"Harry Potter und der Gefangene von Askaban" - читать интересную книгу автора (Rowling Joanne K.)

Kater, Ratte, Hund

Harry war so entsetzt, daß er keinen Gedanken mehr fassen konnte. Gelähmt vor Schreck standen sie unter dem Tarnumhang. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchten das Land und die langen Schatten der Bäume in blutrotes Licht. Dann hörten sie ein wildes Heulen.

»Hagrid«, murmelte Harry. Unwillkürlich machte er kehrt, doch Ron und Hermine packten ihn an den Armen.

»Wir können jetzt nicht zu ihm«, sagte Ron, das Gesicht weiß wie Papier.»Wenn sie rauskriegen, daß wir ihn besucht haben, wird alles noch viel schlimmer für ihn…«

Hermine atmete flach und unregelmäßig.

»Wie… wie konnten sie nur?«, würgte sie hervor.»Wie konnten sie das tun?«

»Gehen wir«, sagte Ron mit klappernden Zähnen.

Sie gingen weiter und achteten unter dem Tarnumhang sorgfältig auf ihre Schritte, um sich nicht zu verraten. Das Tageslicht erstarb rasch. Als sie freies Gelände erreicht hatten, legte sich die Dunkelheit wie ein Fluch über sie.

»Gib Ruhe, Krätze«, zischte Ron und preßte die Hand auf die Brusttasche. Die Ratte strampelte und kratzte verzweifelt. Ron blieb plötzlich stehen und versuchte Krätze tiefer in die Tasche zu zwängen.»Was ist los mit dir, du dumme Ratte? Ruhe jetzt – autsch! Er hat mich gebissen!«

»Sei leise, Ron!«, flüsterte Hermine eindringlich.»Fudge wird sicher gleich kommen -«

»Er – will – einfach – nicht – dableiben -«

Krätze hatte offensichtlich Höllenangst. Er sträubte sich mit aller Kraft und versuchte aus Rons Griff zu entkommen.

»Was ist eigentlich los mit ihm -?«

Doch Harry hatte es schon gesehen – etwas schlich auf sie zu, den Körper an den Boden geschmiegt, die weit aufgerissenen gelben Augen gespenstisch in der Dunkelheit glimmend – Krummbein. Ob er sie sehen konnte oder nur Krätzes Quieken folgte, wußte Harry nicht zu sagen.

»Krummbein!«, stöhnte Hermine,»nein, Krummbein, hau ab!«

Doch der Kater kam näher.

»Krätze – nein!«

Zu spät – die Ratte entglitt Rons Fingern, fiel zu Boden und raschelte davon. Mit einem gewaltigen Sprung setzte ihr Krummbein nach, und bevor Harry oder Hermine auch nur die Hand rühren konnte, warf Ron den Tarnumhang ab und rannte ihnen hinterher in die Dunkelheit.

»Ron!«, seufzte Hermine.

Harry und Hermine sahen sich kurz an, dann stürzten auch sie los; richtig rennen konnten sie nicht unter dem Tarnumhang, und so warfen sie ihn ab und ließen ihn hinter sich herflattern wie eine Fahne. Vor sich hörten sie das schnelle Getrommel von Rons Füßen.

»Laß ihn in Ruhe – hau ab – Krätze, komm hierher -«

Es gab einen dumpfen Aufschlag.

»Hab ich dich! Hau ab, du stinkender Kater -«

Fast wären Harry und Hermine über Ron gestolpert. Er lag rücklings auf dem Boden, doch Krätze war wieder in seiner Tasche; mit beiden Händen drückte er fest auf die zitternde Beule.

»Ron – komm jetzt – zurück unter den Umhang -«, keuchte Hermine.»Dumbledore – und der Minister – sie kommen sicher gleich hier lang -«

Doch bevor sie sich wieder tarnen konnten, ja bevor sie wieder zu Atem kamen, hörten sie das leise Trommeln riesiger Pfoten… etwas kam auf sie zugesprungen, stumm wie ein Schatten – ein riesiger, fahläugiger, rabenschwarzer Hund.

