"Harry Potter und der Gefangene von Askaban" - читать интересную книгу автора (Rowling Joanne K.)

Der Dementor

Tom weckte Harry am nächsten Morgen mit einer Tasse Tee und seinem üblichen zahnlosen Grinsen. Harry zog sich an und überredete gerade die morgenmufflige Hedwig, sich in ihren Käfig zu begeben, als Ron, ein Sweatshirt halb über den Kopf gezogen und mißmutig dreinblickend, ins Zimmer gepoltert kam.

»Wird Zeit, daß wir losfahren«, sagte er.»In Hogwarts kann ich Percy wenigstens aus dem Weg gehen. jetzt behauptet er auch noch, ich hätte Tee auf sein Bild von Penelope Clearwater geschüttet. Du weißt schon«, Ron schnitt eine Grimasse,»seine Freundin. Sie hat das Gesicht unter dem Rahmen versteckt, weil ihre Nase ganz pustelig geworden ist…«

»Ich muß dir was sagen«, begann Harry, doch da schneiten Fred und George herein, um Ron zu gratulieren, weil er Percy abermals zur Weißglut getrieben hatte.

Sie gingen nach unten zum Frühstück. Mr Weasley las mit gerunzelter Stirn die Titelseite des Tagespropheten und Mrs Weasley erzählte Hermine und Ginny von einem Liebestrank, den sie als junges Mädchen gebraut hatte. Alle drei giggelten und kieksten.

»Was wolltest du eben sagen?«, fragte Ron Harry, als sie sich setzten.

»Später«, murmelte Harry, denn gerade kam Percy hereingestürmt.

Harry hatte im Durcheinander des Aufbruchs keine Gelegenheit, mit Ron oder Hermine zu sprechen; sie waren vollauf damit beschäftigt, ihre Koffer die schmale Treppe des Tropfenden Kessels hinunterzuschleifen und neben der Tür aufzuschichten. Hedwig und Hermes, Percys Schleiereule, hockten in ihren Käfigen und herrschten über den Gepäckstapel. Aus einem kleinen Weidenkorb neben den Koffern drang ein lautes Fauchen.

»Schon gut, Krummbein«, schnurrte Hermine durch das Weidengeflecht.»Wenn wir im Zug sind, darfst du raus.«

»Bloß nicht«, blaffte Ron sie an,»was soll dann aus dem armen Krätze werden?«

Er deutete auf seine Brust. Eine große Ausbuchtung zeigte, daß Krätze sich in seiner Tasche zusammengerollt hatte.

Mr Weasley, der draußen auf den Dienstwagen gewartet hatte, steckte den Kopf herein.

»sie sind da«, sagte er.»Komm mit, Harry -«

Mr Weasley führte Harry über das kurze Stück Gehweg zum ersten der beiden altertümlichen dunkelgrünen Wagen, an deren Steuer wachsam umherblickende Zauberer in smaragdgrünen Samtanzügen saßen.

»Rein mit dir, Harry«, sagte Mr Weasley und spähte die belebte Straße auf und ab.

Harry setzte sich in den Fond des Wagens und bald stiegen auch Hermine, Ron und, zu Rons Abscheu, auch Percy ein.

Die Fahrt nach King's Cross war im Vergleich zu Harrys Reise mit dem Fahrenden Ritter recht ereignislos. Die Wagen des Zaubereiministeriums schienen gewöhnliche Autos zu sein, nur fiel Harry auf, daß sie durch Engpässe glitten, die Onkel Vernons neuer Firmenwagen sicher nicht geschafft hätte. Als sie King's Cross erreichten, hatten sie noch zwanzig Minuten Zeit; die Fahrer holten Gepäckkarren, luden die Koffer aus, verabschiedeten sich von Mr Weasley mit einer kurzen Berührung ihrer Hüte und fuhren davon, wobei sie es irgendwie schafften, an die Spitze der Schlange vor einer Ampel zu springen.

Mr Weasley blieb auf dem ganzen Weg in den Bahnhof dicht an Harrys Seite.

»Na denn«, sagte er und spähte wachsam umher,»gehen wir jeweils zu zweit, weil wir so viele sind. Harry und ich gehen zuerst.«

Mr Weasley schlenderte zur Absperrung zwischen den Gleisen neun und zehn, Harrys Gepäckwagen vor sich herschiebend und scheinbar sehr interessiert am InterCity 125, der gerade auf Gleis neun eingefahren war. Er warf Harry einen viel sagenden Blick zu und lehnte sich lässig gegen die Barriere. Harry tat es ihm nach.

Im nächsten Augenblick kippten sie seitlich durch die Metallwand und landeten auf Bahnsteig neundreiviertel. Als sie aufblickten, sahen sie den Hogwarts-Express mit seiner scharlachroten Lok, die Dampf aus ihrem Schornstein paffte. Auf dem Bahnsteig herrschte ein dichtes Gewühl von Zauberern und Hexen, die ihre Kinder zum Zug brachten.

Mit einem Mal tauchten Percy und Ginny hinter Harry auf Sie hatten die Absperrung offenbar mit Anlauf überwunden und waren noch ganz außer Atem.

»Ah, da ist Penelope!«, sagte Percy, glättete sich das Haar und lief rosarot an. Ginny fing Harrys Blick auf und beide wandten sich ab, um ihr Lachen zu verbergen, während Percy zu einem Mädchen mit langem Lockenhaar hinüberschritt, mit geschwellter Brust, so daß sie sein schimmerndes Abzeichen unmöglich übersehen konnte.

Sobald die übrigen Weasleys und Hermine da waren, führten Harry und Mr Weasley die kleine Gruppe an den vollen Abteilen vorbei bis ans Ende des Zuges zu einem Waggon, der noch recht leer schien. Sie hievten die Koffer hoch, verstauten Hedwig und Krummbein in der Gepäckablage und stiegen noch einmal aus, um sich von Mr und Mrs Weasley zu verabschieden.

Mrs Weasley küßte ihre Kinder, dann Hermine und schließlich Harry. Obwohl er etwas verlegen war, freute er sich, als sie ihn auch noch in die Arme schloß.

»Paß auf dich auf, Harry, versprich es mir«, sagte sie und ordnete ihre Kleider mit seltsam hellen Augen. Dann öffnete sie ihre gewaltige Handtasche:»Ich hab für euch alle belegte Brote gemacht… hier, Ron… nein, kein Corned Beef… Fred? Wo ist Fred? Hier bist du ja, mein Lieber…«

»Harry«, sagte Mr Weasley leise,»komm mal kurz hier rüber -«

Er ruckte mit dem Kopf in Richtung einer Säule, und Harry ließ die anderen bei Mrs Weasley zurück und folgte ihm.

