"Harry Potter und der Gefangene von Askaban" - читать интересную книгу автора (Rowling Joanne K.)

Der Feuerblitz

Harry wußte nicht genau, wie er es geschafft hatte, in den Keller des Honigtopfes, dann durch den Tunnel und wieder zurück ins Schloß zu gelangen. jedenfalls kam es ihm vor, als hätte er den Rückweg im Nu zurückgelegt, und er hatte nicht so recht darauf geachtet, was er eigentlich tat, denn in seinem Kopf schwirrten noch die Worte des Gesprächs, das er soeben mit angehört hatte.

Warum hatte es ihm keiner gesagt? Dumbledore, Hagrid, Mr Weasley, Cornelius Fudge… warum hatte keiner je erwähnt, daß Harrys Eltern gestorben waren, weil ihr bester Freund sie verraten hatte?

Ron und Hermine warfen Harry während des Abendessens ständig nervöse Blicke zu, doch über das Gehörte zu sprechen trauten sie sich nicht, weil Percy ganz in der Nähe saß. Als sie nach oben gingen, stellten sie fest, daß Fred und George in einem Anfall von Vorfreude auf die Ferien ein halbes Dutzend Stinkbomben in den dicht besetzten Gemeinschaftsraum geworfen hatten. Harry wollte vermeiden, daß Fred und George neugierig fragten, ob er nach Hogsmeade durchgekommen war. Er stahl sich hoch in den leeren Schlafsaal und ging geradewegs auf seine Kommode zu. Er räumte die Bücher beiseite und fand rasch, wonach er suchte – das in Leder gebundene Fotoalbum, das ihm Hagrid vor zwei Jahren geschenkt hatte, voller Zauberfotos seiner Mutter und seines Vaters. Er setzte sich aufs Bett, zog die Vorhänge zu und blätterte suchend die Seiten durch, bis… Bei einem Bild von der Hochzeit seiner Eltern hielt er inne. Da stand sein Vater mit dem widerborstigen, in alle Himmelsrichtungen abstehenden tiefschwarzen Haar, das Harry geerbt hatte, und winkte ihm strahlend zu. Und da war seine Mutter, Arm in Arm mit seinem Vater, und sie schwebte fast vor Glück. Und da… das mußte er sein. Der beste Freund seiner Eltern… Harry hatte noch nie einen Gedanken an ihn verschwendet.

Wenn er nicht gewußt hätte, daß es Black war, wäre er anhand dieses alten Fotos nie darauf gekommen. Sein Gesicht war nicht eingesunken und wächsern, sondern hübsch, und er lachte herzlich. Arbeitete er schon damals, als dieses Bild aufgenommen wurde, für Voldemort? Plante er bereits den Tod der beiden Menschen an seiner Seite? War ihm klar, daß ihm zwölf Jahre in Askaban bevorstanden, zwölf Jahre, die ihn bis zur Unkenntlichkeit entstellen würden?

Aber die Dementoren können ihm nichts anhaben, dachte Harry und starrte in das hübsche, lachende Gesicht. Er hört ja schließlich nicht meine Mutter schreien, wenn sie in die Nähe kommen -

Harry klappte das Album zu, beugte sich über das Bett und stellte es zurück in seine Kommode. Er legte den Umhang und die Brille ab und stieg ins Bett, doch zuvor überzeugte er sich davon, daß die Vorhänge zugezogen waren und ihn verbargen.

Die Schlafsaaltür ging auf.

»Harry?«, sagte Ron unsicher.

Doch Harry rührte sich nicht und tat, als ob er schliefe. Er hörte, wie Ron wieder hinausging, und drehte sich dann auf den Rücken, die Augen weit geöffnet.

Ein Haß, wie er ihn noch nie gespürt hatte, durchströmte Harry wie Gift. Er sah Black vor sich, wie er ihn in der Dunkelheit auslachte, als ob jemand das Bild aus dem Album über seine Augen gelegt hätte. Und als ob ihm jemand einen Filmausschnitt zeigte, sah er, wie Sirius Black Peter Pettigrew (der Neville Longbottom ähnelte) in tausend Stücke schoß. Er hörte (auch wenn er keine Ahnung hatte, wie Blacks Stimme klingen mochte) ein leises, begeistertes Murmeln.»Es ist geschehen, mein Meister… die Potters haben mich zu ihrem Geheimniswahrer gemacht…«Und dann erklang eine andere Stimme, schrill lachend, und es war dieses Lachen, das Harry durch den Kopf ging, wenn die Dementoren näher kamen…

Harry hatte erst in der Morgendämmerung Schlaf gefunden Als er schließlich aufwachte, war der Schlafsaal verlassen; er zog sich an und stieg die Wendeltreppe hinunter in den Gemeinschaftsraum, wo nur Ron saß, der eine Pfefferminzkröte aß und sich den Bauch rieb, und Hermine, die ihre Hausaufgaben über drei Tische ausgebreitet hatte.

»Wo sind sie denn alle?«, fragte Harry.

»Nach Hause! Heute ist der erste Ferientag, weißt du nicht mehr?«, sagte Ron und musterte Harry mit scharfem Blick.»Bald gibt's Mittagessen, ich wollte eben nach oben gehen und dich wecken.«

Harry ließ sich in einen Sessel am Feuer fallen. Draußen vor den Fenstern fiel immer noch Schnee. Krummbein lag vor dem Kamin ausgestreckt wie ein großer rostroter Teppichvorleger.

»Du siehst wirklich nicht gut aus«, sagte Hermine und sah ihn besorgt an.

»Mir geht's gut«, sagte Harry.

