollegen hatten ihr hohes Amt im Alter von mindestens fünfundvierzig bis fünfzig Jahren angetreten, während Josef noch kaum vierzig war. Ein Gesetz jedoch, das eine so frühe Ernennung verboten hätte, existierte nicht. Als nun Fritz seinen Freund mit dem Ergebnis seiner Beobachtungen und Kombinationen überraschte, Beobachtungen eines gewiegten Elitespielers, der den komplizierten Apparat des kleinen Waldzeller Gemeinwesens bis ins kleinste kannte, hatte Knecht sofort eingesehen, daß jener recht habe, hatte sofort seine Wahl, sein Schicksal begriffen und angenommen, seine erste Reaktion auf die Nachricht aber hatte darin bestanden, daß er der Freund wegwies mit den Worten, er wolle »von diesem Klatsch nichts wissen.« Kaum war nun der andre, betroffen und nahezu beleidigt, weggegangen, so suchte Josef eine Meditationsstätte auf, um sich zu ordnen, und seine Betrachtung ging von einem Erinnerungsbilde aus, das ihn in dieser Stunde mit ungewöhnlicher Stärke überfallen hatte. Er sah in dieser Vision eine kahle Kammer und ein Klavier darin stehen, durchs Fenster schien ein kühl-heiteres Vormittagslicht, und in der Kammertür erschien ein schöner freundlicher Mann, ein ältlicher Mann mit ergrautem Haar und einem lichten Gesicht voll Güte und voll Würde; er selbst aber, Josef, war ein kleiner Lateinschüler, der in der Kammer halb ängstlich, halb beglückt auf den Musikmeister gewartet hatte und ihn jetzt zum ersten Male sah, den Ehrwürdigen, den Meister aus der sagenhaften Provinz der Eliteschulen und der Magister, der gekommen war, um ihm zu zeigen, was Musik sei, der ihn alsdann Schritt für Schritt in seine Provinz, in sein Reich, in die Elite und in den Orden eingeführt und aufgenommen hatte und dessen Kollege und Bruder er nun geworden war, während der Alte seinen Zauberstab, oder sein Szepter, weggelegt und sich in einen freundlich schweigsamen, noch immer gütigen, noch immer ehrwürdigen, noch immer geheimnisvollen Greis verwandelt hatte, dessen Blick und Vorbild über Josefs Leben lag und der ihm immer um ein Menschenalter und einige Lebensstufen und um ein Unmeßbares an Würde und zugleich an Bescheidenheit, an Meisterschaft und an Geheimnis überlegen sein, ihn aber immer, sein Patron und Vorbild, sanft zur Nachfolge zwingen würde, wie ein auf- und untergehendes Gestirn seine Brüder nach sich zieht. Solange sich Knecht absichtslos dem Zustrom der inneren Bilder überließ, wie sie sich, den Träumen wesensverwandt, im Zustand der ersten Entspannung einfinden, waren es vor allem zwei Vorstellungen, die aus dem Geströme traten und länger verweilten, zwei Bilder oder Sinnbilder, zwei Gleichnisse. In dem einen folgte Knecht, ein Knabe, auf mancherlei Gängen dem vorangehenden Meister nach, welcher als Führer vor ihm schritt und mit jedem Male, wo er sich umwandte und sein Gesicht zeigte, älter, stiller und ehrwürdiger wurde, zusehends einem Idealbild zeitloser Weisheit und Würde sich annähernd, während er, Josef Knecht, hingegeben und gehorsam hinter dem Vorbilde her schritt, aber immer derselbe Knabe blieb, worüber er abwechselnd bald Beschämung, bald aber auch eine gewisse Freude, ja beinahe etwas wie trotzige Genugtuung empfand. Und das zweite Bild war dieses: die Szene im Klavierzimmer, das Hereintreten des Alten zu dem Knaben, wiederholte sich immerzu, unendliche Male, der Meister und der Knabe folgten einander, wie am Draht eines Mechanismus gezogen, so daß es bald nicht mehr zu erkennen war, wer komme und wer gehe, wer führe