"Der Stolz der Flotte: Flaggkapitän Bolitho vor der Barbareskenküste" - читать интересную книгу автора (Кент Александер)IV Als Warnung für alleDie elegante, kastanienbraun lackierte Berline[17] ratterte geschäftig über die gewölbte Brücke und bog dann links in die Landstraße nach Falmouth ein. Richard Bolitho fing mit einer Hand das Schaukeln ab, mit dem die Räder in die tiefen Wagenspuren tauchten, und blickte in den Staub, den die Pferdehufe und die Räder aufwühlten. Nur mit halbem Auge sah er die Landschaft vorbeiziehen, das viele Grün, hier und da ein paar Schafe in den Wiesen zu selten der schmalen, gewundenen Straße. In seinem besten Galarock fühlte er sich heiß und unbehaglich, und in der heftig schaukelnden Kutsche war es schlimmer als in einem kleinen Boot im kabbligen Hafenwasser; doch all das kam ihm kaum zum Bewußtsein. Tags zuvor war Konteradmiral Thelwall in Bolithos Haus im Schlaf gestorben und hatte nun, zum erstenmal seit Monaten, Frieden. Als Captain Rook die Nachricht zu der vor Anker liegenden Mit unpassender Eile war die kleine Wagenprozession nach Truro aufgebrochen, wo die sterbliche Hülle des Admirals auf Fahrgelegenheit für die weite Reise nach Norfolk warten würde. Es ließ sich nur schwer sagen, ob Broughtons Bedauern aufrichtig war. Gewiß hatte er mit seinem neuen Kommando viel zu tun, und doch gewann Bolitho den deutlichen Eindruck, daß Broughton ein Mann war, der wenig Zeit an Dinge wandte, die sich nicht hundertprozentig lohnten. Oder an Menschen, denen man nicht mehr helfen konnte, oder die ihm nichts mehr nützten. Die Berline bog ab, und Bolitho hörte den Kutscher lauthals einen kleinen Leiterwagen beschimpfen, den ein schläfriges Pony zog. Der Wagen war mit Hühnern und allerlei Farmprodukten beladen, und der rotgesichtige Kutscher schimpfte ebenso ordinär zurück. Bolitho lächelte. Das war vermutlich ein Tagelöhner seines Schwagers; und plötzlich fiel ihm ein, daß er in den vier Tagen, seit er die Jetzt erreichte die Kutsche das bessere Stück Landstraße, die letzten drei Meilen bis zur Küste; und er dachte an die hektischen und anstrengenden Tage seit seiner und des neuen Admirals Ankunft. Einen Menschen wie Broughton hatte er noch nie erlebt. Gewöhnlich wirkte er ganz ungezwungen; aber seine Stimmungen wechselten schnell, und er wurde anscheinend nie müde. Bolitho erinnerte sich an das Dinner in der großen Kajüte; wie er da das Gespräch der versammelten Offiziere in Gang gehalten hatte, ohne es jemals an sich zu reißen, und doch wußte jeder einzelne, daß er ständig kontrolliert wurde. Bolitho war keineswegs sicher, daß er genau ergründet hatte, was für ein Mann hinter dieser Maske aus Charme und Eleganz steckte. Wenn Bolitho Sir Lucius manchmal kalt und unnahbar fand, so war das, wie er genau wußte, nur ein anderes Wort für sein Unbehagen und Mißtrauen gegenüber vielem, was der Admiral verkörperte: die Privilegien, die unbestrittene Macht, diese ganz andere Welt, an der Bolitho keinen Anteil hatte und auch keinen Anteil wollte. Wenn Broughton von seinem Haus in London sprach, von den Leuten mit großen Namen und großem Einfluß, die dort ständig ein und aus gingen, dann war das keineswegs leere Prahlerei. Es war seine natürliche Art zu leben, etwas, das ihm einfach zustand. Wenn man ihn in der leicht schwankenden Kajüte des großen Drei-deckers und beim gemütlich kreisenden Wein so reden hörte, konnte man sich des Gedankens nicht erwehren, daß alle wichtigen Entscheidungen in diesem Kriege gegen Frankreich und seine immer zahlreicheren Alliierten nicht in der Admiralität getroffen wurden, sondern bei Gesellschaften an Londoner Kaffeetafeln und in Häusern wie dem Broughtons. Trotzdem zweifelte Bolitho nicht, daß Sir Lucius eine ganze Menge von Strategie und internationaler Flottenpolitik verstand. Vor drei Monaten