Harry griff nach dem Zauberstab, doch zu spät – der Hund hatte einen gewaltigen Sprung gemacht und stieß mit den Vorderpfoten gegen Harrys Brust; unter einem Wirbel von Haaren stürzte er zu Boden; er spürte den heißen Atem des Hundes über sich, sah seine fingerlangen Zähne -

Doch die Schnellkraft seines Sprungs ließ den Hund über Harry hinwegrollen; Harry hatte das Gefühl, sämtliche Rippen wären ihm gebrochen; ganz benommen wollte er sich aufrichten, doch er hörte, wie sich der Hund knurrend zu einem neuen Angriff bereitmachte.

Ron war inzwischen auf den Beinen – wieder setzte der Hund zum Sprung an, doch diesmal stieß er Harry nur beiseite – und sein Maul klammerte sich um Rons ausgestreckten Arm; Harry warf sich auf ihn und packte eine Hand voll Fellhaare, doch das Untier zerrte Ron mit sich fort, so mühelos, als wäre er eine Stoffpuppe -

Dann, aus dem Nichts, schlug Harry etwas so heftig ins Gesicht, daß er wieder den Boden unter den Füßen verlor. Auch Hermine schrie vor Schmerz und er hörte sie stürzen.

Harry tastete nach seinem Zauberstab -

»Lumos!«, flüsterte er.

Das Licht des Zauberstabs fiel auf den dicken Stamm eines Baumes; sie hatten Krätze in den Schatten der Peitschenden Weide verfolgt, deren Zweige ächzten, als herrsche Sturm, peitschend schlugen sie aus und verwehrten ihnen jeden weiteren Schritt auf sie zu.

Und dort, unten am Fuß des Baumstamms, war der Hund. Er zerrte Ron fort, hinein in eine große Erdspaltezwischen den Wurzeln – Ron wehrte sich verzweifelt, doch schon war sein Kopf verschwunden -

»Ron!«, rief Harry und versuchte ihm zu folgen, doch ein kräftiger Zweig peitschte ihm todbringend entgegen und er mußte zurückweichen.

Jetzt war nur noch Rons Bein zu sehen, mit dem er sich an einer Wurzel festgehakt hatte, um nicht weiter in die Tiefe gezerrt zu werden – doch ein fürchterliches Knacken durchschnitt die Luft wie ein Gewehrschuss; Rons Bein war gebrochen und schon war sein Fuß verschwunden.

»Harry – wir müssen Hilfe holen -«, keuchte Hermine; auch sie blutete; die Peitschende Weide hatte ihr die Schulter aufgerissen.

»Nein!«, sagte Harry und wollte Ron nachstürzen, doch wieder surrte ein dicker Zweig durch die Luft und er konnte sich gerade noch rechtzeitig wegducken.»Dieser Köter ist groß genug, um ihn zu fressen, wir haben nicht die Zeit -«

»Harry – ohne Hilfe kommen wir nie durch -«

Wieder schlug ein Ast nach ihnen aus, die kleinen Zweige geballt wie Fäuste.

»Wenn dieser Köter dort reinkommt, dann kommen wir auch rein«, keuchte Harry. Immer wieder wollte er unter den Baum vorstoßen, doch er kam keinen Schritt näher an die Wurzeln, ohne sich den Hieben seiner Zweige auszusetzen.

»Oh, Hilfe, Hilfe«, flüsterte Hermine verzweifelt und tänzelte ratlos auf der Stelle,»bitte…«

Pfeilschnell schoß Krummbein an ihnen vorbei. Wie eine Schlange wich er den Hieben der Weide aus und setzte dann die Vorderpfote auf einen Knoten am Baumstamm.

Sofort erstarrte der ganze Baum, als wäre er zu Stein geworden. Kein Zweig rührte sich, kein Blatt zitterte.

»Krummbein!«, flüsterte Hermine argwöhnisch. Sie klammerte sich so fest an Harrys Arm, daß es wehtat.»Woher wußte er das -?«

»Er ist mit diesem Hund befreundet«, sagte Harry grimmig.»Ich hab sie zusammen gesehen. Komm – und halt deinen Zauberstab bereit -«

Im Handumdrehen waren sie beim Baumstamm, doch bevor sie den Spalt zwischen den Wurzeln erreicht hatten, war Krummbein schon hineingesprungen. Sie sahen nur noch seinen Schwanz, kräftig wie eine Flaschenbürste, vor ihnen herwedeln. Harry folgte ihm; mit dem Kopf voran krabbelte er hinein, glitt eine Erdrutsche hinunter und landete auf dem Boden eines sehr niedrigen Tunnels. Ein paar Meter vor ihm blitzten Krummbeins Augen im Licht seines Zauberstabs. Sekunden später kam Hermine runtergeschlittert und landete neben ihm.