»Ich muß dir noch was sagen, bevor du fährst _«, sagte Mr Weasley mit angespannter Stimme.

»Schon gut, Mr Weasley«, sagte Harry,»ich weiß es schon.«

»Du weißt es? Wie das denn?«

»Ich – ähm – ich hab Sie und Mrs Weasley gestern Abend sprechen gehört. Das ließ sich nicht vermeiden«, fügte Harry rasch hinzu,»tut mir Leid -«

»Ich wollte eigentlich, daß du es auf andere Weise erfährst«, sagte Mr Weasley und sah jetzt besorgt aus.

»Nein – ehrlich gesagt, es ist besser so. Dann haben Sie wenigstens Fudge gegenüber Ihr Wort nicht gebrochen und ich weiß, was los ist.«

»Harry, du hast jetzt sicher ziemliche Angst -«

»Nein, hab ich nicht«, sagte Harry wahrheitsgetreu.»Wirklich«, fügte er hinzu, weil Mr Weasley ungläubig dreinblickte.»Ich will ja nicht den Helden spielen, aber im Ernst, Sirius Black kann doch nicht schlimmer sein als Voldemort, oder?«

Mr Weasley zuckte beim Klang dieses Namens zusammen, sagte jedoch nichts.

»Harry, ich wußte, daß du, wie soll ich sagen, stärkere Nerven hast, als Fudge offenbar glaubt, und ich bin natürlich froh, daß du keine Angst hast, aber -«

»Arthur!«, rief Mrs Weasley, die nun die anderen wie eine kleine Schafherde zum Zug trieb,»Arthur, was macht ihr da? Er fährt gleich ab!«

»Er kommt sofort, Molly!«, sagte Mr Weasley, wandte sich jedoch erneut Harry zu und sprach leiser und hastiger weiter.»Hör zu, ich will, daß du mir dein Wort gibst -«

»- daß ich ein braver Junge sein und im Schloß bleiben werde?«, sagte Harry mit düsterer Miene.

»Nicht ganz«, sagte Mr Weasley, der jetzt ernster aussah, als Harry ihn je gesehen hatte.»Harry, schwör mir, daß du nicht nach Black suchen wirst.«

Harry starrte ihn an.»Wie bitte?«

Ein lauter Pfiff ertönte. Schaffner gingen am Zug entlang und schlugen die Türen zu., -

»Versprich mir, Harry«, sagte Mr Weasley noch hastiger,»daß, was immer auch passiert -«

»Warum sollte ich nach jemandem suchen, von dem ich weiß, daß er mich umbringen will?«, fragte Harry gerade heraus.

»Schwör mir, was immer du hörst -«

»Arthur, schnell!«, rief Mrs Weasley.

Dampfstrahlen zischten aus der Lok; der Zug war angefahren. Harry rannte zur Zugtür, und Ron hielt sie auf und trat zurück, um ihn einzulassen. Sie lehnten aus dem Fenster und winkten Mr und Mrs Weasley zu, bis der Zug um eine Kurve bog und ihnen die Sicht nahm.

»Ich muß mal mit euch allein reden«, murmelte Harry Ron und Hermine zu, während der Zug allmählich schneller wurde.

»Geh. mal kurz weg, Ginny«, sagte Ron.

»Oh, wie nett«, sagte Ginny beleidigt und stolzierte davon.

Harry, Ron und Hermine gingen den Gang entlang, auf der Suche nach einem leeren Abteil, doch alle waren voll, außer dem einen ganz am Ende des Zuges.

Dort war nur ein Platz besetzt. Ein Mann saß tief schlafend am Fenster. Harry, Ron und Hermine blieben an der Schiebetür stehen. Der Hogwarts-Express war sonst immer für Schüler reserviert gewesen und sie hatten nie einen Erwachsenen im Zug gesehen, mit Ausnahme der Hexe mit dem Imbißwagen.

Der Fremde trug einen äußerst schäbigen, an mehreren Stellen geflickten Zaubererumhang. Er sah krank und erschöpft aus. Obwohl noch recht jung, war sein hellbraunes Haar von grauen Strähnen durchzogen.

»Wer, glaubt ihr, ist das?«, zischte Ron, als sie die Tür zuschoben und sich setzten möglichst weit von dem Mann am Fenster entfernt.

»Professor R. J. Lupin«, flüsterte Hermine ohne zu zögern.

»Woher weißt du das denn schon wieder?«

»Steht auf seinem Koffer«, antwortete Hermine und deutete auf die Gepäckablage über dem Kopf des Mannes, wo ein kleiner, zerknautschter Koffer lag, der mit einer Menge Schnur sorgfältig zugeknotet war. Auf einer Seite stand in abblätternden Lettern der Name»Professor R. J. Lupin«.

»Welches Fach der wohl gibt?«, sagte Ron und musterte stirnrunzelnd Professor Lupins bleiches Profil.

»Das ist doch klar«, flüsterte Hermine,»es gibt nur eine freie Stelle, oder? Verteidigung gegen die dunklen Künste.«

Harry, Ron und Hermine hatten schon zwei Lehrer in diesem Fach gehabt, und beide hatten es nur ein Jahr lang durchgehalten. Gerüchten zufolge brachte diese Stelle kein Glück.

»Ich hoffe, er schafft es«, sagte Ron zweifelnd.»Sieht eher aus, als ob ein guter Zauber ihn erledigen würde, oder? Jedenfalls…«, er wandte sich Harry zu,»was wolltest du uns sagen?«

Harry erzählte die ganze Geschichte von dem Streit zwischen Mr und Mrs Weasley und der Warnung, die er soeben von Mr Weasley erhalten hatte. Als er fertig war, schien Ron wie vom Donner gerührt und Hermine hatte die Hände gegen die Lippen gepreßt. Endlich öffnete sie den Mund und sagte:

»Sirius Black ist tatsächlich ausgebrochen, um dich zu jagen? Oh, Harry… du mußt wirklich ganz, ganz vorsichtig sein. Such bloß keinen Ärger, Harry…«

»Ich suche keinen Ärger«, sagte Harry gereizt.»Meist findet der Ärger mich.«

»Harry müßte doch eine schöne Dumpfbacke sein, wenn er nach einem Verrückten sucht, der ihn umbringen will«, sagte Ron mit zitternder Stimme.

Die Neuigkeit erschütterte sie Mehr, als Harry erwartet Hatte. Beide schienen größere Angst vor Black zu haben als er.