»Hör zu, Harry«, sagte Hermine und tauschte einen Blick mit Ron,»du mußt wirklich ziemlich durcheinander sein wegen gestern. Aber du darfst auf keinen Fall eine Dummheit begehen.«

»Was denn zum Beispiel?«, sagte Harry.

»Zum Beispiel Black jagen«, sagte Ron scharf.

Harry war sonnenklar, daß sie dieses Gespräch geübt hatten, während er geschlafen hatte. Er sagte nichts.

»Das wirst du nicht tun, oder, Harry?«, sagte Hermine.

»Weil Black es nicht wert ist, daß du seinetwegen stirbst«, sagte Ron.

Harry sah sie an. Sie schienen überhaupt nichts zu begreifen.

»Wißt ihr, was ich jedes Mal, wenn ein Dementor in meine Nähe kommt, sehe und höre?«Ron und Hermine schüttelten die Köpfe und warteten gespannt.»Ich kann hören, wie meine Mutter schreit und Voldemort anfleht. Und wenn ihr eure Mutter so hättet schreien hören, kurz bevor sie umgebracht wurde, dann würdet ihr es nicht so schnell vergessen. Und wenn ihr herausgefunden hättet, daß jemand, der angeblich ihr Freund war, sie verraten und ihr Voldemort auf den Hals gehetzt hätte -«

»Aber daran kannst du doch nichts ändern!«, sagte Hermine, die sehr mitgenommen aussah.»Die Dementoren werden Black fangen und ihn nach Askaban zurückbringen – geschieht ihm recht!«

»Ihr habt gehört, was Fudge gesagt hat. Askaban setzt Black nicht dermaßen zu wie normalen Menschen. Für ihn ist die Strafe nicht so schlimm wie für andere.«

»Also, was willst du damit sagen?«, sagte Ron angespannt.»Willst du etwa – Black umbringen, Harry?«

Wieder antwortete Harry nicht. Er wußte nicht, was er tun wollte. Er wußte nur, daß er die Vorstellung, nichts zu unternehmen, während Black in Freiheit war, fast nicht ertragen konnte.

»Malfoy weiß es«, sagte er plötzlich.»Wißt ihr noch, was er in Zaubertränke gesagt hat? gt;Ich an deiner Stelle würde ihn selbst jagen… ich wollte Rache.lt;«

»Willst du etwa auf Malfoys Rat hören statt auf unseren?«, sagte Ron zornig.»Hör zu… Weißt du, was Pettigrews Mutter bekommen hat, nachdem Black ihn erledigt hatte? Dad hat es mir erzählt – den Orden der Merlin, erster Klasse, und einen Finger ihres Sohnes in einer Schachtel. Das war das größte Stück von ihm, das sie finden konnten. Black ist wahnsinnig, Harry, und er ist gefährlich -«

»Malfoys Vater muß es ihm erzählt haben«, sagte Harry, ohne auf Ron zu achten.

»Er war im engsten Kreis um Voldemort -«

»Nenn ihn doch Du-weißt-schon-wer«, warf Ron unwirsch ein.

»- also wußten die Malfoys offensichtlich, daß Black für Voldemort arbeitete -«

»- und Malfoy würde es liebend gern sehen, wenn du auch in eine Million Stücke zerfetzt wirst, wie Pettigrew! Begreif doch, Malfoy wartet doch nur darauf, daß du dich umbringen läßt, bevor er im Quidditch gegen dich spielen muß.«

»Harry, bitte«, sagte Hermine und in ihren Augen glitzerten jetzt Tränen,»bitte sei vernünftig. Black hat etwas Schreckliches, etwas Abscheuliches getan, aber bring dich nicht selbst in Gefahr, das will Black doch gerade… o Harry, du würdest Black doch direkt in die Hände spielen, wenn du nach ihm suchen würdest. Deine Mum und dein Dad würden nicht wollen, daß er dir etwas antut, oder? Sie würden nie und nimmer wollen, daß du ihn suchst!«

»Ich werde nie wissen, was sie gewollt hätten, denn dank Black habe ich nie mit ihnen gesprochen«, sagte Harry barsch.

Stille trat ein. Krummbein reckte sich genüßlich und fuhr seine Krallen aus. In Rons Tasche zitterte es.

»Sieh mal«, sagte Ron, offenbar auf der Suche nach einem anderen Thema,»wir haben Ferien! Bald ist Weihnachten! Laß uns – laß uns runtergehen und bei Hagrid reinschauen, wir haben ihn schon seit Ewigkeiten nicht mehr besucht.«

»Nein!«, warf Hermine rasch ein,»Harry darf das Schloß nicht verlassen, Ron -«

Ja, laßt uns gehen«, sagte Harry und richtete sich auf.»dann kann ich ihn fragen, wieso er Black immer ausgelassen hat, als er mir alles über meine Eltern erzählte.«

Schon wieder wegen Sirius Black zu streiten war natürlich nicht Rons Absicht gewesen.

»Oder wir könnten eine Partie Schach spielen«, sagte er hastig,»oder Koboldstein, Percy hat ein Spiel dagelassen -«

»Nein, wir besuchen Hagrid«, sagte Harry bestimmt.

So holten sie ihre Umhänge aus den Schlafsälen, kletterten durch das Porträtloch (»Stellt euch und kämpft, ihr gelbbäuchigen Bastarde«), stiegen ins verlassene Schloß hinunter und traten durch die Eichenportale hinaus ins Freie.

Langsam schlurften sie über den Rasen und zogen einen flachen Graben im glitzernden Pulverschnee; ihre Socken und Umhangsäume waren durchnäßt und mit Eiskrusten übersät. Der Verbotene Wald kam ihnen vor, als wäre er verzaubert, alle Bäume glänzten silbern und Hagrids Hütte sah aus wie ein Stück glacierter Kuchen.