»Wo ist Ron?«, flüsterte sie ängstlich.

»Da lang«, sagte Harry und folgte Krummbein mit gebeugtem Rücken.

»Wohin führt dieser Tunnel?«, keuchte Hermine hinter ihm.

»Ich weiß nicht… er ist auf der Karte des Rumtreibers eingezeichnet, aber Fred und George glauben, hier sei noch keiner reingekommen… die Karte zeigte nicht, wo er endet, aber es sah so aus, als würde er nach Hogsmeade führen…«

Tief gebückt liefen sie, so schnell sie konnten; immer wieder erhaschten sie einen Blick auf Krummbeins Schwanz. Der Geheimgang schien nicht enden zu wollen; er kam Harry so lang vor wie der zum Honigtopf. Er dachte nur noch an Ron und stellte sich vor, was der Riesenhund mit ihm anstellen konnte… er rannte weiter, die Hände fast auf dem Boden, erschöpft um Luft ringend…

Endlich begann der Tunnel anzusteigen; kurz darauf ging es in eine Biegung und Krummbein war verschwunden.

Doch jetzt konnte Harry einen schwachen Lichtfleck erkennen, der durch eine kleine Öffnung fiel.

Die beiden hielten inne und rangen nach Atem, dann drangen sie weiter vor. Sie hoben ihre Zauberstäbe, um zu sehen, was hinter der Öffnung lag.

Es war ein Zimmer, wüst und staubig. Die Tapeten schälten sich von den Wänden; – der ganze Fußboden war mit Flecken bedeckt; alle Möbel waren kaputt, als ob sie jemand zertrümmert hätte. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt.

Harry warf Hermine einen Blick zu. Sie schien verängstigt, nickte aber.

Harry zog sich nach oben aus dem Loch und schaute sich um. niemand war in diesem Raum, doch zur Rechten stand eine Tür offen, die in einen düsteren Flur führte. Plötzlich packte Hermine Harrys Arm. Ihre aufgerissenen Augen wanderten über die vernagelten Fenster.

»Harry«, flüsterte sie,»ich glaub, wir sind in der Heulenden Hütte.«

Harry sah sich um. Sein Blick fiel auf einen Stuhl neben ihnen. Holzstücke waren rausgerissen worden; ein Stuhlbein war abgerissen.

»Das waren keine Gespenster«, sagte er langsam.

In diesem Augenblick knarrte es über ihren Köpfen. Im oberen Stockwerk hatte sich etwas bewegt. Sie blickten zur Decke. Hermine hatte sich so fest an Harrys Arm geklammert, daß seine Finger taub wurden. Er hob die Augenbrauen und sah sie an; sie nickte ihm zu und ließ ihn los.

So leise sie konnten, schlichen sie hinaus in den Flur und die morsche Treppe hoch. Eine dicke Staubschicht lag überall, nur auf den Stufen hatte etwas Schweres, das nach oben geschleift worden war, einen hellen, glänzenden Streifen hinterlassen.

Oben gelangten sie in einen dunklen Korridor.

»Nox«, flüsterten sie wie aus einem Mund und die Lichter an den Spitzen ihrer Zauberstäbe erloschen. Nur eine Tür stand offen. Als sie sich herantasteten, hörten sie, wie sich etwas dahinter bewegte; ein leises Stöhnen und dann ein tiefes, lautes Schnurren. Sie wechselten einen letzten Blick und ein letztes Kopfnicken.

Harry umklammerte den Zauberstab und hob ihn hoch, dann trat er die Tür auf.

Auf einem prächtigen Himmelbett mit verstaubten Vorhängen fläzte sich Krummbein, der bei Harrys Anblick laut zu schnurren begann. Neben dem Bett auf dem Fußboden lag Ron, die Hände um ein Bein geklammert, das in merkwürdigem Winkel abstand.