»Keiner weiß, wie er aus Askaban entkommen konnte«, sagte Ron aufgebracht.»Keiner hat es je geschafft. Und er war auch noch ein Hochsicherheitsgefangener.«

»Aber sie werden ihn doch fassen, nicht wahr?«, sagte Hermine nachdrücklich.»Ich meine, die Muggel suchen ihn doch auch alle…«

»Was ist das für ein Geräusch?«, sagte Ron plötzlich.

Von irgendwoher kam ein leises, blechernes Pfeifen. Sie sahen sich im Abteil um.

»Es kommt aus deinem Koffer, Harry«, sagte Ron. Er stand auf und zog den Koffer aus der Gepäckablage. Einen Augenblick später hatte er das Taschenspickoskop zwischen Harrys Umhängen herausgezogen. Rasend schnell und hell aufleuchtend drehte es sich auf Rons Handfläche.

»Ist das ein Spickoskop?«, fragte Hermine neugierig und stand auf, um es näher in Augenschein zu nehmen.

»Ja… allerdings ein ziemlich billiges«, sagte Ron.»Seit ich es Errol ans Bein gebunden hab, um es Harry zu schicken, spinnt es ein wenig.«

»Hast du damals irgendwas Komisches gemacht?«, sagte Hermine mit forschendem Blick.

»Nein! Nun ja… ich hätte eigentlich nicht Errol nehmen sollen, du weißt doch, daß er nicht fit ist für lange Flüge… aber wie sollte ich Harry das Geschenk denn sonst schicken?«

»Steck es zurück in den Koffer«, mahnte Harry, als das Spickoskop anfing, durchdringend zu pfeifen,»oder er wacht noch auf.«

Er nickte zu Professor Lupin hinüber. Ron stopfte das Spickoskop in ein besonders fürchterliches Paar von Onkel Vernons alten Socken, was das Pfeifen abwürgte, dann klappte er den Koffer zu.

»Wir könnten es in Hogsmeade nachsehen lassen«, sagte Ron und setzte sich wieder.»Sie verkaufen solche Sachen bei Derwisch und Banges, magische Werkzeuge und so Zeugs, das weiß ich von Fred und George.«

»Weißt du viel über Hogsmeade?«, fragte Hermine interessiert.»Ich hab gelesen, es ist der einzige Ort in England, wo kein einziger Muggel lebt.«

»Ja, ich glaub schon«, sagte Ron gleichgültig,»aber das ist nicht der Grund, weshalb ich dort hinmöchte. Ich will einfach mal in den Honigtopf!«

»Was ist das?«, wollte Hermine wissen.

»Der Süßigkeitenladen«, sagte Ron und ein träumerischer Ausdruck trat auf sein Gesicht,»wo sie alles haben – Pfefferkekse – die lassen dir den Mund rauchen – und große pralle Schokokugeln, gefüllt mit Erdbeermousse und Schlagsahne und ganz tolle Zuckerfederhalter, die kannst du in der Schule lutschen und siehst dabei aus, als würdest du nur überlegen, was du schreiben sollst -«

»Aber Hogsmeade ist doch auch sonst ganz interessant, oder?«, bohrte Hermine wißbegierig nach.»In Historische Stätten der Zauberei heißt es, das Wirtshaus sei das Hauptquartier des berüchtigten Koboldaufstands von 1612 gewesen und die Heulende Hütte soll das am übelsten spukende Gebäude im ganzen Land sein -«

»- und dicke Brausekugeln, du hebst vom Boden ab, wenn du sie lutschst«, sagte Ron, der offensichtlich kein Wort von dem hören wollte, was Hermine zu sagen hatte.

Hermine wandte sich Harry zu.

»Wär es nicht schön, mal ein wenig aus der Schule rauszukommen und Hogsmeade zu erkunden?«

»Sicher«, brummte Harry.»Ihr müßt mir dann erzählen, wie es war.«

»Was soll das heißen?«, sagte Ron.

»Ich kann nicht mit. Die Dursleys haben die Zustimmungserklärung für mich nicht unterschrieben und Fudge wollte auch nicht.«

Ron war entsetzt.

»Du darfst nicht mitkommen? Aber kommt nicht in Frage, McGonagall oder sonst jemand wird es schon erlauben -«

Harry lachte hohl. Professor McGonagall, die das Haus Gryffindor leitete, war sehr streng.

»Oder wir fragen Fred und George, die kennen alle Geheimgänge aus dem Schloß heraus.«

»Ron!«, sagte Hermine in schneidendem Ton.»Ich glaube nicht, daß Harry sich aus der Schule schleichen sollte, wenn Black auf freiem Fuß ist.«

»ja, das wird McGonagall sicher auch sagen, wenn ich sie um Erlaubnis frage«, sagte Harry erbittert.

»Aber wenn wir ihn begleiten, Hermine«, sagte Ron beherzt,»wird Black es nicht wagen.«

»Ach Ron, red keinen Stuß«, fuhr ihn Hermine an.»Black hat mitten auf einer belebten Straße ein Dutzend Leute umgebracht, glaubst du wirklich, er wird sich davon abhalten lassen, Harry anzugreifen, nur weil wir dabei sind?«

Während sie sprach, nestelte sie an den Spannverschlüssen von Krummbeins Korb herum.

»Laß bloß dieses Tier nicht raus!«, sagte Ron. Doch zu spät; leichtfüßig hüpfte Krummbein aus dem Korb, streckte sich, gähnte und sprang auf Rons Knie; das Knäuel in Rons Brusttasche zitterte und wütend schob er Krummbein beiseite.

»Hau ab!«

»Ron, nicht!«, sagte Hermine zornig.

Ron wollte gerade zurückfauchen, als sich Professor Lupin regte. Gebannt beobachteten sie ihn, doch er drehte nur mit leicht geöffnetem Mund den Kopf auf die andere Seite und schlief weiter.

Der Hogwarts-Express fuhr stetig nordwärts und die Landschaft vor dem Fenster wurde wilder und düsterer und die Wolken am Himmel verdichteten sich. Vor der Abteiltür rannten Schüler hin und her. Krummbein hatte sich jetzt auf einem leeren Sitz niedergelassen, das eingedellte Gesicht Ron zugewandt und die gelben Augen auf Rons Brusttasche gerichtet.

Um eins schob die plumpe Hexe mit dem Imbißwagen die Tür auf.

»Meint ihr, wir sollten ihn aufwecken?«, fragte Ron verlegen und nickte zu Professor Lupin hinüber.»Sieht aus, als könnte er was zu essen vertragen.«

Hermine näherte sich vorsichtig dem Professor.

»Ähm – Professor?«, sagte sie.»Verzeihung – Professor?«

Er rührte sich nicht.