Ron klopfte, doch es kam keine Antwort.

»Er ist doch nicht etwa draußen?«, sagte Hermine, die unter ihrem Umhang bibberte.

Doch Ron preßte bereits ein Ohr an die Tür.

»Da ist so ein komisches Geräusch«, sagte er.»Hört mal – ist das vielleicht Fang?«

Auch Harry und Hermine legten die Ohren an die Tür. Von drinnen hörten sie ein leises, bebendes Stöhnen.

»Meint ihr, wir sollten besser jemanden holen?«, sagte Ron nervös.

»Hagrid!«, rief Harry,»Hagrid, bist du da?«

Sie hörten schwere Schritte, dann ging quietschend die Tür auf. Hagrid stand vor ihnen mit roten und verschwollenen Augen; Tränen liefen an seiner Lederweste herunter.

»Du hast doch gehört!«, polterte er und warf sich jählings Harry um den Hals.

Bei Hagrid, der mindestens doppelt so groß war wie ein normaler Mensch, war dies nicht zum Lachen. Schon knickte Harry unter Hagrids Last ein. Ron und Hermine kamen zu seiner Rettung, packten Hagrid an den Armen und hievten ihn mit Harrys Hilfe zurück in die Hütte. Hagrid ließ es zu, daß sie ihn zu einem Stuhl bugsierten. Er sackte über dem Tisch zusammen und fing haltlos an zu schluchzen; sein Gesicht glitzerte von Tränen, die auf seinen krausen Bart tropften.

»Hagrid, was ist denn los?«, fragte Hermine vollkommen baff.

Erst jetzt bemerkte Harry einen amtlich wirkenden Brief aufgefaltet auf dem Tisch liegen.

»Was ist das, Hagrid?«

Hagrid begann noch heftiger zu schluchzen, doch er schob Harry den Brief zu. Der hob ihn hoch und las vor:

Sehr geehrter Mr Hagrid,

im Zuge unserer Untersuchung des Angriffs eines Hippogreifs auf einen Schüler in Ihrem Unterricht vertrauen wir der Versicherung Professor Dumbledores, daß Sie für den bedauerlichen Zwischenfall keine Verantwortung tragen.

»Na also, Hagrid, ist doch gut!«, sagte Ron und klatschte Hagrid auf die Schulter. Doch Hagrid schluchzte nur und mit seiner Riesenpranke gestikulierend bedeutete er Harry, den Brief weiterzulesen.

Allerdings müssen wir unsere Besorgnis über den fraglichen Hippogreif zum Ausdruck bringen. Wir haben beschlossen, die offizielle Beschwerde von Mr Lucius Malfoy zu unterstützen, und übergeben die Angelegenheit daher dem Ausschuß für die Beseitigung gefährlicher Geschöpfe. Die Anhörung findet am 20.

April statt und wir bitten Sie, sich an diesem Tag mit Ihrem Hippogreif in den Amtsräumen des Ausschusses in London einzufinden. In der Zwischenzeit muß der Hippogreif von den anderen Tieren abgesondert und angebunden werden.

Mit kollegialen Grüßen

Es folgte eine Liste der Schulbeiräte.

»Oh«, sagte Ron.»Aber du hast gesagt, Seidenschnabel ist kein schlechter Hippogreif, Hagrid. Ich wette, er kommt davon -«

»Du kennst diese Widerlinge in diesem Ausschuß nicht!«, würgte Hagrid hervor und wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel.»Die haben's auf interessante Geschöpfe abgesehen!«

Ein plötzliches Geräusch von hinten ließ Harry, Ron und Hermine herumfahren. Seidenschnabel, der Hippogreif, lag in einer Ecke der Hütte und hackte auf etwas herum, aus dem Blut über den ganzen Boden sickerte.

»Ich konnte ihn doch nicht angebunden draußen im Schnee lassen«, schluchzte Hagrid.»Ganz alleine! Und an Weihnachten!«

Harry, Ron und Hermine sahen sich an. Sie hatten mit Hagrid nie ernsthaft über die»interessanten Geschöpfe«gesprochen, wie er sie nannte, während andere Leute von»schrecklichen Monstern«sprachen. Andererseits schien von Seidenschnabel keine besondere Gefahr auszugehen. Und wenn sie an Hagrids andere Monster dachten, wirkte er sogar ganz niedlich.

»Du mußt dir eine gute und starke Verteidigung einfallen lassen, Hagrid«, sagte Hermine, während sie sich setzte und die Hand auf Hagrids massigen Unterarm legte.»Ich bin sicher, du kannst beweisen, daß Seidenschnabel ganz harmlos ist.«

»Das macht auch kein' Unterschied«, jammerte Hagrid.»Diese Teufel vom Beseitigungsausschuß, die hat Lucius Malfoy doch alle in der Tasche! Haben Angst vor ihm! Und wenn ich bei der Anhörung verliere, wird Seidenschnabel -«

Hagrid fuhr flink mit dem Finger über seinen Hals, dann brach er in lautes Wehklagen aus und ließ seinen Kopf auf die Arme fallen.

»Was ist mit Dumbledore, Hagrid?«, sagte Harry.

»Der hat schon viel zu viel für mich getan«, stöhnte Hagrid.»Hat genug Scherereien, muß diese Dementoren vom Schloß fernhalten, und dazu kommt noch Sirius Black, der hier rumschleicht -«

Ron und Hermine warfen Harry einen raschen Blick zu, als ob sie erwarteten, er würde Hagrid ausschelten, weil er ihm nicht die Wahrheit über Black gesagt hatte. Doch Harry brachte es nicht über sich, nicht jetzt, da er Hagrid so bedrückt und verängstigt vor sich sah.