Harry und Hermine stürzten zu ihm hin.

»Ron – was ist los mit dir?«

»Wo ist der Hund?«

»Kein Hund«, stöhnte Ron und biß vor Schmerz die Zähne zusammen.»Harry, das ist eine Falle!«

»Was?«

»Er ist der Hund… er ist ein Animagus…«

Ron starrte über Harrys Schulter. Harry wirbelte herum.

Der Mann im Schatten ließ die Tür ins Schloß fallen.

Das schmutzige verfilzte Haar reichte ihm bis zu den Ellbogen. Wenn aus den tiefen, dunklen Höhlen in seinem Gesicht keine Augen geleuchtet hätten, hätte er auch eine Leiche sein können. Die wächserne Haut war so fest über die Knochen gespannt, daß sein Kopf wie ein Totenschädel aussah. Ein Grinsen offenbarte die gelben Zähne. Es war Sirius Black.

»Expelliarmus!«, krächzte er und richtete Rons Zauberstab auf sie.

Harry und Hermine riß es die Zauberstäbe aus den Händen, sie wirbelten durch die Luft und Black fing sie auf, Dann kam er einen Schritt näher. Seine Augen waren unverwandt auf Harry gerichtet.

»Ich Wußte, daß du kommen würdest, um deinem Freund zu helfen«, sagte er heiser. Seine Stimme klang, als hätte er sie schon lange nicht mehr gebraucht.»Dein Vater hätte dasselbe für mich getan. Mutig von dir, nicht erst einen Lehrer zu holen. Ich bin dir dankbar, es wird alles viel leichter machen…«

Die Bemerkung über seinen Vater klang in Harrys Ohren nach, als ob Black ihn angeschrien hätte. Brennender Haß loderte in seiner Brust hoch und ließ für Angst keinen Platz. Zum ersten Mal in seinem Leben wollte er den Zauberstab nicht zurückhaben, um sich zu verteidigen, sondern um anzugreifen… zu töten. Ohne zu wissen, was er tat, wollte er losstürzen, doch neben ihm gab es eine rasche Bewegung und zwei Paar Hände packten ihn und hielten ihn zurück -»Nein Harry!«, flüsterte Hermine, die Augen schreckensstarr; Ron jedoch sprach zu Black.

»Wenn Sie Harry töten wollen, dann müssen Sie uns auch töten!«, sagte er grimmig, doch die Anstrengung, aufrecht zu stehen, trieb ihm den letzten Rest Farbe aus dem Gesicht und er schwankte ein wenig.

In Blacks schattigen Augen flackerte etwas auf

»Leg dich hin«, sagte er leise zu Ron.»Dein Bein ist gebrochen.«

»Haben Sie mich gehört?«, sagte Ron schwach, doch er klammerte sich an Harry, um nicht zu fallen.»Sie müssen uns alle drei umbringen!«

»Es wird heute Nacht nur einen Mord geben«, sagte Black und sein Grinsen wurde breiter.

»Warum das denn?«. fauchte Harry und versuchte sich dem Griff von Ron und Hermine zu entwinden.»Das letzte

Mal hat's Sie doch auch nicht gekümmert, oder? All diese Muggel abzuschlachten, um an Pettigrew zu kommen, hat Ihnen nichts ausgemacht… was ist los, haben sie Sie weich gekriegt in Askaban?«

»Harry!«, wimmerte Hermine.»Sei still!«

»Er hat meine Mum und meinen Dad umgebracht!«, brüllte Harry. Mit einem heftigen Ruck befreite er sich von Hermine, und Ron stürzte sich Black entgegen.

Harry hatte alle Zauberei vergessen – er hatte vergessen, daß er klein und mager und dreizehn war, Black dagegen ein großer, ausgewachsener Mann. Harry wußte nur, daß er Black Schmerz zufügen wollte, so viel wie möglich, und daß es ihm gleich war, wenn Black ihm ebenfalls wehtat.

Vielleicht war Black einen Augenblick zu verdutzt, weil Harry etwas so Dummes tat, jedenfalls hob er die Zauberstäbe nicht rechtzeitig – Harry packte Blacks ausgezehrtes Handgelenk und schob die Zauberstäbe von sich weg; mit der anderen Hand schlug er gegen Blacks Schläfe, daß ihm die Knöchel schmerzten, und beide krachten gegen die Wand.