»Schon gut, Mädchen«, sagte die Hexe und reichte Harry einen mächtigen Stapel Kesselkuchen,»wenn er aufwacht und Hunger hat, ich bin vorne beim Zugführer.«

»Ich hoffe doch, daß er schläft?«, sagte Ron leise, als die Hexe die Abteiltür zugeschoben hatte.»Ich meine – er ist nicht tot, oder?«

»Nein, nein, er atmet«, flüsterte Hermine und nahm das Stück Kesselkuchen, das Harry ihr reichte.

Professor Lupin mochte keine angenehme Gesellschaft sein, doch daß er in ihrem Abteil war, hatte seine nützlichen Seiten. Am späten Nachmittag, gerade als es zu regnen begonnen hatte und die sanften Hügel vor dem Fenster verschwammen, hörten sie erneut Schritte auf dem Gang und die Mitschüler, die sie am wenigsten leiden konnten, erschienen an der Tür: Draco Malfoy, Vincent Crabbe und Gregory Goyle.

Draco Malfoy und Harry waren verfeindet, seit sie sich auf ihrer ersten Zugreise nach Hogwarts getroffen hatten. Malfoy mit seinem blassen, spitzen und blasierten Gesicht war im Haus Slytherin; er war Sucher in der Quidditch-Mannschaft der Slytherins, ebenso wie Harry bei den Gryffindors. Crabbe und Goyle schienen nur zu existieren, um Malfoys Befehle auszuführen. Beide waren breit gebaut und muskulös; Crabbe war der Größere von beiden und hatte einen Haarschnitt wie eine Puddingschüssel und einen sehr dicken Hals; Goyle hatte kurzes, stoppliges Haar und lange Gorillaarme.

»Schaut, schaut, wen haben wir denn da«, sagte Malfoy in seinem üblichen trägen, schnarrenden Tonfall und riß die Abteiltür auf.»Potty und das Wiesel.«

Crabbe und Goyle kicherten wie Kobolde.

»Hab gehört, dein Vater ist diesen Sommer endlich zu etwas Gold gekommen, Weasley«, sagte Malfoy.»Ist deine Mutter an dem Schock gestorben?«

Ron stand so schnell auf, daß er Krummbeins Korb zu Boden stieß. Professor Lupin ließ einen Schnarcher vernehmen.

»Wer ist das denn?«, fragte Malfoy, als er Lupin bemerkte, und trat instinktiv einen Schritt zurück.

»Ein neuer Lehrer«, sagte Harry, der ebenfalls aufgestanden war, um Ron im Falle eines Falles im Zaum zu halten.»Was wolltest du gerade sagen, Malfoy?«

Malfoys blasse Augen verengten sich; er war nicht der Dummkopf, der vor der Nase eines Lehrers Streit anfangen würde.

»Los, kommt«, murmelte er widerwillig Crabbe und Goyle zu und sie verschwanden.

Harry und Ron setzten sich wieder; Ron rieb sich die Handknöchel.

»Dieses Jahr laß ich mir von Malfoy nichts mehr bieten«, sagte er zornig,»und das meine ich ernst. Wenn er noch einen Witz über meine Familie macht, pack ich ihn am Kopf und -«

Ron fuchtelte heftig mit den Armen herum.

»Ron«, zischte Hermine und deutete auf Professor Lupin,»sei vorsichtig -«

Doch Professor Lupin schlief seelenruhig.

Der Zug fuhr weiter nach Norden und der Regen wurde stärker; die Fenster hatten ein undurchdringliches, schimmerndes Grau angenommen, das sich allmählich verdunkelte, bis schließlich die Laternen in den Gängen und über den Gepäcknetzen aufflackerten. Der Zug ratterte dahin, der Regen trommelte gegen die Fenster, der Wind heulte, doch Professor Lupin schlief weiter.

»Wir müssen doch bald da sein«, sagte Ron und lehnte sich an Professor Lupin vorbei zum inzwischen fast schwarzen Fenster.

Und wie zur Bestätigung seiner Worte begann der Zug langsamer zu werden.

»Endlich«, sagte Ron, stand auf und ging mit einem vorsichtigen Blick auf Professor Lupins Beine zum Fenster, um hinauszusehen.»Ich verhungere noch. Was ich jetzt brauche, ist das Festessen…«

Hermine sah auf die Uhr.»Eigentlich können wir noch nicht da sein«, sagte sie.

»Und warum halten wir dann?«

Der Zug bremste allmählich ab. Nun, da der Lärm der Kolben sich abschwächte, schlugen Wind und Regen lauter denn je gegen die Fenster.

Harry, der an der Tür saß, erhob sich und warf einen Blick auf den Gang. Entlang des ganzen Wagens lugten neugierige Köpfe aus den Abteilen.

Mit einem Ruck kam der Zug zum Stillstand und fernes Poltern und Krachen sagte ihnen, daß Koffer aus den Gepäcknetzen gefallen waren. Dann, ohne jede Vorwarnung, erloschen alle Lampen und sie waren jäh in schwarze Dunkelheit gehüllt.

»Was ist da los?«, ertönte Rons Stimme hinter Harry.

»Autsch!«, keuchte Hermine.»Ron, das war mein Fuß!«

Harry tastete sich zurück zu seinem Sitz.

»Glaubst du, wir haben eine Panne?«

»Keine Ahnung…«

Es gab ein quietschendes Geräusch und Harry sah die verschwommene schwarze Gestalt Rons das Fenster wischen, um hinauszuschauen.

»Da draußen bewegt sich was«, sagte Ron,»ich glaube, es steigen Leute ein…«

Plötzlich ging die Abteiltür auf, jemand stieß schmerzhaft gegen Harrys Beine und stürzte zu Boden.

»Verzeihung, wißt ihr, was da los ist? Autsch, tut mir Leid -«

»Hallo, Neville«, sagte Harry. Er tastete in der Dunkelheit umher und zog Neville an seinem Umhang auf die Beine.

»Harry? Bist du das? Was ist eigentlich los?«

»Keine Ahnung – setz dich -«

Darauf folgte ein lautes Fauchen und ein Schmerzensschrei; Neville hatte versucht sich auf Krummbein niederzulassen.

»Ich geh jetzt nach vorn und frag den Zugführer, was hier vor sich geht«, ließ Hermine vernehmen. Harry spürte sie an sich vorbeigehen, hörte die Tür aufgleiten und dann einen dumpfen Schlag und zwei laute Aufschreie.

»Wer ist das?«

»Wer ist das?«

»Ginny?«

»Hermine?«

»Was tust du hier?«

»Ich suche Ron.«

»Komm rein und setz dich hin.«

»Nicht hier!«, sagte Harry rasch.