und wer folge, der Alte oder der Junge. Bald schien es der Junge zu sein, welcher dem Alter, der Autorität und Würde Ehre und Gehorsam erwies; bald war es anscheinend der Alte, welchen die ihm leicht voraneilende Figur der Jugend, des Anfangs, der Heiterkeit zur dienenden oder adorierenden Nachfolge verpflichtete. Und während er diesem unsinnig-sinnvollen Traum-Rundlauf zusah, war in seinem eigenen Gefühl der Träumende bald mit dem Alten, bald mit dem Knaben identisch, war bald Verehrer, bald Verehrter, bald Führer, bald Gehorchender, und im Verlaufe dieses schwebenden Wechsels kam ein Augenblick, da war er beide, war zugleich Meister und Schülerlein, ja er stand vielmehr über beiden, war der Veranstalter, Ersinner, Lenker und Zuschauer des Kreislaufs, des ergebnislos in der Runde spielenden Wettlaufes von alt und jung, den er mit wechselnden Empfindungen bald verlangsamte, bald zur höchsten Eile antrieb. Und aus diesem Stadium entwickelte sich eine neue Vorstellung, mehr schon Symbol als Traum, mehr schon Erkenntnis als Bild, nämlich die Vorstellung oder vielmehr Erkenntnis: dieser sinnvoll-sinnlose Rundlauf von Meister und Schüler, dieses Werben der Weisheit um die Jugend, der Jugend um die Weisheit, dieses endlose, beschwingte Spiel war das Symbol Kastaliens, ja war das Spiel des Lebens überhaupt, das in alt und jung, in Tag und Nacht, in Yang und Yin gespalten ohne Ende strömt. Von hier aus dann fand der Meditierende den Weg aus der Bilderwelt in die Ruhe und kehrte nach lange dauernder Versenkung gestärkt und heiter zurück. Als einige Tage später die Ordensleitung ihn zu sich befahl, ging er getrost und nahm die brüderliche Begrüßung der Obersten durch Handschlag und angedeutete Umarmung gefaßt mit heiterem Ernst entgegen. Es wurde ihm seine Ernennung zum Glasperlenspielmeister mitgeteilt und er zur Investitur und Vereidigung auf den übernächsten Tag in die Festspielhalle befohlen, dieselbe Halle, in welcher vor kurzem noch der Stellvertreter des entschlafenen Meisters jene beklemmende Feier absolviert hatte wie ein goldgeschmücktes Opfertier. Der freigelassene Tag vor der Investitur war einem genauen und von rituellen Meditationen begleiteten Studium der Eidesformel und der »kleinen Magisterordnung« unter Anleitung und Aufsicht zweier Obern bestimmt, diesmal waren es der Ordenskanzler und der Magister Mathematicae, und in der mittäglichen Ruhepause dieses sehr anstrengenden Tages erinnerte Josef sich lebhaft seiner Aufnahme in den Orden und der vorangehenden Einführung durch den Musikmeister. Diesmal freilich führte der Aufnahmeritus ihn nicht, wie jährlich Hunderte, durch ein weites Tor in eine große Gemeinde ein, es ging durchs Nadelöhr in den höchsten und engsten Kreis, den der Meister. Dem Alt-Musikmeister gestand er später, es habe ihm an jenem Tage intensiver Selbstprüfung ein Gedanke Mühe gemacht, ein ganz lächerlicher kleiner Einfall; er habe sich nämlich vor dem Augenblick gefürchtet, wo ihm von einem der Meister bedeutet werden würde, wie ungewöhnlich jung er der höchsten Würde teilhaftig werde. Er habe ernstlich mit dieser Furcht, diesem kindisch eitlen Gedanken zu kämpfen gehabt, und mit der Lust, falls eine Anspielung auf sein Alter fallen sollte, zu erwidern: »So laßt mich doch ruhig älter werden, ich habe ja nach dieser Erhöhung nie gestrebt.