Hermine schrie auf, Ron brüllte; aus den Zauberstäben in Blacks Hand schossen blendende Lichtblitze, und ein Funkenstrahl verfehlte Harrys Kopf um Haaresbreite; Harry spürte, wie Black den ausgemergelten Arm, den Harry umklammert hielt, verzweifelt losreißen wollte, doch er umklammerte ihn noch fester und schlug mit der anderen Hand wie von Sinnen auf Black ein.

Doch Blacks freie Hand hatte den Weg zu Harrys Gurgel gefunden.

»Nein«, zischte er,»ich hab zu lange gewartet.«

Seine Hand zog sich zu, Harry würgte, die Brille hing ihm schief auf der Nase.

Dann schoß Hermines Fuß wie aus dem Nichts hervor; ächzend vor Schmerz ließ Black Harry los; Ron hatte sich auf Blacks Zauberstabhand geworfen und Harry hörte leises Geklapper.

Er kämpfte sich aus dem Körperknäuel frei und sah seinen Zauberstab über den Boden rollen; er hechtete hinüber, doch -

»Aaarh!«

Krummbein hatte sich ins Getümmel geworfen; die Klauen beider Vorderpfoten gruben sich tief in Harrys Arm; Harry schüttelte ihn ab, doch Krummbein hüpfte jetzt zu Harrys Zauberstab.

»Nein, das tust du nicht!«, brüllte Harry und versetzte Krummbein einen Fußtritt, der ihn fauchend in die Ecke fliegen ließ; Harry schnappte sich den Zauberstab und wandte sich um.

»Aus dem Weg!«, rief er Ron und Hermine zu.

Sie ließen es sich nicht zweimal sagen. Hermine sprang japsend beiseite und warf sich mit blutenden Lippen auf ihren und Rons Zauberstab. Ron kroch hinüber zum Bett und brach röchelnd darauf zusammen. Sein weißes Gesicht war grün gesprenkelt und mit beiden Händen umklammerte er das gebrochene Bein.

Black lag ausgestreckt an der Wand. Seine flache Brust hob und senkte sich rasch, während er mit den Augen Harry folgte, der langsam auf ihn zuging, den Zauberstab direkt auf Blacks Herz gerichtet.

»Wirst du mich töten, Harry?«, flüsterte er.

Harry blieb über ihm stehen, den Zauberstab unverwandt auf Blacks Brust gerichtet, und sah zu ihm hinab. Ein brennender Riß zog sich um sein linkes Auge, und seine Nase blutete.

»Sie haben meine Eltern getötet«, sagte Harry mit leichtem Zittern in der Stimme, doch die Hand mit dem Zauberstab war vollkommen ruhig.

Black starrte aus seinen eingesunkenen Augen zu ihm hoch.

»Ich leugne es nicht«, sagte er ganz ruhig.»Aber ich habe es nicht gewollt.«

»Sie haben es nicht gewollt?«, wiederholte Harry; er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen.»Sie haben Voldemort gesagt, wo er sie finden kann, und Sie wußten nicht, daß er sie töten würde?«

»Hör mir zu«, sagte Black, und ein flehender Ton lag jetzt in seiner Stimme.»Töte mich, wenn du willst, aber zuerst hör mich an… wenn nicht, wirst du es bereuen… du verstehst nicht…«

»Ich verstehe nicht?«, sagte Harry und jetzt bebte ihm die Stimme.»Sie haben sie gehört, oder nicht? Meine Mum… wie sie versucht mich vor Voldemort zu retten… und Sie haben es getan… Sie waren es…«

Bevor einer von ihnen noch ein Wort sagen konnte, huschte etwas Rostbraunes an Harry vorbei; und schon war Krummbein auf Blacks Brust gesprungen und hatte sich genau auf Blacks Herzen zusammengerollt. Black blinzelte und sah den Kater an.

»Scher dich bloß weg«, murmelte Black und versuchte Krummbein wegzuschieben.

Doch Krummbein versenkte die Klauen in Blacks Umhang und rührte sich nicht. Der Kater wandte sein häßliches, eingedelltes Gesicht Harry zu und sah mit seinen großen gelben Augen zu ihm hoch. Hinter sich hörte er Hermine, trocken schluchzen.