»Autsch!«, sagte Neville.

»Ruhe!«, sagte plötzlich eine heisere Stimme.

Professor Lupin schien endlich aufgewacht zu sein. Harry konnte hören, daß sich in seiner Ecke etwas regte. Keiner von ihnen sagte ein Wort.

Sie hörten ein leises Knistern, und ein flackerndes Licht erleuchtete das Abteil. Professor Lupin schien eine Hand voll Flammen zu tragen. Sie beleuchteten sein müdes graues Gesicht, doch seine Augen glänzten wachsam und voll Argwohn.

»Bleibt, wo ihr seid«, sagte er mit seiner heiseren Stimme und erhob sich langsam, die Hand mit den Flammen vor sich ausgestreckt.

Doch die Tür glitt auf, bevor Lupin sie erreichte.

Am Eingang, erhellt von den flackernden Flammen in Lupins Hand, stand eine vermummte Gestalt, die bis zur Decke ragte. Das Gesicht war unter einer Kapuze vollständig verborgen. Harrys Blick schoß nach unten, und was er da sah, ließ seinen Magen zusammenkrampfen. Eine Hand lugte unter dem Umhang hervor und es war eine glitzernd graue, schleimige Hand, wie die eines Toten, der zu lange im Wasser gelegen hatte…

Doch er sah sie nur für den Bruchteil einer Sekunde. Als ob das Wesen unter dem Umhang Harrys Blick gespürt hätte, zog es die Hand rasch unter die Falten des schwarzen Umhangs zurück.

Und dann holte das Kapuzenwesen, was immer es war, lange und tief rasselnd Atem, als ob es versuchte, mehr als nur Luft aus seiner Umgebung zu saugen.

Eine bittere Kälte legte sich über sie. Harry spürte seinen Atem in der Brust stocken. Die Kälte drang ihm unter die Haut. Sie drang in seine Brust, ins Innere seines Herzens…

Harrys Augäpfel drehten sich nach innen. Er konnte nichts mehr sehen. Die Kälte ertränkte ihn. In seinen Ohren rauschte es, wie von Wasser. Etwas zog ihn in die Tiefe, das Rauschen wurde lauter…

Und dann, aus weiter Ferne, hörte er Schreie, schreckliche, grauenerfüllte, flehende Schreie – er wollte helfen, wer auch immer es war, er versuchte die Arme zu bewegen, doch er konnte nicht – ein dichter weißer Nebel wirbelte um ihn auf, drang in sein Inneres -

»Harry! Harry! Alles in Ordnung?«

Jemand gab ihm eine Ohrfeige.

»W-was?«

Harry öffnete die Augen; über ihm brannten Lampen, und der Fußboden vibrierte – die Lichter waren angegangen und der Hogwarts-Express fuhr wieder. Offenbar war er von seinem Sitz auf den Boden geglitten. Ron und Hermine knieten neben ihm, und über ihnen sah er Neville und Professor Lupin, die ihn gespannt musterten. Harry war speiübel; als er die Hand hob, um seine Brille zurechtzurücken, spürte er kalten Schweiß auf seinem Gesicht.

Ron und Hermine hievten ihn zurück auf seinen Platz.

»Geht's wieder?«, fragte Ron nervös.

»Ja«, sagte Harry und warf rasch einen Blick zur Tür. Die vermummte Kreatur war verschwunden.»Was ist passiert? Wo ist dieses – dieses Wesen? Wer hat geschrien?«

»Kein Mensch hat geschrien«, sagte Ron, jetzt noch nervöser.

Harry sah sich in dem hell erleuchteten Abteil um. Ginny und Neville, beide ganz blaß, erwiderten seinen Blick.

»Aber ich hab Schreie gehört.«

Ein lautes Knacken ließ sie alle zusammenfahren. Professor Lupin brach einen gewaltigen Riegel Schokolade in Stücke.

»Hier«, sagte er zu Harry und reichte ihm ein besonders großes Stück.»Iß. Dann geht's dir besser.«

Harry nahm die Schokolade, aß sie jedoch nicht.

»Was war das für ein Wesen?«, fragte er Lupin.

»Ein Dementor«, sagte Lupin, während er die Schokolade an die andern verteilte.»Einer der Dementoren von Askaban.«

Alle starrten ihn an. Professor Lupin knüllte das leere Schokoladenpapier zusammen und steckte es in die Tasche.

»Iß«, sagte er noch einmal.»Das hilft. Entschuldigt mich, ich muß mit dem Zugführer sprechen -«

Er ging an Harry vorbei und verschwand im Gang.

»Bist du sicher, daß du in Ordnung bist, Harry?«, sagte Hermine und musterte ihn besorgt.

»Ich begreif es nicht… was ist passiert?«, fragte Harry und wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn.

»Nun – dieses Wesen – dieser Dementor – stand da und hat sich umgesehen – wenigstens nehm ich an, daß er es tat, ich konnte sein Gesicht nicht sehen – und du, du -«

»Ich dachte, du hättest so eine Art Anfall«, sagte Ron, dem der Schreck immer noch im Gesicht stand.»Du bist irgendwie steif geworden und von deinem Sitz gefallen und hast angefangen zu zucken.«

»Und Professor Lupin ist über dich gestiegen, hat sich vor dem Dementor aufgestellt und den Zauberstab gezückt«, sagte Hermine.»Und dann hat er gesagt: gt;Keiner von uns hier versteckt Sirius Black unter seinem Umhang. Geht.lt; Aber der Dementor hat sich nicht gerührt. Dann hat Lupin etwas gemurmelt und etwas Silbernes ist aus seinem Zauberstab auf den Dementor gerichtet geschossen und der hat sich umgedreht und ist auf so merkwürdige Art davongeglitten.«

»Es war schrecklich«, sagte Neville mit noch höherer Stimme als sonst.»Hast du gemerkt, wie kalt es wurde, als er reinkam?«

»Ich hab mich so komisch gefühlt«, sagte Ron und zog beklommen die Schultern hoch.»Als ob ich nie mehr froh sein würde…«

Ginny, die in ihrer Ecke zusammengekauert saß und fast so schlecht aussah, wie Harry sich fühlte, ließ einen leisen Schluchzer vernehmen; Hermine ging zu ihr und legte ihr tröstend den Arm um die Schultern.

»Aber ist denn keiner von euch – vom Sitz gefallen?«, fragte Harry verlegen.