« Die weitere Selbstprüfung aber habe ihm gezeigt, daß ihm unbewußt der Gedanke an seine Ernennung und der Wunsch nach ihr doch nicht so ganz fern könne gelegen haben; er habe sich dies eingestanden, habe die Eitelkeit seines Gedankens erkannt und abgetan, und es sei in der Tat weder an jenem Tage noch jemals später von den Kollegen an sein Alter erinnert worden. Desto eifriger allerdings wurde die Wahl des neuen Meisters unter denen besprochen und kritisiert, deren Mitstrebender Knecht bis dahin gewesen war. Er hatte keine ausgesprochenen Gegner, wohl aber Konkurrenten und unter ihnen einige, die ihm an Alter voraus waren, und in diesem Kreise war man durchaus nicht gesonnen, die Wahl anders zu billigen als nach einem Kampf und einer Bewährung, zumindest aber nach einer höchst genauen und kritischen Betrachtung. Beinahe in jedem Falle ist der Amtsantritt und die erste Amtszeit eines neuen Magisters ein Gang durchs Fegefeuer. Die Investitur eines Meisters ist keine öffentliche Feier, außer der obersten Erziehungsbehörde und der Ordensleitung nimmt an ihr nur der ältere Teil der Schülerschaft, die Kandidaten und die Beamtenschaft jener Disziplin teil, welche einen neuen Magister bekommt. Bei der Feier im Festsaal hatte der Glasperlenspielmeister den Amtseid abzulegen, hatte ferner von der Behörde die Insignien seines Amtes, bestehend in einigen Schlüsseln und Siegeln, entgegenzunehmen und sich vom Sprecher der Ordensleitung mit dem Ornat bekleiden zu lassen, dem festlichen Überkleide, das der Magister bei den höchsten Feierlichkeiten, vor allem beim Zelebrieren des Jahresspiels, zu tragen hat. Einem solchen Akte fehlt zwar der Schwall und leichte Rausch öffentlicher Feste, er ist seiner Natur nach zeremoniell und eher nüchtern, dafür verleiht ihm schon allein die vollzählige Anwesenheit der beiden höchsten Behörden eine ungemeine Würde. Die kleine Republik der Glasperlenspieler erhält einen neuen Herrn, der ihr vorzustehen und sie in der Gesamtbehörde zu vertreten hat, das ist ein bedeutendes und seltenes Ereignis; mögen die Schüler und jüngeren Studenten seine Wichtigkeit noch nicht voll erfassen und in der Feier nur eine Zeremonie und Augenlust erleben, alle anderen Teilnehmer sind sich dieser Wichtigkeit bewußt und sind genügend mit ihrer Gemeinschaft verwachsen und ihr wesensähnlich, um den Vorgang wie einen Vorgang im eigenen Leibe und Leben zu empfinden. Dieses Mal war die Festfreude nicht nur vom Tode des vorigen Meisters und der Trauer um ihn beschattet, sondern auch von der bangen Stimmung dieses Jahresspiels und der Tragödie des Stellvertreters Bertram. Die Einkleidung wurde vom Sprecher der Ordensleitung und dem obersten Spielarchivar vollzogen, gemeinsam hielten sie den Ornat hoch und legten ihn dem neuen Glasperlenspielmeister über die Schultern. Die kurze Festrede sprach der Magister Grammaticae, der Meister der klassischen Philologie in Keuperheim, ein von der Elite gestellter Vertreter Waldzells übergab die Schlüssel und Siegel, und bei der Orgel sah man den greisen Alt-Musikmeister in eigener Person stehen. Er war zur Investitur herbeigereist, um seinen Schützling einkleiden zu sehen und durch seine unvermutete Anwesenheit froh zu überraschen, vielleicht auch ihm den einen oder andern Rat zu geben. Am liebsten hätte der Alte die Festmusik mit eigenen Händen gespielt, doch durfte er sich eine solche Anstrengung nicht mehr zutrauen, er hatte also das Spielen dem Organisten des Spielerdorfes überlassen, stand aber hinter ihm und wendete ihm die Blätter um. Mit andächtigem Lächeln blickte er auf Josef, sah ihn den Ornat und die Schlüssel empfangen und