»Hör zu, Hagrid«, sagte er,»Hermine hat Recht. Du darfst nicht aufgeben, du brauchst nur eine gute Verteidigung. Du kannst uns als Zeugen aufrufen -«

»Ich bin mir fast sicher, daß ich mal von einem Rechtsstreit wegen einer Hippogreif-Schlägerei gelesen habe«, sagte Hermine nachdenklich,»und der Hippogreif ist davongekommen. Ich schlag's für dich nach, Hagrid, und seh mir an, was da genau passiert ist.«

Hagrid heulte nur noch lauter. Harry und Hermine wandten sich Hilfe suchend an Ron.

»Ähm – soll ich 'ne Tasse Tee machen?«

Harry starrte ihn an.

»Das tut meine Mum auch immer, wenn jemand durchgedreht ist«, murmelte Ron schulterzuckend.

Endlich, nachdem sie Hagrid noch viele Male ihre Hilfe versprochen hatten und er eine dampfende Tasse Tee vor sich hatte, schnäuzte er sich mit einem tischtuchgroßen Taschentuch und sagte:

»Ihr habt Recht, ich kann hier nicht einfach in Grund und Boden versinken. Muß mich zusammenreißen…«

Fang, der Saurüde, kroch schüchtern unter dem Tisch hervor und legte den Kopf auf Hagrids Knie.

»War in letzter Zeit einfach nicht mehr der Alte«, sagte Hagrid und streichelte Fang mit einer Hand und wischte sich das Gesicht mit der andern.»Mach mir Sorgen wegen Seidenschnabel, und daß keiner meinen Unterricht mag -«

»Wir finden ihn gut!«, log Hermine sofort.

»Ja, ist wirklich toll!«, sagte Ron und kreuzte dabei die Finger unter dem Tisch.»Ahm – wie geht's den Flubberwürmern?«

»Tot«, sagte Hagrid düster.»Zu viel Salat.«

»O nein!«, sagte Ron mit zuckenden Lippen.

»Und diese Dementoren spielen mir ganz übel mit, könnt ihr glauben«, sagte Hagrid unter jähem Schaudern.»Muß jedes Mal an denen vorbei, wenn ich in den Drei Besen einen trinken will. Als ob ich wieder in Askaban wäre -«

Er verfiel in Schweigen und nahm nur noch hin und wieder einen Schluck Tee. Harry, Ron und Hermine starrten ihn atemlos gespannt an. Nie hatte er ihnen von seiner kurzen Haft in Askaban erzählt. Nach einer Weile sagte Hermine schüchtern:

»Ist es schlimm dort, Hagrid?«

»Du hast ja keine Ahnung«, sagte Hagrid leise.»Hab noch nie so was erlebt. Dachte, ich würde verrückt. Ständig ging mir fürchterliches Zeugs durch den Kopf… der Tag, an dem sie mich aus Hogwarts rausgeworfen haben… der Tag, an dem mein Dad gestorben ist… der Tag, an dem ich Norbert gehen lassen mußte…«

Seine Augen füllten sich mit Tränen. Norbert war das Drachenbaby, das Hagrid einst beim Kartenspiel gewonnen hatte.

»Du weißt nach 'ner Zeit nicht mehr, wer du bist. Und du weißt nicht mehr, warum du überhaupt noch leben sollst. Ich hab immer gehofft, ich würd einfach im Schlaf sterben… als sie mich rausgelassen haben, war es, als wär ich neu geboren, alles kam wieder auf mich eingeströmt, es war das schönste Gefühl der Welt. Aber ich sag euch, die Dementoren waren gar nicht begeistert davon, daß sie mich gehen lassen mußten.«

»Aber du warst unschuldig!«, sagte Hermine.

Hagrid schnaubte.

»Glaubt ihr, das spielt für die 'ne Rolle? Ist ihnen schnurzegal. Solange ein paar hundert Menschen dort um sie her festsitzen und sie ihnen alles Glück aussaugen können, schert es sie keinen Deut, wer schuldig ist und wer nicht.«

Hagrid verstummte einen Moment und starrte in seinen Tee. Dann sagte er leise:

»Dachte, ich laß Seidenschnabel einfach frei… vielleicht krieg ich ihn dazu, fortzufliegen… Aber wie erklärst du einem Hippogreif, daß er sich verstecken muß? Und – und ich hab Angst, das Gesetz zu brechen…«Er sah sie an und wieder rannen Tränen über seine Wangen.»Ich will nie mehr zurück nach Askaban.«

Der Besuch bei Hagrid war zwar nicht gerade lustig gewesen, doch er hatte die Wirkung, die Ron und Hermine erhofft hatten. Obwohl Harry Black keineswegs vergessen hatte, konnte er nicht ständig über Rache nachbrüten, wenn er Hagrid in seiner Sache gegen den Ausschuß für die Beseitigung gefährlicher Geschöpfe helfen wollte. Am nächsten Tag gingen er, Ron und Hermine in die Bibliothek und kehrten mit den Armen voller Bücher in den leeren Geineinschaftsraum zurück. Vielleicht stand etwas Hilfreiches für die Verteidigung Seidenschnabels drin. Alle drei setzten sich vor das prasselnde Feuer und blätterten langsam durch die Seiten der verstaubten Bände über berühmte Fälle wild gewordener Biester. Nur gelegentlich wechselten sie ein paar Worte, wenn sie auf etwas Wichtiges stießen.