»Nein«, sagte Ron und sah Harry erneut beunruhigt an.»Aber Ginny hat wie verrückt gezittert…«

Harry begriff nicht. Er fühlte sich schwach und wackelig; als ob er sich von einem schweren Grippeanfall erholen müßte; auch spürte er einen Anflug von Scham. Warum hatte es ausgerechnet ihn so fürchterlich erwischt und keinen von den andern?

Professor Lupin kam zurück. Er trat ein, Stockte, sah sich um und sagte dann mit dem Anflug eines Lächelns:

»Ich hab die Schokolade nicht vergiftet, glaub mir…«

Harry biß ein Stück ab, und zu seiner großen Überraschung breitete sich plötzlich Wärme bis in seine Fingerspitzen und Zehen aus.

»In zehn Minuten sind wir in Hogwarts«, sagte Professor Lupin.»Wie geht's dir, Harry?«

Harry fragte nicht, woher Professor Lupin seinen Namen kannte.

»Gut«, nuschelte er verlegen.

Sie sprachen nicht viel während der verbleibenden Reise. Endlich hielt der Zug am Bahnhof von Hogwarts. Unter großem Durcheinander drängelten alle nach draußen; Eulen heulten, Katzen miauten und Nevilles Kröte quakte laut unter seinem Hut hervor. Auf dem kleinen Bahnsteig war es bitterkalt; in eisigen Böen prasselte der Regen nieder.

»Erstkläßler hier lang«, rief eine vertraute Stimme. Harry, Ron und Hermine wandten sich um und sahen den riesenhaften Umriß Hagrids am anderen Ende des Bahnsteigs, der die verängstigt aussehenden neuen Schüler zu sich winkte, um dann, wie es der Brauch war, mit ihnen über den See zu fahren

»Alles klar, ihr drei?«, rief Hagrid über die Köpfe der Menge hinweg. Sie winkten ihm zu, hatten jedoch keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, weil die Menschenmasse sie in die andere Richtung schob. Harry, Ron und Hermine folgten den anderen Schülern den Bahnsteig entlang und hinaus auf einen holprigen, schlammigen Fahrweg, wo mindestens hundert Kutschen auf sie warteten. Als sie eingestiegen waren und den Wagenschlag geschlossen hatten, setzte sich die Kutsche wie von allein in Bewegung und reihte sich rumpelnd und schaukelnd in die Prozession ein. Sie werden von unsichtbaren Pferden gezogen, überlegte Harry. -

In der Kutsche roch es leicht nach Moder und Stroh. Seit der Schokolade fühlte sich Harry besser, doch immer noch schwach. Ron und Hermine warfen ihm ständig Blicke von der Seite her zu, als ob sie fürchteten, er könne erneut in Ohnmacht fallen.

Als die Kutsche auf ein reich verziertes, zweiflügliges Eisentor zuratterte, das zu beiden Seiten von steinernen Säulen mit geflügelten Ebern an der Spitze flankiert war, sah Harry zwei weitere riesige, vermummte Dementoren, die unter den Ebern Wache standen. Eine kalte Welle aus Übelkeit drohte ihn erneut zu ertränken; er lehnte sich zurück in seinen harten Sitz und schloß die Augen, bis sie das Tor passiert hatten. Auf dem langen, ansteigenden Weg hoch zum Schloß wurde die Kutsche allmählich schneller; Hermine steckte den Kopf aus dem kleinen Fenster und sah zu, wie die vielen Zinnen und Türme näher kamen. Endlich machte die Kutsche schaukelnd Halt und Hermine und Ron stiegen aus.

Als Harry die Stufen hinabkletterte, drang ein träges, schadenfrohes Schnarren an sein Ohr.

»Du bist in Ohnmacht gefallen, Potter? Sagt Longbottom die Wahrheit? Du bist tatsächlich ohnmächtig geworden?«

Malfoy stieß Hermine mit dem Ellbogen beiseite und stellte sich Harry auf den steinernen Stufen hoch zum Schloß in den Weg. Sein Gesicht war voll Häme und seine blassen Augen glitzerten tückisch.

»Hau ab, Malfoy«, sagte Ron mit zusammengebissenen Zähnen.

»Bist du auch ohnmächtig geworden, Weasley?«, sagte Malfoy laut.»Hat der schreckliche alte Dementor dir auch Angst eingejagt, Weasley?«

»Gibt es hier ein Problem?«, sagte eine sanfte Stimme. Professor Lupin war gerade aus der nachfolgenden Kutsche gestiegen.

Malfoy warf Professor Lupin einen überheblichen Blick zu und ließ die Augen über die Flicken auf seinem Umhang und den zerbeulten Koffer wandern. Mit leisem Spott in der Stimme sagte er:

»O nein – ähm – Professor«, dann grinste er Crabbe und Goyle zu und stolzierte den beiden voran die Stufen zum Schloß hoch.

Hermine stupste Ron in den Rücken, um ihn anzutreiben, und die drei schlossen sich den Scharen der andern Schüler an, die zum Schloß hinaufgingen und durch das mächtige Portal in die geräumige, von flackernden Fackeln erleuchtete Eingangshalle strömten, von der aus eine herrliche marmorne Treppe in die oberen Stockwerke führte.

Zu ihrer Rechten öffnete sich die Tür zur Großen Halle; Harry folgte den Schülern, die hineinströmten, doch kaum hatte er einen Blick auf die verzauberte Decke geworfen, die heute Abend schwarz und bewölkt war, da rief eine Stimme:

»Potter! Granger! Ich will Sie beide sprechen!«

Harry und Hermine wandten sich überrascht um. Professor McGonagall, die Lehrerin für Verwandlung und Leiterin des Hauses Gryffindor, hatte sie über die Köpfe der Mengehinweg gerufen. Sie war eine Hexe mit strenger Miene; das Haar hatte sie zu einem festen Knoten gebunden und ihre scharfen Augen wurden von quadratischen Brillengläsern umrahmt. Harry kämpfte sich mit unguter Vorahnung zu ihr durch; Professor McGonagall hatte ihre eigene Art, ihm das Gefühl zu geben, irgendetwas falsch gemacht zu haben.

»Kein Grund, so besorgt auszusehen. Ich will nur, daß ihr auf ein Wort in mein Büro kommt«, sagte sie.»Sie gehen weiter, Weasley.«

Ron starrte ihnen nach, während Professor McGonagall Harry und Hermine von der schnatternden Menge fortführte, sie die Marmortreppe hoch- und einen Korridor entlangbugsierte.