hörte ihn erst die Eidesformel, dann die freie Anrede an seine künftigen Mitarbeiter, Beamten und Schüler sprechen. Nie war ihm dieser Knabe Josef so lieb und erfreulich gewesen wie heute, wo er schon beinahe aufgehört hatte, Josef zu sein, und begann, nur noch der Träger eines Ornats und Amtes, ein Stein in einer Krone, ein Pfeiler im Bau der Hierarchie zu sein. Er konnte aber seinen Knaben Josef nur wenige Augenblicke allein sprechen. Heiter lächelte er ihm zu und beeilte sich, ihm einzuschärfen: »Sieh, daß du die nächsten drei, vier Wochen gut überstehst, es wird viel von dir verlangt werden. Denke immer ans Ganze, und denke immer daran, daß ein Versäumnis im einzelnen jetzt nicht schwer wiegt. Du mußt dich ganz der Elite widmen, alles andre laß gar nicht in deinen Kopf hinein. Man wird dir zwei Leute schicken, die dir einhelfen sollen; der eine davon, der Yogamann Alexander, ist von mir instruiert, höre gut auf ihn, er versteht seine Sache. Was du brauchst, ist ein felsenfestes Vertrauen darauf, daß die Oberen recht daran taten, dich zu den Ihren zu holen; vertraue auf sie, vertraue auf die Leute, die man dir zur Hilfe schickt, vertraue blind auf deine eigene Kraft. Der Elite aber schenke ein fröhliches, immer waches Mißtrauen, sie erwartet nichts andres. Du wirst gewinnen, Josef, ich weiß es.« Die meisten magistralen Amtsfunktionen waren für den neuen Magister wohlbekannte und vertraute Tätigkeiten, denen er in dienender oder assistierender Eigenschaft schon sich gewidmet hatte; die wichtigsten waren die Spielkurse, von den Schüler- und Anfänger-, den Ferien- und Gastkursen bis zu den Übungen, Vorlesungen und Seminaren für die Elite. Diesen Tätigkeiten, mit Ausnahme der letzten, konnte jeder neu ernannte Magister sich ohne weiteres gewachsen wissen, während ihm jene neuen Funktionen, welche zu üben er niemals Gelegenheit gehabt hatte, weit mehr Sorge und Mühe machen mußten. Auch Josef ging es so. Am liebsten hätte er vorerst sich mit ungeteiltem Eifer eben diesen neuen Pflichten zugewandt, den eigentlich magistralen, der Mitarbeit im obersten Erziehungsrat, der Zusammenarbeit zwischen Magisterrat und Ordensleitung, der Vertretung des Glasperlenspiels und des Vicus Lusorum in der Gesamtbehörde. Er brannte darauf, sich mit diesen neuen Tätigkeiten vertraut zu machen und ihnen den drohenden Aspekt des Unbekannten zu nehmen, am liebsten hätte er sich vorerst einige Wochen beiseite gesetzt und dem genauesten Studium der Verfassung, der Formalitäten, der Sitzungsprotokolle und so weiter hingegeben. Für Auskunft und Belehrung auf diesem Gebiet stand ihm, das wußte er, außer Herrn Dubois der erfahrenste Kenner und Meister der magistralen Formen und Traditionen zur Verfügung, nämlich der Sprecher der Ordensleitung, welcher zwar selbst nicht Magister war, also eigentlich im Range unter den Meistern stand, der aber in allen Sitzungen der Behörde die Regie führte und der traditionellen Ordnung zu ihrem Recht verhalf gleich dem Oberzeremonienmeister eines Fürstenhofes. Wie gern hätte er diesen klugen, erfahrenen, in seiner glänzenden Höflichkeit undurchsichtigen Mann, dessen Hände ihn eben erst feierlich mit dem Ornat bekleidet hatten, um ein Privatissimum gebeten, hätte jener nur seinen Wohnsitz in Waldzell gehabt statt in dem immerhin eine halbe Tagreise entfernten Hirsland! Wie gern hätte er sich für eine Weile nach Monteport geflüchtet und sich vom Alt-Musikmeister in diese Dinge einführen lassen! Allein daran war nicht