"Thomas Mann. Der kleine Herr Friedemann (нем.)" - читать интересную книгу автора

lauschte vorsichtig zwischen den Zweigen hindurch. Auf der Bank, die dort
stand, saX jenes MXdchen neben einem langen, rotkXpfigen Jungen, den er sehr
wohl kannte; er hatte den Arm um sie gelegt und drXckte einen KuX auf ihre
Lippen, den sie kichernd erwiderte. Als Johannes Friedemann dies gesehen
hatte, machte er kehrt und ging leise von dannen.
Sein Kopf saX tiefer als je zwischen den Schultern, seine HXnde
zitterten, und ein scharfer, drXngender Schmerz stieg ihm aus der Brust deft
Hals hinauf. Aber er wXrgte ihn hinunter und richtete sich entschlossen auf,
so gut er das vermochte. ,Gut', sagte er zu sich, ,das ist zu Ende. Ich will
mich niemals wieder um dies alles bekXmmern. Den anderen gewXhrt es GlXck
und Freude, mir aber vermag es immer nur Gram und Leid zu bringen. Ich bin
fertig damit. Es ist fXr mich abgetan. Nie wieder.' -
Der Entschluss tat ihm wohl. Er verzichtete, verzichtete auf immer. Er
ging nach Hause und nahm ein Buch zur Hand oder spielte Violine, was er
trotz seiner verwachsenen Brust erlernt hatte.

Mit siebenzehn Jahren verlieX er die Schule, um Kaufmann zu werden, wie
in seinen Kreisen alle Welt es war, und trat in das groXe HolzgeschXft des
Herrft Schlievogt, unteft am Fluss, als Lehrling ein. Man behandelte ihn mit
Nachsicht, er seinerseits war freundlich und entgegenkommend, und friedlich
und geregelt verging die Zeit. In seinem einundzwanzigsten Lebensjahre aber
starb nach langem Leiden seine Mutter.
Das war ein groXer Schmerz fXr Johannes Friedemann, den er sich lange
bewahrte. Er genoss ihn, diesen Schmerz, er gab sich ihm hin, wie man sich
einem groXen GlXcke hingibt, er pflegte ihn mit tausend
Kindheitserinnerungen und beutete ihn aus als sein erstes starkes Erlebnis.
Ist nicht das Leben an sich etwas Gutes, gleichviel, ob es sich nun so
fXr uns gestaltet, dass man es "glXcklich" nennt? Johannes Friedemann fXhlte
das, und er liebte das Leben. Niemand versteht, mit welcher innigen Sorgfalt
er, der auf das grXte GlXck, das es uns zu bieten vermag, Verzicht
geleistet hatte, die Freuden, die ihm zugXnglich waren, zu genieXen wusste.
Ein Spaziergang zur FrXhlingszeit drauXen in den Anlagen vor der Stadt, der
Duft einer Blume, der Gesang eines Vogels X konnte man fXr solche Dinge
nicht dankbar sein? Und dass zur GenussfXhigkelt Bildung gehXrt, ja, dass
Bildung immer nur gleich GenussfXhigkeit ist X auch das verstand er: und er
bildete sich. Er liebte die Musik und besuchte alle Konzerte, die etwa in
der Stadt veranstaltet wurden. Er selbst spielte allmXhlich, obgleich er
sich ungemein merkwXrdig dabei ausnahm, die Geige nicht Xbel und freute sich
an jedem schXnen und weichen Ton, der ihm gelang. Auch hatte er sich durch
viele LektXre mit der Zeit einen literarischen Geschmack angeeignet, den er
wohl in der Stadt mit niemandem teilte. Er war unterrichtet Xber die neueren
Erscheinungen des In- und Auslandes, er wusste den rhythmischen Reiz eines
Gedichtes auszukosten, die intime Stimmung einer fein geschriebenen Novelle
auf sich wirken zu lassen ... oh! man konnte beinahe sagen, dass er ein
Epikureer war.
Er lernte begreifen, dass alles genieXenswert, und dass es beinahe
tXricht ist, zwischen glXcklichen und unglXcklichen Erlebnissen zu
unterscheiden: Er nahm alle seine Empfinungen und Stimmungen bereitwilligst
auf und pflegte sie, die trXben so gut wie die heiteren: auch die
unerfXllten WXnsche X die Sehnsucht. Er liebte sie um ihrer selbst willen