Harry starrte auf Black und Krummbein und umklammerte den Zauberstab noch fester. Was machte es schon, wenn er auch den Kater tötete. Er war mit Black verbündet… wenn er bereit war zu sterben, weil er Black schützen wollte, ging Harry das nichts an… wenn Black ihn retten wollte, zeigte das nur, daß er sich mehr um Krummbein scherte als um Harrys Eltern…

Harry hob den Zauberstab. Die Zeit war gekommen. Dies war der Augenblick, Vater und Mutter zu rächen. Er würde Black töten. Er mußte Black töten. Dies war seine Chance…

Und die Sekunden zogen sich in die Länge, und immer noch stand Harry wie angewurzelt da, den Zauberstab umklammert. Black, mit Krummbein auf der Brust, starrte zu ihm hoch. Vom Bett her hörte er Rons rasselndes Atmen, Hermine war ganz still.

Und dann hörte er ein neues Geräusch -

Gedämpfte Schritte drangen durch den Fußboden; jemand kam die Treppe hinauf.

»Wir sind hier oben!«, rief Hermine plötzlich.»Wir sind hier oben – Sirius Black – schnell!«

Black zuckte so heftig zusammen, daß Krummbein fast von seiner Brust gerutscht wäre; Harry umklammerte krampfhaft seinen Zauberstab – tu's jetzt!, sagte eine Stimme in seinem Kopf – doch die Schritte polterten die Treppe herauf und Harry hatte immer noch nicht gehandelt.

Die Tür krachte unter einem Schauer roter Funken auf und Harry wirbelte herum. Professor Lupin kam in das Zimmer gestürzt, das Gesicht blutleer, den Zauberstab drohend erhoben. Seine Augen flackerten hinüber zu Ron, der auf dem Bett lag, zu Hermine, die an der Tür kauerte, und zu Harry, der dastand und Black mit dem Zauberstab bedrohte, und dann zu Black selbst, zusammengekrümmt und blutend zu Harrys Füßen.

»Expelliarmus!«, rief Lupin.

Abermals flog Harry der Zauberstab aus der Hand, und auch Hermine verlor die beiden, die sie gehalten hatte. Geschickt fing Lupin sie auf, dann trat er näher und starrte Black an, auf dessen Brust noch immer Krummbein schützend lag.

Harry stand da und fühlte sich plötzlich vollkommen leer. Er hatte es nicht getan. Er hatte nicht den Mumm dazu gehabt. Sie würden Black den Dementoren aushändigen und Harrys Eltern würden nie gerächt werden…

Dann sprach Lupin, und seine Stimme war zum Zerreißen gespannt.

»Wo ist er, Sirius?«

Harry blickte Lupin überrascht an. Er verstand nicht, was er meinte. Wo war wer? Er schaute erneut auf Black.

Blacks Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Ein paar Sekunden lang regte er sich überhaupt nicht. Dann, ganz langsam, hob er die leere Hand und deutete auf Ron. Verblüfft wandte sich Harry zu Ron um, der ebenfalls völlig verdutzt schien.

»Aber dann…«, murmelte Lupin und starrte Black so durchdringend an, als wolle er seine Gedanken lesen,»warum hat er sich dann nie offenbart? Außer«- und Lupin riß plötzlich die Augen auf, als würde er hinter Black noch etwas sehen, etwas, das keiner von den anderen sehen konnte -»außer, er war es… wenn ihr getauscht habt… ohne es mir zu sagen?«

Ganz langsam, mit den eingesunkenen Augen starr auf Lupins Gesicht gerichtet, nickte Black mit dem Kopf.

»Professor«, setzte Harry an,»was -?«

Doch er kam mit seiner Frage nie zu Ende, denn was er sah, würgte ihm die Stimme ab. Lupin ließ den Zauberstab sinken und sah Black unverwandt an. Und schon sprang er an Blacks Seite, packte ihn bei der Hand, zog ihn hoch, so daß Krummbein zu Boden fiel, und umarmte Black wie einen Bruder.

Harry hatte das Gefühl, als hätte es ihm den Magen umgedreht.

»Ich glaub's nicht!«, schrie Hermine.