zu denken, solche private und studentische Wünsche durfte ein Magister nicht hegen. Vielmehr mußte er sich für die erste Zeit mit intensiver, ausschließlicher Sorgfalt und Hingabe gerade jenen Funktionen widmen, von denen er der Meinung gewesen war, sie würden ihm kaum Mühe machen. Was er während Bertrams Festspiel, wo er einen von der eigenen Gemeinschaft, der Elite, im Stich gelassenen Magister gleichsam im luftleeren Raum hatte kämpfen und ersticken sehen, was er damals geahnt und was die Worte des Alten von Monteport am Tag der Einkleidung bestätigt hatten, das zeigte ihm jetzt jeder Augenblick seines Amtstages und jeder Moment einer Besinnung über seine Lage: er mußte sich vor allem andern der Elite und Repetentenschaft, den obersten Stufen des Studiums, den Seminarübungen und dem ganz persönlichen Umgang mit den Repetenten widmen. Er konnte das Archiv den Archivaren, die Anfängerkurse den vorhandenen Lehrern, die Post den Sekretären überlassen, es würde dabei nicht viel versäumt werden. Die Elite aber durfte er keinen Augenblick sich selbst überlassen, er mußte sich ihr widmen, sich ihr aufdrängen und unentbehrlich machen, sie vom Wert seiner Fähigkeiten, von der Reinheit seines Willens überzeugen, mußte sie erobern, um sie werben, sie gewinnen, sich mit jedem ihrer Kandidaten messen, der dazu Lust zeigte, und es war kein Mangel an solchen Kandidaten. Dabei kam manches ihm zu Hilfe, was er früher als wenig förderlich angesehen hatte, namentlich seine lange Abwesenheit von Waldzell und der Elite, wo er jetzt beinahe wieder ein Homo novus war. Sogar seine Freundschaft mit Tegularius erwies sich als dienlich. Denn Tegularius, der geistreich-kränkliche Outsider, kam offensichtlich für eine streberische Laufbahn so wenig in Betracht und schien selbst so wenig Ehrgeiz zu haben, daß eine etwaige Bevorzugung durch den neuen Magister keine Benachteiligung von Mitstrebenden bedeutet hätte. Das Meiste und Beste mußte Knecht immerhin selber tun, um diese oberste, lebendigste, unruhigste und empfindlichste Schicht der Spielwelt erforschend zu durchdringen und sich ihrer wie der Reiter eines edlen Pferdes zu bemächtigen. Denn in jedem kastalischen Institut, nicht nur beim Glasperlenspiel, stellt die Elite der fertig ausgebildeten, aber noch frei studierenden, noch nicht in den Dienst der Erziehungsbehörde oder des Ordens eingestellten Kandidaten, die man auch Repetenten heißt, den kostbarsten Bestand und recht eigentlich die Reserve, die Blüte und Zukunft dar, und überall, nicht nur im Spielerdorf, ist diese hochgemute Auslese der Nachzucht neuen Lehrern und Vorgesetzten gegenüber durchaus auf Sprödigkeit und Kritik gestimmt, erweist einem neuen Oberhaupt gerade knapp das Mindestmaß an Höflichkeit und Unterordnung und muß durchaus persönlich und mit vollem Einsatz des Werbenden gewonnen, überzeugt und überwunden werden, ehe sie ihn anerkennt und sich seiner Führung willig ergibt. Knecht stellte sich der Aufgabe ohne Bangen, war über ihre Schwierigkeit aber doch verwundert, und während er sie löste und das für ihn höchst anstrengende, ja aufreibende Spiel gewann, traten jene anderen Pflichten und Aufgaben, an die er eher mit Sorge zu denken geneigt gewesen war, von selber zurück und schienen weniger Aufmerksamkeit zu fordern; er gestand einem Kollegen, daß er die erste Vollsitzung der Behörde, zu welcher er mit Eilpost eintraf und nach deren Beendigung er mit Eilpost zurückreiste, beinah wie im Traume mitgemacht und ihr im