Sobald sie in ihrem Büro waren, einem kleinen Raum mit einem großen, behaglichen Feuer, wies Professor McGonagall Harry und Hermine an, sich zu setzen. Sie selbst ließ sich hinter ihren Schreibtisch nieder und begann ohne Umschweife:

»Professor Lupin hat eine Eule vorausgeschickt, um mich zu benachrichtigen, daß Sie im Zug einen Ohnmachtsanfall hatten, Potter.«

Bevor Harry antworten konnte, klopfte es sanft an der Tür und Madam Pomfrey, die Krankenschwester, kam hereingewuselt.

Harry spürte, wie er rot anlief, Schlimm genug, daß er ohnmächtig geworden war, oder was es auch gewesen sein mag, nun machten sie auch noch alle so viel Aufhebens davon.

»Mir geht's gut«, sagte er.»Ich brauche nichts.«

»Oh, du warst es?«, sagte Madam Pomfrey. Sie achtete nicht auf seine Worte, beugte sich über ihn und musterte ihn mit scharfem Blick.»Ich nehme an, du hast wieder was Gefährliches angestellt?«

»Es war ein Dementor, Poppy«, sagte Professor McGonagall. Sie tauschten düstere Blicke aus und Madam Pomfrey schnalzte mißbilligend mit der Zunge.

»Dementoren um die Schule herum aufstellen«, murmelte sie und strich Harrys Haare zurück, um ihm die Stirn zu fühlen,»da wird er nicht der Letzte sein, der zusammenbricht. ja, er ist ganz unterkühlt. Fürchterliche Ungeheuer sind das, und wenn man bedenkt, wie sie auf Leute wirken, die ohnehin schon zartbesaitet sind.«

»Ich bin nicht zart besaitet!«, sagte Harry beleidigt.

»Natürlich nicht«, sagte Madam Pomfrey geistesabwesend und fühlte ihm den Puls.

»Was braucht er?«, sagte Professor McGonagall forsch.»Bettruhe? Sollte er die Nacht vielleicht im Krankenflügel verbringen?«

»Mir geht's gut!«, sagte Harry und sprang auf Die Vorstellung, was Draco Malfoy sagen würde, wenn er in den Krankenflügel müßte, war die reine Folter.

»Nun, zumindest sollte er ein wenig Schokolade bekommen«, sagte Madam Pomfrey, die jetzt versuchte, in Harrys Augen zu spähen.

»Ich hatte schon welche«, sagte Harry.»Professor Lupin hat mir ein Stück gegeben. Er hat sie an uns alle verteilt.«

»Ach, das war nett von ihm«, sagte Madam Pomfrey anerkennend.»Also haben wir endlich einen Lehrer in Verteidigung gegen die dunklen Künste, der seine Gegenmittel beherrscht?«

»Sind Sie sicher, daß Sie sich wohl fühlen, Potter?«, fragte Professor McGonagall in scharfem Ton.

»Ja«, sagte Harry.

»Sehr schön. Warten Sie bitte draußen, während ich kurz mit Miss Granger über ihren Stundenplan spreche, dann können wir zusammen nach unten gehen.«

Harry ging hinaus in den Gang, zusammen mit Madam Pomfrey, die leise murmelnd in den Krankenflügel zurückkehrte. Er mußte nur wenige Minuten warten; als Hermine aus der Tür trat, schien sie sehr froh über etwas zu sein. Professor McGonagall folgte ihr und die drei stiegen die Marmortreppe hinunter in die Große Halle.

Die Halle war ein Meer aus schwarzen Spitzhüten; die langen Tische der vier Häuser waren voll besetzt mit Schülern, deren Gesichter beim Licht Tausender schwebender Kerzen erglühten. Professor Flitwick, ein winziger Zauberer mit einem Schock weißen Haars, trug gerade einen alten Hut und einen dreibeinigen Stuhl aus der Halle.

»Schade«, sagte Hermine,»wir haben die Auswahl versäumt!«

Die neuen Schüler in Hogwarts wurden auf die Häuser verteilt (Gryffindor, Ravenclaw, Hufflepuff und Slytherin). Dazu diente der Sprechende Hut, den sie aufsetzten und der daraufhin laut das Haus verkündete, zu dem sie am besten paßten. Professor McGonagall schritt auf ihren Platz am Lehrertisch zu und Harry und Hermine gingen so unauffällig wie möglich in die andere Richtung zum Tisch der Gryffindors. Ihre Mitschüler wandten sich nach ihnen um, während sie an der rückwärtigen Wand der Halle entlanggingen, und ein paar deuteten auf Harry. Hatte sich die Geschichte von seinem Ohnmachtsanfall vor dem Dementor so rasch herumgesprochen?

Harry und Hermine setzten sich neben Ron, der ihnen Plätze freigehalten hatte.

»Was sollte der ganze Aufstand?«, murmelte er Harry zu.

Harry begann flüsternd zu erklären, doch in diesem Augenblick erhob sich der Schulleiter und Harry verstummte.

Professor Dumbledore, obwohl sehr alt, erweckte immer den Eindruck von ungeheurer Kraft. Er hatte fast meterlanges silbernes Haar und einen Bart, halbmondförmige Brillengläser und eine scharf gekrümmte Nase. Oft hieß es, er sei der größte Zauberer seiner Zeit, doch das war nicht der Grund, weshalb Harry ihn schätzte. Man konnte einfach nicht umhin, Albus Dumbledore zu vertrauen, und während Harry beobachtete, wie Dumbledore die Schüler reihum strahlend anlächelte, fühlte er sich zum ersten Mal, seit der Dementor das Zugabteil betreten hatte, richtig entspannt.

»Willkommen!«, sagte Dumbledore und das Kerzenlicht schimmerte auf seinem Bart.»Willkommen zu einem neuen Jahr in Hogwarts! Ich habe euch allen einige Dinge mitzuteilen, und da etwas sehr Ernstes darunter ist, halte ich es für das Beste, wenn ich gleich damit herausrücke, denn nach unserem herrlichen Festmahl werdet ihr sicher ein wenig bedröppelt sein…«

Dumbledore räusperte sich und fuhr fort:

»Wie ihr mitbekommen habt, ist der Hogwarts-Express durchsucht worden, und ihr wißt inzwischen, daß unsere Schule gegenwärtig einige der Dementoren von Askaban beherbergt, die im Auftrag des Zaubereiministeriums hier sind.«

Er hielt inne und Harry fiel ein, daß Mr Weasley gesagt hatte, auch Dumbledore sei nicht glücklich darüber, daß die Dementoren die Schule bewachten.