hatte Broughton in der Seeschlacht von St. Vincent[18] mitgekämpft; und sein taktischer Verstand, seine Fähigkeit, ein anschauliches Bild vom Verlauf des Kampfes zu geben, hatten Bolitho sehr beeindruckt. Bolitho konnte sich noch daran erinnern, mit wieviel Neid und Bitterkeit er die Nachricht von Jervis' großem Sieg aufgenommen hatte, während er selbst diese elende Routineblockade vor Südirland fuhr. Hätte der Feind wirklich eine Invasion von Irland versucht und dabei die Der alte Admiral Jervis war daraufhin zum Earl St. Vincent ernannt worden; und ein anderer Name, Kommodore[19] Nelson, ließ Hoffnung für die Zukunft anklingen. Bolitho erinnerte sich daran, den jungen Nelson anläßlich der unglückseligen Aktion von Toulon[20] kurz gesehen zu haben. Nelson war zwei Jahre jünger als er und doch schon Kommodore; wenn er am Leben blieb, würde er bald noch höher auf der Rangliste steigen. Einem so begabten Seeoffizier neidete Bolitho seine verdienten Erfolge nicht. Doch dabei war er sich bewußt, daß er selbst ins Hintertreffen geraten war — oder so kam es ihm jedenfalls vor. Drei weitere Linienschiffe, lauter Vierundsiebziger, waren zur Der einzige Lichtblick in diesen ersten hektischen Tagen von Broughtons Kommando war, daß er Bolithos Vorschläge und Bitten für die Die Pferde gingen langsamer und erreichten die höchste Stelle der Straße, so daß Bolitho Meer und Hafen wie eine bunte Landkarte vor sich ausgebreitet sah. Das vor Anker liegende Geschwader, das geschäftige Kommen und Gehen von Captain Rooks Patrouillebooten vermittelten den Eindruck bester Planung und Bereitschaft. Auf hoher See würde es also nicht allzu lange dauern, bis sich die Kommandanten so aufeinander eingestellt hatten, daß die Schiffe im Verband zusammenwirken und gemeinsam nach den Befehlen ihres Admirals manövrieren konnten. Aber wann sie endlich segeln und welchen endgültigen Auftrag sie bekommen würden, das blieb immer noch Geheimnis. Broughton wußte bestimmt eine ganze Menge mehr, als er verlauten ließ, und hatte wiederholt gesagt:»Machen Sie nur meine Schiffe segelfertig, Bolitho. Das andere erledige ich dann schon, sobald ich von London Bescheid habe.» Broughton war anscheinend davon überzeugt, daß sich alles zu seiner Befriedigung entwickeln würde. An den Schiffen wurde von Sonnenaufgang bis — Untergang gearbeitet: Übernahme von Verpflegung und Trinkwasser, von Ersatzteilen, Gerät, und auch ihrem Anteil an menschlicher Ware, die Rooks Preßkommandos brachten. Der Admi-ral war meist in seiner Kajüte oder an Land, wo er mit irgendwelchen städtischen Beamten speiste, die ihm bei der Ausrüstung von Nutzen sein konnten. Die düstere Spannung, welche die Ankunft der Bolitho nahm seinen Degen vom Nebensitz auf. Die Berline rollte über das abgefahrene Kopfsteinpflaster und hielt quietschend vor dem Gasthof am Kai. Die nassen Pferde wandten die Köpfe, warteten ungeduldig auf Futter und Ruhe. Ein paar Stadtbewohner spazierten auf dem Markt herum, doch Bo-litho fielen sofort die rotröckigen Soldaten auf und eine Atmosphäre allgemeiner Spannung, die noch nicht geherrscht hatte, als er mit Thelwalls Leichnam nach Truro aufgebrochen war. Jetzt kam ihm Rook entgegen, offenbar erleichtert, aber auch besorgt. «Was ist los?«Bolitho nahm ihn beim Arm und zog ihn in den Schatten des Gasthofes. Rook blickte sich vorsichtig um.»Die Meuterei in der Nore-Flotte hat sich ausgebreitet: die ganze Flotte ist in der Hand der Meuterer und unter Waffen!«Er senkte die Stimme.»Eine Brigg aus Plymouth hat die Nachricht gebracht. Ihr Admiral ist mächtig wütend.» Bolitho schritt mit ihm zusammen weiter, äußerlich ruhig, doch seine Gedanken rasten angesichts dieser neuen Entwicklung. «Wie kommt es, daß wir das erst jetzt erfahren?» Rook zerrte an seiner Halsbinde, als ersticke sie ihn.»Eine Patrouille fand den Kurier aus London tot in einer Hecke, mit durchschnittener Kehle und leerer Depeschentasche. Jemand hat gewußt, daß er hierher ritt, und dafür gesorgt, daß Admiral Broughton so lange wie möglich nichts erfuhr!