Lupin löste sich von Black und wandte sich ihr zu. Sie hatte sich aufgerichtet und deutete mit zornflackerndem Blick auf Lupin.»Sie – Sie -«

»Hermine -«

»- Sie und er!«

»Hermine, beruhige dich -«

»Ich hab's niemandem erzählt!«, kreischte Hermine,»ich hab es für Sie vertuscht -«

»Hermine, hör mir bitte zu!«, rief Lupin,»ich kann's dir erklären -«

Harry schüttelte es am ganzen Leib, doch nicht aus Angst. Eine neue Welle von Zorn überschwemmte ihn.

»Ich habe Ihnen vertraut«, rief er Lupin zu, seiner Stimme nicht mehr Herr,»und die ganze Zeit waren Sie sein Freund -«

»Du irrst dich«, sagte Lupin,»ich war bisher nicht Sirius' Freund, aber ich bin es jetzt – laß es mich erklären…«

»Nein!«, schrie Hermine,»Harry, trau ihm nicht, er hat Black geholfen, ins Schloß zu kommen, er will auch dich tot sehen – er ist ein Werwolf!«

Eine unheimliche Stille trat ein. Sirius Black starrte weiterhin Lupin an; es war unmöglich zu sagen, was er von alldem hielt. Auch Lupin wirkte erstaunlich ruhig, wenn auch ziemlich blaß.

»Nicht ganz so gut wie sonst, Hermine«, sagte er.»Nur einen von drei Punkten, fürchte ich. Ich habe Sirius nicht geholfen, ins Schloß zu kommen, und ich will gewiß nicht, daß Harry stirbt…«Ein merkwürdiges Zittern huschte ihm übers Gesicht.»Doch will ich nicht bestreiten, daß ich ein Werwolf bin.«

Ron unternahm einen vergeblichen Versuch, sich aufzurichten, sackte jedoch vor Schmerz wimmernd zurück aufs Bett. Lupin ging mit besorgtem Blick zu ihm hinüber, doch Ron japste:

»Weg von mir, Werwolf!«

Lupin blieb wie angewurzelt stehen. Dann wandte er sich mit offensichtlicher Mühe Hermine zu und sagte:

»Seit wann weißt du es?«

»Schon 'ne Ewigkeit«, flüsterte Hermine.»Seit ich den Aufsatz für Professor Snape geschrieben habe…«

»Er wird sich freuen«, sagte Lupin kühl.»Er hat euch den Aufsatz schreiben lassen in der Hoffnung, jemand würde erkennen, was meine Symptome bedeuten… Hast du auf der Mondtabelle nachgesehen und festgestellt, daß ich bei Vollmond krank war? Oder ist dir aufgefallen, daß der Irrwicht sich in einen Mond verwandelte, als er mich sah?«

»Beides«, sagte Hermine leise.

Lupin lachte gequält.

»Du bist die schlauste Hexe deines Alters, die ich je getroffen habe, Hermine.«

»Bin ich nicht«, flüsterte Hermine,»wenn ich ein wenig schlauer gewesen wäre, hätte ich allen gesagt, was Sie sind!«

»Aber das wissen sie schon«, sagte Lupin.»Zumindest die Lehrer.«

»Dumbledore hat Sie eingestellt, obwohl er wußte, daß Sie ein Werwolf sind?«, schnaubte Ron mit aufgerissenen Augen.»Ist er wahnsinnig?«

»Einige Lehrer dachten das auch«, sagte Lupin.»Es war ein schweres Stück Arbeit, gewisse Lehrer davon zu überzeugen, daß man mir vertrauen kann -«

»Und da hat er sich geirrt!«, rief Harry.»Sie haben ihm die ganze Zeit geholfen!«Er deutete auf Black, der plötzlich zum Bett hinüberhumpelte und darauf niedersank, als ob seine Beine ihn nicht mehr länger tragen wollten. Krummbein sprang zu ihm hoch und kroch schnurrend auf seinen Schoß. Ron rückte von beiden weg und zog sein Bein nach.

»Ich habe Sirius nicht geholfen«, sagte Lupin.»Wenn ihr mir eine Chance gebt, dann erkläre ich es. Hier -«

Er nahm die Zauberstäbe von Harry, Ron und Hermine und warf sie ihren Besitzern zu; verdutzt fing Harry den seinen auf.