Nachhinein keinen Gedanken mehr habe widmen können, so völlig habe die für ihn aktuelle Arbeit ihn in Anspruch genommen; ja sogar während der Beratung selbst, obwohl deren Thema ihn interessierte und obwohl er ihr als seinem ersten Auftreten in der Behörde mit einiger Unruhe entgegengesehen hatte, ertappte er sich mehrmals darauf, daß er mit seinen Gedanken nicht hier unter den Kollegen und bei den Debatten, sondern in Waldzell und in jenem blau getünchten Raum des Archivs war, wo er zur Zeit jeden dritten Tag ein dialektisches Seminar mit nur fünf Teilnehmern hielt und wo jede Stunde eine größere Anspannung und Kraftausgabe forderte als der ganze übrige Amtstag, welcher doch auch nicht leicht war und dem er sich nirgends entziehen konnte, denn wie der Alt-Musikmeister ihm angekündigt hatte, war ihm von der Behörde für diese erste Zeit ein Einpeitscher und Kontrolleur beigegeben worden, der seinen Tageslauf von Stunde zu Stunde überwachen, ihn bei der Zeiteinteilung beraten und ihn vor Einseitigkeiten sowohl wie vor völliger Überanstrengung bewahren mußte. Knecht war ihm dankbar, und noch mehr war er es dem Abgesandten der Ordensleitung, einem Meister der Meditationskunst von großem Ruf; er hieß Alexander. Dieser sorgte dafür, daß der bis zur äußersten Anspannung Arbeitende täglich dreimal der »kleinen« oder »kurzen« Übung nachkam und daß Ablauf und Minutendauer für jede solche Übung genauestens eingehalten wurden. Mit den beiden, dem Einpauker und dem kontemplativen Ordensmann, hatte er täglich, dicht vor der Abendmeditation, seinen Amtstag rückblickend zu rekapitulieren, Fortschritte und Niederlagen festzustellen, sich »den Puls zu fühlen,« wie die Meditationslehrer es nennen, das heißt, sich selbst, seine augenblickliche Lage, sein Befinden, die Verteilung seiner Kräfte, seine Hoffnungen und Sorgen zu erkennen und zu messen, sich selbst und sein Tagewerk objektiv zu sehen und nichts Ungelöstes in die Nacht und den andern Tag mit hinüberzunehmen. Während die Repetenten mit teils sympathisierendem, teils kämpferischem Interesse der gewaltigen Arbeit ihres Magisters zusahen und keine Gelegenheit versäumten, ihm improvisierte kleine Kraft-, Gedulds- und Schlagfertigkeitsproben aufzuerlegen, seine Arbeit bald zu befeuern, bald zu hemmen bestrebt, war um Tegularius eine fatale Leere entstanden. Daß Knecht jetzt keine Aufmerksamkeit, keine Zeit, keine Gedanken, keine Teilnahme für ihn übrig haben könne, begriff er zwar, vermochte aber sich gegen die vollkommene Vergessenheit, in die er für den Freund plötzlich versunken schien, doch nicht hart und gleichgültig genug zu machen, um so weniger, als er nicht nur von einem Tag auf den andern seinen Freund verloren zu haben schien, sondern auch noch von seinen Kameraden einiges Mißtrauen erfuhr und kaum angesprochen wurde. Was nicht verwunderlich war, denn wenn Tegularius auch den Ehrgeizigen nicht ernstlich im Wege stehen konnte, so war er doch eben Partei und hatte bei dem jungen Magister seinen Stein im Brett. Dies alles konnte Knecht sich wohl denken, und es gehörte mit zu seinen augenblicklichen Aufgaben, mit allem andern Persönlichen und Privaten auch diese Freundschaft für eine Weile auszuschalten. Er tat dies aber, wie er dem Freunde später gestand, nicht eigentlich wissend und willentlich, sondern er hatte den Freund ganz einfach vergessen, er hatte sich so ganz zum Werkzeug gemacht, daß so private Dinge wie Freundschaft ins Unmögliche entschwanden, und wenn irgendwo, wie