«Rook winkte einem Matrosen am Kai:»Rufen Sie ein Boot her, Mann!» Bolitho trat an die Kante der sonnenwarmen Steinmauer und sah zu den Schiffen hinüber. Das Bild der War es möglich, daß sich die Lage so schnell änderte? Eben noch schien alles einigermaßen in Ordnung, und auf einmal war eine ganze Flotte in hellem Aufruhr? Zögernd fuhr Rook fort:»Ich weiß nicht, ob ich mir erlauben darf, es zu sagen; aber ich glaube, Sir Lucius Broughton war schwer erschüttert von dem, was er in Spithead erlebt hat. Wer in Zukunft versucht, sich ihm zu widersetzen, dem geht es ziemlich dreckig.» Das Boot schrammte am Kai, und Bolitho stieg mit Rook hinein. Rook blieb stehen, bis Bolitho sich im Heck gesetzt hatte, und gab dann dem Bootsführer ein Zeichen, Kurs auf das Flaggschiff zu nehmen. «Hoffentlich können wir ohne weitere Verzögerung in See gehen«, sagte Bolitho ernst.»Wenn wir erst klar von Land sind, haben wir Zeit zum Nachdenken. «Rook sagte nichts dazu — Bolitho hatte auch nur laut gedacht. Es schien endlos zu dauern, bis sie bei dem Dreidecker längsseit waren; er sah schon aus einiger Entfernung, daß die Enternetze aufge-riggt waren, daß Marine-Infanteristen auf den Decksgängen patrouillierten und Posten an Kampanje und Vorschiff aufgezogen waren. Rasch kletterte er an Bord und lüftete seinen Hut zum Trillern der Pfeifen und dem Stampfen der präsentierten Musketen. Weigall, der Dritte Offizier, meldete nervös:»Der Admiral erwartet Sie, Sir. Tut mir leid, daß Ihre Gig nicht am Kai war, aber alle Bootsfahrten sind gesperrt.» «Danke«, nickte Bolitho. Ohne sich seine Spannung merken zu lassen, schritt er nach achtern in den Schatten der Kampanje. Er mußte ruhig und normal erscheinen, obwohl ihm ganz anders zumute war. Am Kajütschott standen statt des normalen Einzelpostens drei Seesoldaten mit Musketen und aufgepflanzten Bajonetten. Er biß die Zähne zusammen und öffnete die Tür. Hinter sich hörte er Rooks schweren Atem und spürte eine heftige Trockenheit in der Kehle beim Anblick der bereits versammelten Offiziere. In der Kajüte war ein Tisch quergestellt, Stühle standen dahinter, so daß Bolitho unwillkürlich an einen Gerichtssaal erinnert wurde. Stumm blickten ihm die herumstehenden Offiziere entgegen, alles Kommandanten der anderen Schiffe; sogar der junge Kommandant der Korvette Ein Leutnant, den Bolitho überhaupt nicht kannte, kam eilig auf ihn zu; sein etwas angestrengtes Lächeln konnte Begrüßung bedeuten oder auch nur Erleichterung, daß er endlich da war. «Willkommen an Bord, Sir. «Er deutete zu der geschlossenen Tür von Sir Lucius' kleinem Kartenraum.»Sir Lucius erwartet Sie, Sir.» Und als er merkte, daß Bolitho immer noch unbeweglich stand, fügte er beflissen hinzu:»Mein Name ist Calvert, Sir. Der neue Flaggleutnant[21] des Admirals.» Er hatte die gleiche gedehnte Sprechweise wie Broughton, aber sonst war er ihm ganz und gar nicht ähnlich. Calvert machte eher einen verwirrten, gequälten Eindruck; und Bolithos Unbehagen verstärkte sich plötzlich, als warne ihn etwas. In der kurzen Zeit, während er nach Truro gefahren war, allen möglichen maßgebenden Leuten die Hände geschüttelt und sich ihre wohltönenden Kondolenzreden angehört hatte, war das alles passiert! «Dann gehen Sie voraus, Mr. Calvert«, sagte er.»Wir werden uns zweifellos zu gegebener Zeit besser kennenlernen.» In dem kleinen Kartenraum schien es ihm sehr heiß. Das Oberlichtfenster war geschlossen, und man konnte kaum atmen. Broughton stand mit verschränkten Armen neben dem Tisch und starrte auf die Tür, als ob er in dieser Haltung schon seit Stunden eingefroren wäre. Sein Uniformrock lag auf einem Stuhl, und in dem einfallenden Sonnenlicht sah man auf seinem blendendweißen Hemd dunkle Schweißflek-ken. Er war ruhig, das Gesicht völlig ausdruckslos, als er Bolitho zunickte und den Leutnant anfuhr:»Warten Sie draußen, Calvert!» Der Leutnant fingerte an seinen Rockknöpfen und murmelte:»Ich dachte. Die Briefe, Sir.» «Mein Gott, Mann, sind Sie außer dämlich auch noch taub?