»Hier ist was… im Jahr 1722 gab es einen Fall… aber der Hippogreif wurde verurteilt – urrgh, schaut mal, was sie mit ihm gemacht haben, das ist ja abscheulich -«

»Das hilft uns vielleicht weiter, seht mal – im Jahr 1296 hat ein Mantikor jemanden zerfleischt und sie haben ihn freigelassen – oh – nein, das war nur, weil sie alle zu viel Angst hatten und keiner sich in seine Nähe traute…«

Unterdessen war das Schloß wie immer herrlich weihnachtlich geschmückt worden, auch wenn kaum Schüler dageblieben waren, die sich darüber freuen konnten. Dicke Büschel aus Stechpalmenzweigen und Misteln zogen sich die Korridore entlang, aus den Rüstungen leuchteten geheimnisvolle Lichter und in der Großen Halle prangten die üblichen zwölf Weihnachtsbäume, an denen goldene Sterne glitzerten. Ein überwältigender und leckerer Geruch aus den Küchen wehte durch die Korridore und am Weihnachtsabend war er so stark geworden, daß selbst Krätze die Nase aus Rons schützender Tasche herausstreckte und hoffnungsvoll schnupperte.

Am Weihnachtsmorgen weckte Ron Harry, indem er ihm ein Kissen an den Kopf warf.

»Hallo! Geschenke!«

Harry tastete nach seiner Brille und setzte sie auf, dann schaute er durch das Halbdunkel zum Bettende, wo ein kleiner Haufen Päckchen lag. Ron war schon dabei, das Papier von seinen Geschenken zu reißen.

»Noch ein Pulli von Mum… wieder kastanienbraun sieh nach, ob du auch einen hast.«

Harry hatte. Mrs Weasley hatte ihm einen scharlachroten Pulli geschickt, den Gryffindor-Löwen auf die Brust gestickt, zusammen mit einem Dutzend selbst gebackener Pfefferminztörtchen, einem Stück Weihnachtskuchen und einer Schachtel Nußkrokant. Als er all diese Sachen beiseite schob, sah er ein langes, schmales Paket darunter liegen.

»Was ist das?«, fragte Ron, der mit einem frisch ausgepackten Paar kastanienbrauner Socken in der Hand zu ihm herübersah.

»Keine Ahnung…«

Harry riß das Päckchen auf und erstarrte mit offenem Mund, als ein schimmernder Besen auf seine Bettdecke rollte. Ron ließ die Socken fallen und sprang vom Bett, um sich die Sache näher anzusehen.

»Ich faß es nicht«, sagte er mit rauher Stimme.

Es war ein Feuerblitz, der gleiche wie der Traumbesen, den sich Harry Tag für Tag in der Winkelgasse angesehen hatte. Der Stiel glänzte, als er ihn hochhielt. Er spürte ihn vibrieren und ließ ihn los; er blieb mitten in der Luft schweben, ohne Halt, auf genau der richtigen Höhe, um ihn besteigen zu können. Harrys Augen wanderten von der goldenen Seriennummer an der Spitze des Stiels hinüber zu den vollkommen glatten, stromlinienförmig gestutzten Birkenzweigen, die den Schweif bildeten.

»Wer hat dir den geschickt?«, fragte Ron mit andächtiger Stimme.

»Schau nach, ob irgendwo eine Karte rumliegt«, sagte Harry.

Ron zerriß die Verpackung des Feuerblitzes.

»Nichts! Meine Güte, wer sollte denn so viel Gold für dich ausgeben?«

»Nun«, sagte Harry völlig verdutzt,»ich wette jedenfalls, daß es nicht die Dursleys waren.«

»Ich wette, es war Dumbledore«, sagte Ron, der jetzt Runde um Runde um den Feuerblitz drehte und jeden herrlichen Zentimeter genüßlich betrachtete.»Er hat dir auch den Tarnumhang anonym geschickt…«

»Der gehörte allerdings meinem Dad«, sagte Harry.»Dumbledore hat ihn nur an mich weitergegeben. Er würde keine fünfhundert Galleonen für mich ausgeben. Das kann er einfach nicht machen, seinen Schülern solche Sachen schenken -«

»Deshalb sagt er ja nicht, daß es von ihm ist!«, sagte Ron,»damit so 'n Dödel wie Malfoy nicht sagen kann, er würde dich bevorzugen. Hei, Harry -«, Ron lachte schallend auf,»Malfoy! Warte, bis er dich auf dem Besen sieht! Dem wird speiübel werden! Dieser Besen ist nach internationalem Standard gebaut, sag ich dir!«

»Ich kann's einfach nicht glauben«, murmelte Harry und fuhr mit der Hand über den Feuerblitz, während Ron auf Harrys Bett sank und sich dumm und dusselig lachte beim Gedanken an Malfoy.»Wer -?«

»Ich weiß«, sagte Ron und gab sich einen Ruck.»Ich weiß, wer es sein könnte – Lupin!«

»Was?«, sagte Harry und fing jetzt selbst an zu lachen.»Lupin? Hör mal, wenn der so viel Gold hätte, könnte er sich doch einen neuen Umhang zulegen.«

»Ja, schon, aber er mag dich«, sagte Ron.»Und er war nicht da, als dein Nimbus zu Bruch ging, und hat vielleicht davon gehört und beschlossen, dir in der Winkelgasse den Besen zu -«

»Was meinst du damit, er war nicht da?«, sagte Harry.»Er war krank, als wir dieses Spiel hatten.«

Jedenfalls war er nicht im Krankenflügel«, sagte Ron.»Ich war nämlich da und hab die Bettpfannen geputzt, du weißt doch, diese Strafarbeit von Snape?«

Harry sah Ron stirnrunzelnd an.

»Ich glaub nicht, daß Lupin sich so etwas leisten kann.«

»Worüber lacht ihr beide denn?«

Hermine war in ihrem Morgenmantel und mit Krummbein auf dem Arm hereingekommen. Der Kater schien über sein Halsband aus Lametta nicht gerade erfreut und schaute grantig aus den Augen.