zum Beispiel in jenem Seminar zu fünfen, Fritzens Gestalt und Gesicht vor ihm erschien, so war es nicht Tegularius, war nicht ein Freund, ein Bekannter, eine Person, sondern es war einer von der Elite, ein Student, vielmehr Kandidat und Repetent, ein Stück seiner Arbeit und Aufgabe, ein Soldat in der Truppe, die zu schulen und mit der zu siegen sein Ziel war. Fritz hatte einen Schauder gespürt, als er zum erstenmal vom Magister so angeredet wurde; er hatte an dessen Blick gespürt, daß diese Fremde und Objektivität durchaus nicht gespielt, sondern echt und unheimlich sei und daß der Mann vor ihm, der ihn mit dieser sachlichen Höflichkeit bei großer geistiger Wachheit behandelte, nicht mehr sein Freund Josef sei, sondern nur Lehrer und Prüfer, nur Glasperlenspielmeister, vom Ernst und von der Strenge seines Amtes umgeben und abgeschlossen wie von einer glänzenden Glasur, die im Feuer um ihn gegossen und erstarrt wäre. Übrigens passierte mit Tegularius in diesen heißen Wochen ein kleiner Zwischenfall. Schlaflos und innerlich strapaziert durch das Erlebte, ließ er sich im kleinen Seminar eine Unartigkeit, eine kleine Explosion zuschulden kommen, nicht gegen den Magister, sondern gegen einen Kollegen, der ihm durch seinen spöttischen Ton auf die Nerven ging. Knecht bemerkte es wohl, bemerkte auch den überreizten Zustand des Delinquenten, er wies ihn nur durch eine stumme Fingerbewegung zurecht, schickte ihm aber nachher seinen Medirationsmeister, um etwas Seelsorge an dem Schwierigen zu üben. Diese Fürsorge empfand Tegularius nach wochenlanger Entbehrung als erstes Anzeichen wieder erwachender Freundschaft, denn er nahm sie als eine ihm persönlich geltende Aufmerksamkeit und ließ sich willig in die Kur nehmen. In Wirklichkeit hatte Knecht kaum wahrgenommen, wem er diese Fürsorge erweise, er hatte lediglich als Magister gehandelt: er hatte bei einem Repetenten Gereiztheit und Mangel an Haltung bemerkt und hatte erzieherisch darauf reagiert, ohne einen Moment diesen Repetenten als Person anzusehen und zu sich selbst in Beziehung zu bringen. Als ihn, um Monate später, der Freund an diese Szene erinnerte und ihm versicherte, wie sehr er ihn durch dies Zeichen des Wohlwollens erfreut und getröstet habe, schwieg Josef Knecht, der die Sache völlig vergessen hatte, und ließ den Irrtum auf sich beruhen. Schließlich war das Ziel erreicht und der Kampf gewonnen, es war eine große Arbeit gewesen, mit dieser Elite fertig zu werden, sie müde zu exerzieren, die Strebsamen zu zähmen, die Unentschiedenen für sich zu gewinnen, den Hochmütigen zu imponieren; aber nun war die Arbeit geleistet, die Kandidatenschaft des Spielerdorfes hatte ihren Meister anerkannt und sich ihm ergeben, plötzlich ging alles leicht, als habe es nur an einem Tropfen Öl gefehlt. Der Einpauker stellte mit Knecht ein letztes Arbeitsprogramm zusammen, sprach ihm die Anerkennung der Behörde aus und verschwand, der Meditationsmeister Alexander ebenso. An Stelle der Massage am Morgen trat wieder der Spaziergang, an etwas wie Studium oder auch nur Lektüre war zwar vorläufig noch nicht zu denken, doch wurde am Abend vor Schlafengehen an manchen Tagen schon wieder ein wenig musiziert. Bei seinem nächsten Erscheinen in der Behörde spürte Knecht deutlich, ohne daß es mit Worten berührt worden wäre, daß er jetzt unter seinen Kollegen als bewährt und ebenbürtig gelte. Nach der Glut und Hingabe des Kampfes um seine Bewährung überkam ihn nun ein Erwachen, eine Erkühlung