«Broughton beugte sich über den Tisch und brüllte wie ein Stier:»Raus, habe ich gesagt!» Als die Tür hinter dem armen Calvert ins Schloß fiel, wartete Bo-litho darauf, daß Broughton jetzt seine Wut an ihm auslassen würde. Es sah aus, als hätte er sie gerade noch bis zu diesem Moment zurückhalten können, um sie dann mit ganzer Schärfe auf Bolitho abzuschießen. Überraschenderweise sprach der Admiral jedoch mit fast normaler Stimme.»Bei Gott, Bolitho, ich bin froh, daß Sie so pünktlich zurück sind«, sagte er und deutete auf ein offenes Kuvert auf dem Tisch.»Endlich die Segelorder. Dieser Esel von Calvert hat sie aus London mitgebracht.» Bolitho wartete einen Moment, damit Broughton sich weiter beruhigen konnte. Dann sagte er:»Ich hätte Ihnen einen Flaggleutnant vom Geschwader abstellen können, wenn Sie einen brauchen, Sir…» Broughton warf ihm einen kalten Blick zu.»Ach, hol ihn der Teufel! Sein Vater hat mir vor ein paar Jahren mal einen Gefallen getan, und ich habe ihm versprochen, ihm seinen Narren von Sohn abzunehmen, damit er von London wegkommt. «Er brach ab und spähte mit schiefem Kopf zum Oberlicht empor, als horche er auf etwas. Dann fuhr er fort:»Sie haben zweifellos das Neueste gehört. «Tief und zornig atmete er ein.»Dieses elende, verräterische Gesindel hatte die Frechheit zu meutern, wie? Die ganze Nore-Flotte brennt vor. «Er suchte vergeblich nach dem passenden Wort und schloß:»Da haben Sie Ihre Humanität. Einbildung nenne ich das, wenn Sie auch nur eine Minute glauben, daß dieses Pack Verständnis für Nachsicht hat!» «Mit allem Respekt, Sir«, warf Bolitho ein,»zwischen der «So, meinen Sie?«Broughtons Stimme war jetzt wieder ganz ruhig. Zu ruhig.»Ich kann Ihnen versichern, Captain Bolitho, daß ich bereits in Spithead genügend Verräterei erlebt habe, wo ein Haufen kriechender, schleimiger, lügender Bastarde mein eigenes Flaggschiff in seine Gewalt brachte. Diese Demütigung, diese Schande hängt mir jetzt noch an wie Latrinengestank.» Ein diskretes Klopfen an der Tür, Hauptmann Giffard von der Marine-Infanterie steckte den Kopf herein und meldete:»Alles bereit, Sir. «Unter Broughtons wütendem Blick verschwand er eiligst. «Darf ich fragen, was hier vorgeht, Sir?«fragte Bolitho. «Sie dürfen. «Broughton nahm seinen Rock vom Stuhl auf. Sein Gesicht war schweißnaß.»Ihretwegen habe ich gegen meine Überzeugung gehandelt. Ihretwegen habe ich die Meuterer der Fest und bestimmt erwiderte er:»Es war «Unterbrechen Sie mich nicht, Bolitho!«brüllte der Admiral.»Bei Gott, es wäre besser gewesen, wenn Sie die Nur mit Mühe konnte Bolitho sich beherrschen.»Tut mir leid, Sir, daß Sie meine Entscheidung nicht akzeptieren wollen.» «Entscheidung?«Broughton starrte ihn wütend an.»Kapitulation nenne ich das!«Mit verächtlichem Achselzucken griff er nach seinem Hut.»Ich kann ein Unrecht nicht wieder zu Recht machen, aber, beim Himmel, ich werde denen zeigen, daß es auf meinen Schiffen keine Insubordination gibt!» Er riß die Tür auf und stampfte in die große Kajüte.»Nehmen Sie Platz, Gentlemen. «Er setzte sich in den Mittelstuhl und bedeutete Bolitho, sich neben ihn zu setzen.»Nun, Gentlemen, ich habe dieses Standgericht einberufen auf Grund des mir übertragenen Oberbefehls, der mir Sondervollmachten bis zur Beendigung des gegenwärtigen Notstandes einräumt.» Bolitho warf einen raschen Blick auf die anderen. Ihre Gesichter waren wie Masken. Überrascht und verwirrt