»Also gut«, sagte Lupin und steckte den eigenen Zauberstab in den Gürtel.»Ihr seid bewaffnet, wir nicht. Hört ihr mir jetzt zu?«

Harry wußte nicht, was er davon halten sollte. War das eine List?

»Wenn Sie ihm nicht geholfen haben«, sagte er mit zornigem Blick auf Black,»woher wußten Sie dann, daß er hier war?«

»Die Karte«, sagte Lupin,»die Karte des Rumtreibers. Ich war in meinem Büro und hab auf ihr nachgesehen.«

»Sie wissen, wie man mit ihr umgeht?«, sagte Harry mißtrauisch.

Black hatte den Kopf gehoben. Auch er starrte Lupin verblüfft an.

»Natürlich weiß ich, wie man mit ihr umgeht«, sagte Lupin und wedelte ungeduldig mit der Hand.»Ich hab daran mitgeschrieben. Ich bin Moony – das war mein Spitzname bei den Freunden in der Schule.«

»Sie selbst -?«

»Wichtig ist jetzt nur, daß ich die Karte heute Abend sorgfältig zu Rate gezogen habe, weil ich ahnte, daß ihr drei euch vielleicht aus dem Schloß stehlt, um Hagrid zu besuchen, bevor der Hippogreif hingerichtet wird. Und ich hatte Recht, nicht wahr?«

Er schritt jetzt im Zimmer auf und ab und sah sie abwechselnd an. Seine Schritte wirbelten kleine Staubwölkchen auf.

»Du hast sicher den Umhang deines Vaters getragen, Harry -«

»Woher wissen Sie von dem Umhang?«

»Ich sah James so oft darunter verschwinden…«, sagte Lupin und fuchtelte erneut ungeduldig mit der Hand.»Der Witz dabei ist, selbst wenn du den Tarnumhang trägst, erscheinst du auf der Karte des Rumtreibers. jedenfalls sah ich euch über das Gelände gehen und Hagrids Hütte betreten. Zwanzig Minuten später seid ihr herausgekommen und habt euch auf den Rückweg gemacht. Doch jetzt war noch ein anderer dabei.«

»Wie bitte?«, sagte Harry.»Nein, wir waren zu dritt!«

»Ich wollte meinen Augen nicht trauen«, sagte Lupin, der immer noch auf und ab ging und Harrys Einwurf nicht beachtete.»Ich dachte, mit der Karte würde etwas nicht stimmen. Wie konnte er bei euch sein?«

»K… keiner war bei uns!«, sagte Harry.

»Und dann hab ich noch einen Punkt gesehen, der sich rasch auf euch zu bewegte, mit dem Namen Sirius Black… Ich sah, wie er mit euch zusammenstieß und wie er zwei von euch unter die Peitschende Weide zerrte -«

»Einen!«, sagte Ron zornig.

»Nein, Ron«, sagte Lupin.»Zwei von euch.«

Er war stehen geblieben und ließ die Augen über Ron gleiten.

»Könnte ich mir mal deine Ratte ansehen?«, sagte er gelassen.

»Was?«, sagte Ron.»Was hat Krätze mit alldem denn zu tun?«

»Einiges«, sagte Lupin.»Kann ich sie sehen, bitte?«

Ron zögerte, dann steckte er die Hand in den Umhang und zerrte Krätze hervor, der verzweifelt um sich schlug. Fast wäre er entkommen, hätte Ron ihn nicht gerade noch an seinem langen kahlen Schwanz erwischt. Krummbein hatte den Kopf gehoben und fauchte.

Lupin trat auf Ron zu. Er schien den Atem anzuhalten, während er Krätze aufmerksam musterte.

»Was?«, fragte Ron erneut und drückte Krätze mit angsterfülltem Blick an die Brust.»Was hat meine Ratte mit alldem zu tun?«

»Das ist keine Ratte«, krächzte auf einmal Sirius Black.

»Was soll das heißen – natürlich ist das eine Ratte -«

»Nein, ist es nicht«, sagte Lupin ruhig.»Es ist ein Zauberer.«

»Ein Animagus«, sagte Black,»mit Namen Peter Pettigrew.«