"Harry Potter und der Halbblutprinz" - читать интересную книгу автора (Rowling Joanne K.)Horace Slughorn Obwohl Harry in den vergangenen Tagen jede wache Minute in der verzweifelten Hoffnung verbracht hatte, Dumbledore würde tatsächlich kommen und ihn abholen, fühlte er sich ausgesprochen unbehaglich, als sie aufbrachen und zusammen den Ligusterweg entlanggingen. Er hatte außerhalb von Hogwarts bisher noch nie richtig mit seinem Schulleiter gesprochen; normalerweise stand ein Schreibtisch zwischen ihnen. Zudem stieg immer wieder die Erinnerung an ihre letzte persönliche Begegnung in ihm auf, was Harrys Verlegenheit noch verstärkte. Er war damals sehr laut geworden, ganz zu schweigen davon, dass er sich alle Mühe gegeben hatte, einige von Dumbledores kostbarsten Sachen zu demolieren. Dumbledore schien jedoch völlig gelassen. »Halt den Zauberstab bereit, Harry«, sagte er munter. »Aber ich dachte, ich darf außerhalb der Schule nicht zaubern, Sir?« »Wenn es zu einem Angriff kommt«, entgegnete Dumbledore, »gebe ich dir die Erlaubnis, jeden Bannbrecher oder Gegenfluch einzusetzen, der dir einfällt. Allerdings glaube ich nicht, dass du befürchten musst, heute Abend angegriffen zu werden.« »Warum nicht, Sir?« »Du bist mit mir zusammen«, sagte Dumbledore schlicht. »Das genügt, Harry.« Am Ende des Ligusterwegs blieb er jäh stehen. »Du hast deine Prüfung im Apparieren selbstverständlich noch nicht abgelegt?«, fragte er. »Nein«, sagte Harry. »Ich dachte, man muss siebzehn sein?« »Ganz genau«, sagte Dumbledore. »Deshalb solltest du dich jetzt gut an meinem Arm festhalten. Am linken, wenn du nichts dagegen hast – wie du bemerkt hast, ist mein Zauberstabarm im Augenblick ein wenig schwach.« Harry packte Dumbledores Unterarm, den er ihm anbot. »Sehr gut«, sagte Dumbledore. »Also, dann los.« Harry merkte, wie Dumbledores Arm sich von ihm wegbog, und griff umso fester zu. Das Nächste, was er spürte, war, dass alles schwarz wurde; von allen Seiten presste es sehr heftig gegen ihn; er konnte nicht atmen, eiserne Bänder schlossen sich um seine Brust; die Augäpfel wurden ihm in den Kopf getrieben; die Trommelfelle tiefer in seinen Schädel hineingedrückt, und dann – Er sog in tiefen Zügen die kalte Nachtluft ein und öffnete die tränenden Augen. Er fühlte sich, als wäre er gerade durch einen sehr engen Gummischlauch gezwängt worden. Nach einigen Sekunden erst wurde ihm bewusst, dass der Ligusterweg verschwunden war. Er und Dumbledore befanden sich nun offenbar auf einem verlassenen Dorfplatz, in dessen Mitte ein altes Kriegerdenkmal und einige Bänke standen. Als er allmählich begriff, was er verspürt hatte, wurde Harry klar, dass er soeben zum ersten Mal in seinem Leben appariert war. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Dumbledore und blickte besorgt zu ihm hinab. »Das Gefühl ist tatsächlich ein wenig gewöhnungsbedürftig. « »Mir geht's gut«, sagte Harry und rieb sich die Ohren, die sich anfühlten, als hätten sie den Ligusterweg eher ungern verlassen. »Aber ich glaub, Besen sind mir lieber.« Dumbledore lächelte, zog seinen Reiseumhang ein wenig enger um den Hals und sagte: »Hier lang.« Er ging in raschem Tempo los, vorbei an einem leeren Gasthaus und einigen Häusern. Die Uhr einer nahen Kirche zeigte fast Mitternacht. »Übrigens, Harry«, sagte Dumbledore. »Deine Narbe … hat sie in letzter Zeit wehgetan?« Harry fuhr sich unwillkürlich mit der Hand an die Stirn und rieb das blitzförmige Mal. »Nein«, sagte er, »und ich habe mich schon darüber gewundert. Ich dachte, sie würde die ganze Zeit brennen, weil Voldemort jetzt wieder so mächtig ist.« Er blickte zu Dumbledore hoch und sah den zufriedenen Ausdruck auf seinem Gesicht. »Ich dagegen habe etwas anderes gedacht«, sagte Dumbledore. »Lord Voldemort hat endlich erkannt, dass du gefährlichen Zugang zu seinen Gedanken und Gefühlen hattest. Offenbar setzt er jetzt Okklumentik gegen dich ein.