durch die Ereignisse, mochten sie sich fragen, was dabei für sie persönlich herauskommen würde. Es war, als spräche Broughton zu der gegenüberliegenden Schottwand, aber er hatte seine Stimme wieder in der Gewalt.»Der Rädelsführer bei der Insurrektion der Die Luft in der Kajüte zitterte vor Spannung, so daß die altgewohnten Bordgeräusche auf einmal überlaut und unwirklich klagen.»Der Steuermannsmaat — «, er blickte auf ein vor ihm liegendes Papier — ,»John Taylor, derzeit in Arrest wegen Konspiration, ist demzufolge der einzige Haupttäter, an den sich dieses Gericht halten kann.» «Darf ich etwas sagen, Sir?«Alle Köpfe wandten sich Bolitho zu. In diesen wenigen Sekunden sah er die anderen als Individuen, deren unterschiedliche Empfindungen sich in ihren Augen spiegelten. Sympathie, Verständnis — einer schien sich sogar zu amüsieren. Doch als Bolitho weitersprach, dachte er nicht mehr an sie.»Taylor war nur einer von vielen, Sir«, sagte er ruhig.»Er kam zu mir, weil er Vertrauen zu mir hatte.» Auch Broughton hatte den Kopf gewandt und sah ihn an — kalt und nachdenklich.»Zwei seiner Genossen haben bereits gegen ihn ausgesagt, er sei nach Gates der Rädelsführer gewesen. «Eine Sekunde lang schimmerte etwas wie Mitleid in seinen Augen auf.»Kann sein, sie wollten sich an ihm rächen, weil er gegen Gates war. Sie können aber auch genausogut ordentliche und loyale Matrosen sein. «Er bekam ganz schmale Lippen.»Das ist nicht mehr meine Sache. Meine Sache ist das Geschwader, und ich werde dafür sorgen, daß es jede ihm gestellte Aufgabe erfüllt, und zwar ohne Einmischung. «Sein Blick lag wie festgeschmiedet auf Bolitho.»Von keiner Seite.» Dann klopfte er mit den Knöcheln auf den Tisch.»Führt den Gefangenen herein!» Bolitho saß reglos im Stuhl, als Taylor zwischen zwei MarineInfanteristen eintrat. Steif marschierte Hauptmann Giffard hinter ihnen her. Taylor sah bleich, aber gefaßt aus, und als er Bolitho erblickte, flog ein Schimmer des Erkennens über sein Gesicht. Broughton musterte ihn kalt.»John Taylor, Ihr seid der konspirativen Meuterei und der Insurrektion auf Seiner Britannischen Majestät Schiff Taylor war wie betäubt.»Das stimmt nicht«, erwiderte er ganz leise.»Das ist nicht wahr.» «Wie dem auch sei«, sprach Broughton weiter, lehnte sich in seinen Sessel zurück und blickte zu den Decksbalken auf,»in Anbetracht Eurer bisherigen Verdienste und all dessen, was mein Flaggkapitän zu Euren Gunsten gesagt und getan hat. «Er brach ab, denn Taylor war mit einem plötzlichen Hoffnungsschimmer in den Augen einen halben Schritt vorgetreten. Ein Seesoldat zog ihn zurück, und Broughton fuhr fort:». habe ich mich entschlossen, nicht die Höchststrafe zu ve r-hängen, die in Eurem Falle meiner persönlichen Ansicht nach gerechtfertigt wäre.» Verwirrt wandte Taylor den Kopf und blickte Bolitho an.»Danke, Sir! Gott segne Sie«, flüsterte er kaum hörbar. Das schien Broughton nur zu irritieren.»Statt dessen werdet Ihr zu zwei Dutzend Peitschenhieben und Degradierung verurteilt.» Mit Tränen der Bewegung in den Augen nickte Taylor.»Danke, Sir.» Broughtons Stimme war messerscharf.»Zwei Dutzend Hiebe Taylor sagte kein Wort, als die Seesoldaten ihn umdrehten und hinausführten. Bolitho starrte auf die geschlossene Tür, auf die Stelle, wo Taylor gestanden hatte. Ihm war, als sei die Kajüte plötzlich ganz eng. Als sei er selbst und nicht Taylor verurteilt worden. Broughton erhob sich und sagte kurz:»Begeben Sie sich wieder auf Ihre Schiffe, meine Herren, und lesen Sie die neuen allgemeinen Dienstbefehle, die Mr. Calvert Ihnen aushändigen wird. Der Strafvollzug findet morgen früh um acht Glasen statt. Normale Prozedur. » Als sie einzeln hinter Calvert hinausgegangen waren, fragte Bolitho leise:»Warum, Sir? Im Namen des Allmächtigen, warum?» Mit ausdruckslosen Augen sah Broughton an ihm vorbei.»Weil ich es befehle.» Ganz betäubt von Broughtons so unerwartet brutalem Urteil nahm Bolitho seinen Hut. «Noch weitere Befehle, Sir?