»Bring ihn bloß nicht hier rein!«, sagte Ron, wühlte rasch in den Untiefen seines Bettes nach Krätze und verstaute ihn in seiner Schlafanzugjacke. Doch Hermine achtete nicht auf ihn. Sie ließ Krummbein auf das leere Bett von Seamus fallen und starrte mit offenem Mund auf den Feuerblitz.

»O Harry! Wer hat dir den denn geschenkt?«

»Keine Ahnung«, sagte Harry.»War keine Karte oder so was dabei.«

Zu seiner großen Verwunderung schien Hermine von dieser Mitteilung weder besonders überrascht noch begeistert. Im Gegenteil, sie zog eine Schnute und biß sich auf die Lippen.

»Was ist los mit dir?«, fragte Ron.

»Ich weiß nicht«, sagte sie langsam,»aber es ist ein wenig merkwürdig, oder? Das ist doch angeblich ein ziemlich guter Besen, oder?«

Ron seufzte ungehalten.

»Das ist der beste Besen, den es gibt, Hermine«, sagte er.

»Also muß er ziemlich teuer gewesen sein…«

»Hat wahrscheinlich mehr gekostet als alle Besen der Slytherins zusammen«, sagte Ron ausgelassen.

»Na also… wer würde Harry etwas so Teures schicken und nicht einmal seinen Namen verraten?«, sagte Hermine.

»Wen kümmert das?«, sagte Ron ungeduldig.»Hör mal, Harry, kann ich ihn kurz ausfliegen?«

»Ich glaube nicht, daß einer von euch gerade jetzt mit diesem Besen fliegen sollte!«, sagte Hermine schrill.

Harry und Ron starrten sie an.

»Was, glaubst du, soll Harry damit anfangen – den Boden fegen?«, sagte Ron.

Doch bevor Hermine antworten konnte, sprang Krummbein von Seamus' Bett herüber und warf sich mit ausgefahrenen Krallen auf Rons Brust.

»Schmeiß – das – Biest – hier – raus!«, brüllte Ron, während Krummbein seinen Schlafanzug zerfetzte und Krätze einen verzweifelten Fluchtversuch über seine Schultern unternahm. Ron packte Krätze am Schwanz und trat mit dem Fuß nach Krummbein, jedoch vergeblich, denn er traf nur den Koffer am Fuß von Harrys Bett. Der Koffer kippte um und Ron hopste jaulend vor Schmerz auf einem Fuß durch das Zimmer.

Plötzlich sträubte sich Krummbeins Fell. Ein schrilles, blechernes Pfeifen erfüllte den Raum. Das Taschenspickoskop war aus Onkel Vernons alten Socken gekullert und lag jetzt surrend und blitzend auf dem Boden.

»Das hab ich ganz vergessen!«, sagte Harry, bückte sich und hob das Spickoskop auf»Diese Socken trag ich möglichst nie…«

Das Spickoskop surrte und pfiff in seiner Hand. Krummbein starrte es fauchend und knurrend an.

Ron saß auf Harrys Bett und rieb sich den Zeh.»Den Kater bringst du jetzt besser raus, Hermine«, sagte er wütend.»Kannst du dieses Ding nicht abstellen?«, fügte er an Harry gewandt hinzu, während Hermine mit Krummbein, dessen gelbe Augen immer noch heimtückisch auf Ron gerichtet waren, mit erhobenem Haupt hinausmarschierte.

Harry stopfte das Spickoskop zurück in die Socken und warf es in seinen Koffer. Alles, was sie jetzt noch hören konnten, waren Rons gestöhnte Schmerzens- und Wutbekundungen. Krätze rollte sich in Rons Händen ein. Harry hatte die Ratte schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, und er war unangenehm überrascht, daß sie, einst so fett, jetzt ganz abgemagert war; auch schienen ihr ganze Büschel Fell ausgefallen zu sein.

»Sieht nicht besonders gesund aus, oder?«, sagte Harry.

»Das ist die Aufregung!«, sagte Ron.»Wenn dieser blöde Riesenmuff ihn nur in Ruhe lassen würde, ging's ihm besser!«

Doch Harry, der noch wußte, daß die Frau in der Magischen Menagerie gesagt hatte, Ratten lebten nur drei Jahre, beschlich die ungute Ahnung, daß Krätze, wenn er nicht bald mit Kräften aufwartete, die er bisher verborgen hatte, das Ende seines Lebens erreicht hatte. Und trotz Rons ständiger Beschwerden, daß Krätze langweilig und nutzlos sei, war er sicher, daß Ron sehr traurig sein würde, wenn Krätze tot wäre.

Weihnachtlicher Geist war an diesem Morgen im Gemeinschaftsraum der Gryffindors gewiß nicht übermäßig zu spüren. Hermine hatte Krummbein in ihrem Schlafsaal eingeschlossen, war jedoch sauer auf Ron, weil er nach ihm getreten hatte. Ron rauchte immer noch vor Zorn wegen Krummbeins neuerlichem Versuch, Krätze zu verspeisen. Harry gab die Hoffnung auf, er könnte die beiden dazu bringen, sich wieder zu versöhnen, und wandte sich dem Feuerblitz zu, den er mit in den Gemeinschaftsraum genommen hatte. Aus irgendeinem Grund schien sich Hermine auch darüber zu ärgern; sie sagte nichts, warf jedoch ständig mißmutige Blicke auf den Besen, als ob auch er ihren Kater bekrittelt hätte.