und Ernüchterung, er sah sich im Innersten Kastaliens, sah sich im obersten Rang der Hierarchie und nahm mit wunderlicher Nüchternheit, beinah Enttäuschung wahr, daß auch diese sehr dünne Luft sich atmen lasse, daß aber freilich er, der sie nun atmete, als kenne er keine andre, durchaus gewandelt sei. Es war die Frucht dieser harten Prüfungszeit, die ihn ausgeglüht hatte, wie kein anderer Dienst, keine andere Anstrengung es bisher getan hatte. Die Anerkennung des Regenten durch die Elite fand diesmal in einer besonderen Geste ihren Ausdruck. Als Knecht das Aufhören der Widerstände, das Vertrauen und Einverständnis der Repetentenschaft spürte und das Schwerste geleistet wußte, war der Augenblick für ihn gekommen, sich einen »Schatten« zu wählen, und in der Tat war er eines solchen und einer Entlastung niemals bedürftiger als in jenem Moment nach gewonnenem Sieg, wo die beinah übermenschliche Kraftprobe ihn plötzlich in eine relative Freiheit entließ; schon mancher war gerade an dieser Stelle des Weges umgesunken. Knecht nun verzichtete auf das ihm zustehende Recht der Wahl unter den Kandidaten und bat die Repetentenschaft, ihm einen »Schatten« nach ihrer eigenen Wahl zur Verfügung zu stellen. Noch unter dem Eindruck von Bertrams Schicksal stehend, nahm die Elite dieses Entgegenkommen doppelt ernst, traf nach mehreren Sitzungen und geheimen Befragungen ihre Wahl und stellte dem Magister einen ihrer besten Männer als Stellvertreter vor, der bis zu Knechts Ernennung für einen der aussichtsvollsten Kandidaten für die Meisterwürde gegolten hatte. Wohl war das Härteste nun überstanden, es gab wieder Spaziergang und Musik, mit der Zeit würde auch wieder an Lektüre zu denken erlaubt sein, würde die Freundschaft mit Tegularius, je und je ein Briefaustausch mit Ferromonte möglich sein, es würde zuweilen einen freien Halbtag, etwa auch einmal einen kleinen Reiseurlaub geben. Allein diese Annehmlichkeiten alle würden einem andern zugute kommen, nicht dem bisherigen Josef, der sich für einen beflissenen Glasperlenspieler und einen leidlich guten Kastalier gehalten hatte und doch so ohne Ahnung vom Innersten der kastalischen Ordnung gewesen war, der so harmlos eigensüchtig, so kindlich spielerisch, so unvorstellbar privat und verantwortungsfrei gelebt hatte. Einmal fielen die spöttisch mahnenden Worte ihm ein, die er einst von Meister Thomas sich hatte sagen lassen müssen, nachdem er den Wunsch hatte laut werden lassen, noch eine Weile dem freien Studium leben zu dürfen: »Eine Weile – wie lang ist das? Du sprichst noch die Studentensprache, Josef.« Das war vor wenigen Jahren gewesen; mit Bewunderung und tiefer Ehrfurcht hatte er ihn angehört, und auch mit einem ganz leisen Grauen vor der unpersönlichen Vollkommenheit und Zucht dieses Mannes, und hatte gefühlt, wie Kastalien auch nach ihm selbst greifen und ihn an sich saugen wollte, um vielleicht auch aus ihm einmal einen solchen Thomas zu machen, einen Meister, einen Regenten und Diener, ein vollkommenes Werkzeug. Und nun stand er an der Stelle, wo jener gestanden war, und wenn er mit einem seiner Repetenten sprach, einem dieser klugen, mit allen Wassern gewaschenen Spieler und Privatgelehrten, einem dieser fleißigen und hochmütigen Prinzen, so blickte er zu ihm in eine andre, fremdschöne, wunderliche und erledigte Welt hinüber, ganz ebenso wie einst Magister Thomas ihm in seine wunderliche Studentenwelt hineingeblickt hatte. |
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