«Er wußte selbst nicht, wie er es schaffte, so dienstlich unbewegt zu sprechen. «Ja. Übermitteln Sie Captain Brice meine Order, das Kommando über die Bolitho hielt seinem Blick stand und erwiderte:»Wenn Taylor eine regelrechte Kriegsgerichtsverhandlung bekommen hätte, Sir. «Er hielt inne, denn er merkte, daß er in die Falle gegangen war. Broughton lächelte freundlich.»Ein reguläres Kriegsgericht hätte ihn gehängt, das wissen Sie genau. Aber es hätte so lange gedauert, daß es kein abschreckendes Beispiel mehr gewesen wäre, und Milde wäre sinnlos. Wie die Dinge jetzt liegen, wird Taylors Bestrafung diesem Geschwader eine Warnung und ein abschreckendes Beispiel sein, und das haben wir verdammt nötig. Vielleicht überlebt er es ja auch, und dann hat er von der Tatsache profitiert, daß seine persönliche Rädelsführerschaft nur kurze Zeit gedauert hat; dann kann er sich bei Ihnen dafür bedanken.» Als Bolitho sich zum Gehen wandte, sagte er noch:»Dienstbesprechung hier an Bord gleich nach Ende des Strafvollzugs. Geben Sie Signal an alle Kommandanten: gt;Melden an Bord des Flaggschiffes um…lt;«Er zog seine Uhr.»… aber das kann ich wohl Ihnen überlassen. Ich bin bei einem der hiesigen Ratsherren zum Dinner eingeladen. Ein Mann namens Roxby. Kennen Sie ihn?» «Mein Schwager, Sir. «Bolithos Gesicht war steinern. «Tatsächlich?«Broughton ging zu seiner Schlafkajüte.»Ihre Familie sitzt anscheinend überall. «Damit warf er die Tür ins Schloß. Wie ein Blinder ging Bolitho zum Achterdeck. Schon fielen die Schatten schräger, denn die sinkende Sonne berührte bereits den Arm der Bucht. Ein paar Matrosen lungerten auf den Decksgängen herum, und vom Vorschiff klangen die kläglichen Töne einer Fiedel. Der Wachoffizier ging auf die andere Seite hinüber, damit Bolitho seine gewohnte Ruhe hatte, und von den Bootsblöcken ertönte das schrille Lachen zweier Midshipmen, die einander um die Wanten des Großmastes jagten. Bolitho stützte die Hände auf das Schanzkleid und starrte ohne zu blinzeln in die feurige Sonne. Nach Auf- und Abgehen war ihm jetzt nicht zumute, und wohin er auch sah, sah er immer Taylors Gesicht, seine rührende Dankbarkeit für die zwei Dutzend Hiebe, die sich in furchtbaren Schrecken verwandelte, als er das ganze Urteil hörte. Jetzt war er unter Deck, hörte das Lachen der Midshipmen und das klagende Lied des Fiedlers. Vielleicht spielte er seinetwegen etwas so Melancholisches. In diesem Fall war Broughtons grausame Abschreckung bereits umsonst, dachte er bitter. Sein Blick glitt zur Aber andere mochten dagegen einwenden: wie es auch ausgegangen wäre, Gerechtigkeit in der Flotte sei nicht durch das Auspeitschen einzelner Sündenböcke zu erreichen. So ein Sündenbock war Taylor — Bolitho wußte es und schämte sich deswegen. Mit leeren Augen starrte Bolitho durch das große Heckfenster seiner Kajüte, als Allday eintrat und meldete:»Alles klar, Captain.» Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er den alten Degen vom Halter an der Schottwand, drehte ihn in den Händen und rieb den altersgeschwärzten Griff an seinem Jackenärmel. Dann sagte er gelassen:»Sie haben Ihr Bestes getan, Captain. Es hat keinen Zweck, sich Vorwürfe zu machen.» Bolitho hob die Arme, damit sein Bootsführer ihm den Degen umschnallen konnte, und ließ sie dann fallen. Durch die dicken Glasfenster sah er die ferne Stadt leise schwanken, denn die Er nahm seinen Hut und blickte sich kurz in der Kajüte um. Ein guter Tag zum Auslaufen. Eine frische südwestliche Brise war aufgekommen, die Luft war frisch und sauber. Mit einem Seufzer ging er am Tisch und dem unberührten Frühstück vorbei durch die Tür mit dem strammstehenden Posten davor und trat