Zum Mittagessen gingen sie hinunter in die Große Halle. Die Tische der vier Häuser waren erneut an die Wände gerückt worden und ein einziger Tisch, gedeckt für zwölf, stand in der Mitte. Die Professoren Dumbledore, McGonagall, Snape, Sprout und Flitwick saßen da, zusammen mit Filch, dem Hausmeister, der seine übliche braune Jacke abgelegt hatte und einen sehr alten und recht mottenzerfressen aussehenden Frack trug. Es waren nur noch drei andere Schüler da, zwei äußerst aufgeregt wirkende Erstkläßler und ein schmollgesichtiger Fünftkläßler von den Slytherins.

»Fröhliche Weihnachten!«, sagte Dumbledore, als Harry, Ron und Hermine auf den Tisch zukamen.»Da wir so wenige sind, schien es mir albern, die Haustische zu nehmen… setzt euch, setzt euch!«

Harry, Ron und Hermine setzten sich nebeneinander an das eine Ende des Tisches.

»Knallbonbons!«, sagte Dumbledore begeistert und bot Snape die Verschnürung eines großen silbernen Bonbons an. Snape packte es zögernd und zog daran. Laut wie ein Pistolenknall flog das Knallbonbon auseinander und es erschien ein großer spitzer Hexenhut, auf dem ein ausgestopfter Geier saß.

Harry, dem die Geschichte mit dem Irrwicht einfiel, fing Rons Blick auf und beide grinsten; Snape preßte die Lippen zusammen und schob den Hut zu Dumbledore hinüber, der ihn sofort anstelle seines Zaubererhuts aufsetzte.

»Haut rein!«, wies er die Tischgesellschaft an und strahlte in die Runde.

Während sich Harry Bratkartoffeln auftat, öffneten sich erneut die Türen der Großen Halle. Es war Professor Trelawney, die wie auf Rädern zu ihnen herübergeglitten kam. Zur festlichen Gelegenheit hatte sie ein grünes, silbern besticktes Kleid angezogen, das sie mehr denn je wie eine glitzernde, übergroße Libelle aussehen ließ.

»Sibyll, das ist ja eine angenehme Überraschung!«, sagte Dumbledore und erhob sich.

»Ich habe in die Kristallkugel geschaut, Direktor«, sagte Professor Trelawney mit ihrer rauchigsten, unirdischsten Stimme,»und zu meiner Verwunderung sah ich, wie ich mein einsames Mahl stehen ließ und mich Ihnen anschloß. Sollte ich denn die Winke des Schicksals mißachten? Auf der Stelle verließ ich meinen Turm und ich bitte Sie inständig, die Verspätung zu entschuldigen…«

»Aber gewiß, gewiß«, sagte Dumbledore mit funkelnden Augen.»Lassen Sie mich einen Stuhl für Sie zeichnen -«

Und tatsächlich zeichnete er mit dem Zauberstab einen Stuhl in die Luft, der sich ein paar Sekunden drehte und dann mit einem dumpfen Knall zwischen die Professoren Snape und McGonagall fiel. Professor Trelawney jedoch setzte sich nicht; ihre riesigen Augen waren am Tisch entlanggewandert und plötzlich stieß sie einen gedämpften Schrei aus.

»Ich wage es nicht, Direktor! Wenn ich mich dazusetze, sind wir dreizehn! Nichts bringt mehr Unglück! Vergessen Sie nie, wenn dreizehn bei Tisch sitzen, wird der Erste, der sich erhebt, sterben!«

»Das werden wir riskieren, Sibyll«, sagte Professor McGonagall ungeduldig.»Bitte setzen Sie sich, der Truthahn wird langsam kalt.«

Professor Trelawney zögerte, dann ließ sie sich auf den leeren Stuhl nieder, mit geschlossenen Augen und zusammengepreßtem Mund, als ob sie fürchtete, ein Gewitterblitz würde auf dem Tisch einschlagen. Professor McGonagall rührte mit einem großen Löffel in einer Terrine.

»Kutteln, Sibyll?«

Professor Trelawney achtete nicht auf sie. Sie öffnete die Augen und blickte erneut in die Runde.

»Aber wo ist der liebe Professor Lupin?«

»Ich fürchte, der arme Kerl ist schon wieder krank«, sagte Dumbledore und bedeutete mit einer Handbewegung, daß sich nun alle bedienen sollten.»Großes Pech, daß es ausgerechnet an Weihnachten passiert.«

»Aber Sie haben das doch sicher gewußt, Sibyll?«, sagte Professor McGonagall mit hochgezogenen Augenbrauen.

Professor Trelawney schenkte Professor McGonagall einen sehr kühlen Blick.

»Natürlich wußte ich es, Minerva«, sagte sie leise.»Aber man geht nicht mit der Tatsache hausieren, daß man allwissend ist. Häufig tue ich so, als ob ich nicht im Besitz des Inneren Auges wäre, um andere nicht nervös zu machen.«

»Das erklärt eine ganze Menge«, sagte Professor McGonagall säuerlich.

Professor Trelawneys Stimme war plötzlich um einiges weniger rauchig.

»Wenn du es also unbedingt wissen mußt, Minerva, ich habe gesehen, daß Professor Lupin nicht lange bei uns bleiben wird. Er selbst scheint zu wissen, daß seine Zeit knapp bemessen ist. Er ist buchstäblich geflohen, als ich ihm anbot, für ihn in die Kristallkugel zu schauen -«

»Nicht zu fassen«, sagte Professor McGonagall trocken.

»Ich glaube nicht, daß Professor Lupin in unmittelbarer Gefahr ist«, sagte Dumbledore fröhlich, doch mit leisem Nachdruck, was das Gespräch der beiden Lehrerinnen beendete.»Severus, Sie haben ihm doch noch einmal diesen Trank gebraut?«

»ja, Direktor«, sagte Snape.