»Sie sind an allen Eingängen zum Gelände Postiert«, fuhr Dumbledore fort,»und ich muß euch klar sagen, daß niemand ohne Erlaubnis die Schule verlassen darf, während sie hier sind. Dementoren dürfen nicht mit Tricks oder Verkleidungen zum Narren gehalten werden – nicht einmal mit Tarnumhängen«, fügte er mild lächelnd hinzu, und Harry und Ron warfen sich verstohlene Blicke zu.»Es liegt nicht in der Natur eines Dementors, Bitten oder Ausreden zu verstehen. Ich mahne daher jeden Einzelnen von euch: Gebt ihnen keinen Grund, euch Leid zuzufügen. Ich erwarte von unseren Vertrauensschülern und von unserem neuen Schulsprecherpaar, daß sie dafür sorgen, daß kein Schüler und keine Schülerin den Dementoren in die Quere kommt«, sagte Dumbledore.

Percy, der einige Stühle von Harry entfernt saß, warf sich erneut in die Brust und blickte Achtung heischend in die Runde. Dumbledore legte eine Pause ein; er ließ die Augen mit ernster Miene durch den Saal wandern; niemand bewegte sich oder machte auch nur das kleinste Geräusch.

»Und nun zu etwas Angenehmerem«, fuhr er fort.»Ich freue mich, dieses Jahr zwei neue Lehrer in unseren Reihen begrüßen zu können.

Zunächst Professor Lupin, der sich freundlicherweise bereit erklärt hat, die Stelle des Lehrers für Verteidigung gegen die dunklen Künste zu übernehmen.«

Es gab vereinzelten, wenig begeisterten Beifall. Nur jene, die mit Professor Lupin im Zugabteil gesessen hatten, und dazu gehörte Harry; klatschten wild in die Hände. Professor Lupin sah neben all den andern Lehrern in ihren besten Umhängen besonders schäbig aus.

»Schau dir Snape an!«, zischte Ron Harry ins Ohr.

Professor Snape, der Lehrer für Zaubertränke, starrte quer über den Tisch auf Professor Lupin. Es war kein Geheimnis, daß Snape eigentlich dessen Stelle haben wollte, doch selbst Harry, der Snape nicht leiden konnte, war bestürzt über den Ausdruck, der über sein schmales, fahles Gesicht zuckte; es war mehr als Wut; es war blanker Haß. Harry kannte diesen Ausdruck nur zu gut; es war derselbe Blick, mit dem Snape jedes Mal Harry ansah.

»Zu unserer zweiten Neuernennung«, fuhr Dumbledore fort, während der halbherzige Applaus für Professor Lupin erstarb.»Nun, es tut mir Leid, euch sagen zu müssen, daß Professor Kesselbrand, unser Lehrer für die Pflege magischer Geschöpfe, Ende letzten Jahres in den Ruhestand getreten ist, um sich noch ein wenig seiner verbliebenen Gliedmaßen erfreuen zu können. Jedoch bin ich froh sagen zu können, daß sein Platz von keinem anderen als Rubeus Hagrid eingenommen wird, der sich bereit erklärt hat, diese Lehrtätigkeit zusätzlich zu seinen Pflichten als Wildhüter zu übernehmen.«

Harry, Ron und Hermine starrten sich verdutzt an. Dann stimmten auch sie in den Beifall ein, der besonders am Tisch der Gryffindors tumultartige Züge annahm; Harry lehnte sich vor, um Hagrid sehen zu können, der rubinrot angelaufen war und auf seine gewaltigen Pranken hinunterstarrte, das breite Grinsen im Gestrüpp seines schwarzen Bartes verborgen.

»Das hätten wir doch erraten können!«, brüllte Ron und hämmerte auf den Tisch,»wer sonst würde uns ein beißendes Buch auf die Liste setzen?«

Harry, Ron und Hermine hörten als Letzte zu klatschen auf, und als Professor Dumbledore wieder zu sprechen begann, sahen sie, wie Hagrid sich am Tischtuch die Augen wischte.

»Nun, ich denke, das ist alles, was zu erwähnen wäre«, sagte Dumbledore.»Beginnen wir mit dem Festmahl!«

Die goldenen Teller und Becher vor ihnen füllten sich plötzlich mit Speisen und Getränken. Harry, mit einem Mal hungrig wie ein Tier, tat sich von allem, was er mit Händen erreichen konnte, etwas auf und begann zu essen.

Es war ein herrliches Mahl; die Halle war erfüllt von Stimmen, Gelächter und vom Geklirr der Messer und Gabeln. Doch Harry, Ron und Hermine wollten schnell fertig werden, um mit Hagrid sprechen zu können. Sie wußten, wie viel es ihm bedeutete, zum Lehrer ernannt worden zusein. Hagrid war kein vollständig ausgebildeter Zauberer; er war im dritten Schuljahr von Hogwarts verwiesen worden, wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hatte; erst Harry, Ron und Hermine hatten letztes Jahr seinen guten Namen wiederhergestellt.

Endlich, als die letzten Krümel Kürbistorte von den goldenen Tellern verschwunden waren, verkündete Dumbledore, es sei nun für alle an der Zeit, ins Bett zu gehen, und das war ihre Chance.

»Herzlichen Glückwunsch, Hagrid«,kreischte Hermine, als sie zum Lehrertisch gelangten.

»Allen Dank euch dreien«, sagte Hagrid zu ihnen aufblickend und wischte sich das glänzende Gesicht mit der Serviette ab.»Kann's einfach nicht glauben… großartiger Mann, Dumbledore… kam schnurstracks rüber zu meiner Hütte, nachdem Professor Kesselbrand gesagt hatte, er hätte genug… das hab ich mir immer gewünscht…«

Überwältigt vor Rührung vergrub er das Gesicht in der Serviette, und Professor McGonagall scheuchte sie davon.

Harry, Ron und Hermine schlossen sich den Gryffindors an, die die Treppe emporströmten, und gingen, inzwischen recht müde, die Korridore entlang und noch mehr Treppen empor, bis sie zum versteckten Eingang des Gryffindor-Turms kamen. Das große Bildnis einer fetten Dame in einem rosa Kleid fragte sie:»Paßwort?«

»Ich komm schon, ich komm schon!«, rief Percy am anderen Ende der Schülerschlange.»Das neue Paßwort ist Fortuna Major!«

»O nein«, sagte Neville Longbottom traurig. Es fiel ihm immer schwer, sich Paßwörter zu merken.

Sie kletterten durch das Porträtloch und durchquerten den Gemeinschaftsraum, und schließlich nahmen Jungen und Mädchen verschiedene Treppen nach oben; Harry stieg die Wendeltreppe hoch und dachte einzig daran, wie froh er war, zurück zu sein; sie kamen in den vertrauten, runden Schlafsaal mit ihren Himmelbetten, und als Harry sich umsah, hatte er das Gefühl, endlich wieder zu Hause zu sein.