hinaus auf das sonnenhelle Achterdeck. Keverne wartete schon. Sein brünettes Gesicht war undurchdringlich, als er an den Hut faßte und dienstlich meldete:»Zwei Minuten, Sir.» Bolitho musterte den Leutnant nachdenklich. Wenn Keverne über den plötzlichen Verlust seiner Aussicht auf ein selbständiges Kommando enttäuscht war, so zeigte er es jedenfalls nicht. Und wenn er sich über die Gefühle seines Kommandanten Gedanken machte, so verbarg er das ebenfalls. Bolitho nickte und schritt langsam zur Luvseite des Decks, wo die Leutnants des Schiffes bereits Aufstellung genommen hatten. Etwas weiter nach Lee zu standen die höheren Deckoffiziere und die Mid-shipmen in sauber ausgerichteten Reihen, die mit den Schiffsbewegungen leise schwankten. Ein rascher Blick nach achtern bestätigte ihm, daß Giffards MarineInfanteristen vor der Kampanje aufmarschiert waren. Ihre roten Röcke leuchteten grell in der Sonne, ebenso die weißen, gekreuzten Schulterriemen und die blankgewichsten Stiefel. Er wandte sich um, trat zur Achterdecksreling und ließ seine Augen über die Masse der Matrosen gleiten, die sich auf den Decksgängen, bei den aufgeblockten Booten drängten, sich am Rigg festhielten, als wollten sie um keinen Preis das bevorstehende Drama versäumen. Aber die dumpfe Stille, die Atmosphäre grimmiger Erwartung verrieten ihm, daß sie in diesem Falle, so abgebrüht und so gewohnt an schnelle, harte Disziplinarstrafen sie auch sein mochten, kein Verständnis für das Urteil hatten. Acht Glasen tönten vom Vorschiff, und er sah, wie die Offiziere Haltung annahmen: Broughton, von Leutnant Calvert begleitet, kam flotten Schrittes auf das Achterdeck. Wortlos faßte Bolitho an den Hut. Die Luft über dem Ankerplatz erzitterte von einem einzelnen, dumpfen Kanonenschuß. Dann folgte der trübselige Wirbel der Trommeln. Er sah, wie der Schiffsarzt unten an der Fallreepspforte mit Tebutt flüsterte; der eine seiner beiden Maate trug den wohlbekannten roten Leinwandsack. Letzterer schlug die Augen nieder, als er sah, daß sein Kommandant ihn anblickte. Broughtons Finger trommelten auf den Griff seines schöngearbeiteten Degens, anscheinend im Takt mit dem fernen Trommelwirbel. Er sah so entspannt und frisch aus wie immer. Bolitho versteifte sich, als er sah, daß sich einer der jungen Mid-shipmen mit der Hand über den Mund fuhr, eine rasche nervöse Bewegung, die unvermittelt eine Erinnerung wach werden ließ, wie den Schmerz einer alten Wunde. Er selbst war erst vierzehn gewesen, als er zum erstenmal eine Auspeitschung durch die ganze Flotte hatte mitansehen müssen. Das meiste davon hatte er nur durch einen Nebel von Tränen und Übelkeit wahrgenommen und war diesen Alpdruck nie ganz losgeworden. In einem Dienst, bei dem die Peitsche ein ganz gewöhnliches, allgemein akzeptiertes Strafmittel war, in manchen Fällen sogar ein durchaus gerechtfertigtes, war diese schwerste Form auch die schlimmste für die Zuschauer, die sich dabei fast ebenso erniedrigt vorkamen wie der Delinquent. «Wir werden heute nachmittag Anker lichten, Bolitho«, bemerkte Broughton beiläufig.»Unser Ziel ist Gibralter, wo ich weitere Order und Nachricht über die neuesten Entwicklungen erhalten werde. «Er sah zu seiner Flagge am Fockmast hoch und schloß:»Ein prächtiger Tag dafür.» Bolitho blickte zur Seite und versuchte, seine Ohren vor dem nicht endenwollenden Trommelwirbel zu verschließen. «Alle Schiffe sind voll provisioniert, Sir. «Er hielt inne. Broughton wußte das so gut wie er selbst. Es war nur, um etwas zu sagen. Warum machte dieses eine Geschehen alles zunichte? Er mußte doch inzwischen begriffen haben, daß er nicht mehr der junge Fregattenkapitän von früher war. Damals hatten die Menschen noch Gesichter gehabt und waren wirkliche Individuen gewesen. Wenn einer litt, dann spürte es das ganze überfüllte