»Gut«, sagte Dumbledore.»Dann sollte er im Nu wieder auf den Beinen sein… Derek, hast du schon von diesen Grillwürstchen gekostet? Sie sind köstlich.«

Der junge aus der ersten Klasse, so direkt von Dumbledore angesprochen, errötete bis zu den Haarspitzen und griff mit zitternden Händen nach der Platte mit den Würstchen.

Professor Trelawney verhielt sich die nächsten zwei Stunden bis zum Ende des Weihnachtsmahles fast normal. Zum Platzen voll und mit den Hüten aus den Knallbonbons auf den Köpfen erhoben sich Harry und Ron als Erste von der Tafel. Und da kreischte sie laut auf.

»Meine Lieben! Wer von euch ist zuerst aufgestanden? Wer?«

»Keine Ahnung«, sagte Ron und sah Harry verlegen an.

»Ich denke nicht, daß es eine Rolle spielt«, sagte Professor McGonagall kühl,»außer wenn ein Verrückter mit einer Axt draußen vor der Tür wartet, um den Ersten zu meucheln, der in die Eingangshalle kommt.«

Selbst Ron lachte. Professor Trelawney sah höchst pikiert aus.

»Kommst du?«, sagte Harry zu Hermine.

»Nein«, murmelte Hermine,»ich möchte noch kurz mit Professor McGonagall sprechen.«

»Fragt wahrscheinlich, ob sie noch mehr Unterricht nehmen kann«, gähnte Ron, als sie in die Eingangshalle traten, in der weit und breit kein verrückter Axtmörder zu sehen war.

Am Porträtloch angelangt, stellten sie fest, daß Sir Cadogan eine Weihnachtsparty mit ein paar Mönchen, einigen ehemaligen Schulleitern von Hogwarts und seinem fetten Pony feierte. Er schob sein Visier hoch und prostete ihnen mit einem Krug Met zu.

»Fröhliche – hicks – Weihnachten! Paßwort?«

»Fieser Hund.«

»Und Sie auch, Sir!«, dröhnte Sir Cadogan, als das Gemälde zur Seite schwang und sie einließ.

Harry ging gleich hoch in den Schlafsaal, holte den Feuerblitz und das Besenpflege-Set, das ihm Hermine zum Geburtstag geschenkt hatte, brachte sie herunter und suchte dann nach etwas, was er am Feuerblitz ausbessern konnte. Allerdings gab es keine verbogenen Zweige, die man abschnippeln konnte, und der Stiel glänzte so, daß es unsinnig schien, ihn zu polieren. Er und Ron bewunderten ihn einfach aus allen Richtungen, bis sich das Porträtloch öffnete und Hermine hereinkam, begleitet von Professor McGonagall.

Obwohl Professor McGonagall die Leiterin des Hauses Gryffindor war, hatte Harry sie bisher nur einmal im Gemeinschaftsraum gesehen, und das wegen einer sehr ernsten Ankündigung. Die beiden Jungen, die noch immer den Feuerblitz in Händen hielten, starrten ihre Lehrerin an. Hermine ging um sie herum, setzte sich, griff sich das nächste Buch und verbarg ihr Gesicht dahinter.

»Das ist er also, nicht wahr?«, sagte Professor McGonagall umstandslos, ging hinüber zum Kamin und musterte den Feuerblitz.»Miss Granger hat mir soeben mitgeteilt, daß man Ihnen einen Besen geschickt hat, Potter.«

Harry und Ron wandten sich zu Hermine um. Sie konnten sehen, wie ihre Stirn über dem Buch, das sie falsch herum hielt, rot anlief

»Darf ich mal?«, sagte Professor McGonagall, wartete jedoch nicht auf eine Antwort und zog ihnen den Feuerblitz stracks aus den Händen. Sie untersuchte ihn sorgfältig vom Stiel bis zu den Zweigspitzen.»Hmm. Und keine Notiz dazu, Potter? Keine Karte? Keine Mitteilung irgendwelcher Art?«

»Nein«, sagte Harry schlicht.

»Verstehe…«, sagte Professor McGonagall.»Nun, ich fürchte, ich werde ihn beschlagnahmen müssen, Potter.«

»W… wie bitte?«, sagte Harry und rappelte sich hoch.»Warum?«

»Er muß auf Zauberflüche überprüft werden«, sagte Professor McGonagall.»Ich bin natürlich keine Fachfrau, aber ich bin sicher, Madam Hooch und Professor Flitwick werden ihn auseinander nehmen.«

»Ihn auseinander nehmen?«, wiederholte Ron, als ob Professor McGonagall verrückt geworden wäre.

»Es dürfte nicht mehr als ein paar Wochen dauern«, sagte Professor McGonagall.»Sie bekommen ihn zurück, wenn wir sicher sind, daß er nicht verhext ist.«

»Der ist völlig in Ordnung!«, sagte Harry mit leichtem Zittern in der Stimme.»Ehrlich, Professor -«

»Das können Sie nicht wissen, Potter«, sagte Professor McGonagall recht freundlich,»jedenfalls nicht, bis Sie ihn geflogen haben, und ich fürchte, das kommt nicht in Frage, bis wir sicher sind, daß damit kein Hokuspokus getrieben wurde. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«

Professor McGonagall machte auf dem Absatz kehrt und trug den Feuerblitz aus dem Porträtloch, das sich hinter ihr schloß. Harry stand da und starrte ihr nach, die Dose mit der Hochglanzpolitur immer noch in der Hand. Ron jedoch machte sich über Hermine her.

»Wieso rennst du eigentlich zu McGonagall?«

Hermine warf ihr Buch beiseite. Sie war immer noch rosa im Gesicht, doch sie stand auf und sah Ron verteidigungslustig ins Gesicht.

»Weil ich dachte – und Professor McGonagall stimmt mir zu -, daß es vielleicht Sirius Black war, der Harry den Besen geschickt hat!«