Schiff. Jetzt mußte er sich damit abfinden, daß die Menschen keine Individuen mehr waren. Sie waren Notwendigkeiten wie die Artillerie und die Takelage, der Süßwasservorrat und die Planken, auf denen er stand. Er merkte, daß Broughton ihn beobachtete, und drehte absichtlich den Kopf weg. Aber die Menschen waren ihm wichtig, sie dauerten ihn, und er würde sich darin auch nicht ändern, das wußte er genau; nicht Broughtons wegen, nicht einmal seiner eigenen Beförderung in einem Dienst zuliebe, den er jetzt nötiger brauchte denn je. Um den Bug der Leise sagte Broughton:»Es wird nicht allzu lange dauern, denke ich.» «Riemen hoch!» Der Kutter der Keverne reichte Bolitho die Kriegsartikel, und dieser schritt rasch zur Fallreepspforte. Schiffsarzt Spargo und die beiden Bootsmannsmaaten waren bereits unten im Kutter, und der erstere blickte hoch, als Bolithos Schatten über die wie erstarrt sitzenden Rudergasten fiel.»Delinquent straffähig, Sir«, meldete er. Bolitho zwang sich dazu, auf die Gestalt im Kutter hinunterzuschauen. Weit vorgebeugt, die Arme an einer Gangspillspake festgelascht wie ein Gekreuzigter — man konnte kaum glauben, daß es Taylor war. Der Mann, der zu ihm gekommen war. Um Hilfe. Um Vergebung und… Er nahm den Hut ab, schlug das Buch auf und verlas den Abschnitt der Kriegsartikel über Meuterei und ihre Bestrafung. Unten im Boot bewegte sich Taylor etwas; Bolitho hielt inne und schaute nochmals hinunter. Auf den Spanten und Planken des Bootes stand Blut. Schwarzes Blut, nicht das Blut der Schlacht. Schwarz wie die Hautfetzen, die von Taylors zerhauenem Rücken hingen. Schwarz und aufgerissen, so daß die freiliegenden Knochen in der Sonne wie Marmor glänzten. Der Bootsmaat blickte hoch und fragte gepreßt:»Zwei Dutzend, Sir?» «Tut Eure Pflicht.» Bolitho setzte den Hut wieder auf und sah starr auf den nächstliegenden Zweidecker. Der Maat holte aus und schlug mit furchtbarer Kraft zu, Bolitho hörte Schritte neben sich, und dann Broughtons gelassene Stimme:»Er scheint es ja ganz gut auszuhalten. «Ohne Anteilnahme, ohne echtes Interesse, nur eine beiläufige Bemerkung. Ebenso unvermittelt wie es begonnen hatte, war es vorbei, und als das Boot ablegte und weiter zum nächsten Schiff fuhr, sah Bolitho, wie Taylor versuchte, den Kopf zu heben und zu ihm hinaufzublicken. Aber er schaffte es schon nicht mehr. Bolitho wandte sich weg; ihm wurde übel beim Anblick des verzerrten Gesichts, der zerbissenen Lippen, dieses Stückes Fleisch, das einmal John Taylor gewesen war. «Lassen Sie die Leute wegtreten, Mr. Keverne«, sagte er rauh. Unwillkürlich sah er der sich neu formierenden Prozession nach. Zwei Schiffe noch. Taylor würde es bestimmt nicht überleben. Ein jüngerer Mann vielleicht. Aber Taylor nicht. Wiederum, ganz dicht an seinem Ohr, hörte er Broughtons Stimme:»Wenn er nicht früher unter Ihnen gedient hätte — auf der Da Bolitho nicht antwortete, fuhr er fort:»Ein Exempel mußte statuiert werden. Die Leute werden es nicht vergessen.» Bolitho richtete sich auf und sah Sir Lucius voll ins Gesicht. Mit fester Stimme entgegnete er:»Und ich auch nicht, Sir.» Sekundenlang sahen sie einander in die Augen, dann ließ Broughton das Visier wieder fallen.»Ich gehe wieder nach unten. Setzen Sie zu gegebener Zeit das Signal an alle Kommandanten.» Bolitho bemühte sich, seiner Gedanken, seines Zornes, seines Ekels, seines Abscheus wieder Herr zu werden. «Mr. Keverne, der Midshipman der Wache soll folgendes Signal vorbereiten: gt;Alle Kommandanten an Bord des Flaggschiffs!»« «Wann soll es gehißt werden?«fragte Keverne. Die Frage schien ihm bedeutungsschwer. Jemand sang aus:»Signal von der Mit einem langen Blick auf Keverne sagte Bolitho:»Jetzt.» Damit drehte er sich kurz um und schritt nach achtern in seine Kajüte. |
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