« »Mir soll's recht sein«, sagte Harry, der weder die beunruhigenden Träume noch die erschreckend blitzartigen Einsichten in Voldemorts Geist vermisste. Sie bogen um eine Ecke und kamen an einer Telefonzelle und einer überdachten Bushaltestelle vorbei. Harry sah wieder zu Dumbledore hinüber. »Professor?« »Harry?« »Ähm – wo sind wir eigentlich?« »Dies, Harry, ist das bezaubernde Dorf Budleigh Babberton.« »Und was machen wir hier?« »Ach ja, natürlich, das habe ich dir noch gar nicht erzählt«, sagte Dumbledore. »Nun, ich weiß nicht mehr, wie oft ich das in den letzten Jahren gesagt habe, aber unser Kollegium hat wieder einmal einen Lehrer zu wenig. Wir sind hier, um einen alten Kollegen von mir zu überreden, seinen Ruhestand zu unterbrechen und nach Hogwarts zurückzukehren.« »Wie kann ich dabei helfen, Sir?« »Oh, ich denke, wir werden dich schon gebrauchen können«, sagte Dumbledore vage. »Hier links, Harry.« Sie gingen nun durch eine steile, enge und von Häusern gesäumte Straße. Alle Fenster waren dunkel. Die seltsame Kälte, die seit zwei Wochen über dem Ligusterweg gelegen hatte, herrschte auch hier. Bei dem Gedanken an Dementoren warf Harry einen Blick über die Schulter und umklammerte zur Beruhigung den Zauberstab in seiner Tasche. »Professor, warum konnten wir nicht einfach direkt ins Haus Ihres alten Kollegen apparieren?« »Weil das genauso unhöflich wäre, wie die Haustür einzutreten«, sagte Dumbledore. »Es ist ein Gebot der Höflichkeit, dass wir unseren Zauberergefährten die Möglichkeit geben, uns den Zutritt zu verweigern. Die meisten Zaubererwohnungen sind sowieso magisch vor unerwünschten Apparierern geschützt. In Hogwarts, beispielsweise – « » kann man in den Gebäuden und auf dem Gelände nirgendwo apparieren«, sagte Harry rasch. »Hat mir Hermine Granger erzählt.« »Und sie hat völlig Recht. Wir biegen wieder links ab.« Die Kirchturmuhr hinter ihnen schlug Mitternacht. Harry fragte sich, warum Dumbledore es nicht für unhöflich hielt, seinen alten Kollegen so spät noch aufzusuchen, doch nun, da sie gerade richtig im Gespräch waren, hatte er dringendere Fragen zu stellen. »Sir, ich hab im »Richtig«, sagte Dumbledore und bog jetzt in eine steil ansteigende Seitenstraße ein. »Er wurde, wie du sicher auch gelesen hast, durch Rufus Scrimgeour ersetzt, den vormaligen Leiter des Aurorenbüros.« »Ist er … glauben Sie, dass er gut ist?«, fragte Harry. »Eine interessante Frage«, erwiderte Dumbledore. »Er ist fähig, gewiss. Eine entschlossenere und stärkere Persönlichkeit als Cornelius.« »Ja, aber ich meinte – « »Ich weiß, was du meintest. Rufus ist ein Mann der Tat, und da er fast sein ganzes Berufsleben lang gegen schwarze Magier gekämpft hat, unterschätzt er Lord Voldemort nicht.« Harry wartete, aber Dumbledore sagte nichts über den Konflikt mit Scrimgeour, von dem der »Und … Sir … ich hab auch von Madam Bones gelesen.« »Ja«, sagte Dumbledore leise. »Ein schrecklicher Verlust. Sie war eine großartige Hexe. Jetzt hier hinauf, glaube ich – autsch.« Er hatte mit seiner verletzten Hand nach oben gedeutet. »Professor, was ist mit Ihrer –?« »Ich habe jetzt keine Zeit, das zu erklären«, sagte Dumbledore. »Es ist eine spannende Geschichte, ich möchte ihr gerecht werden.« Er lächelte Harry zu, der verstand, dass er damit keine Abfuhr erhalten hatte und weitere Fragen stellen durfte. »Sir – ich habe per Eule ein Merkblatt des Zaubereiministeriums bekommen, zu den Sicherheitsmaßnahmen, die wir alle gegen die Todesser treffen sollen …« »Ja, auch ich habe eins bekommen«, sagte Dumbledore immer noch lächelnd. »Fandest du es nützlich?« »Nicht besonders.« »Das dachte ich mir. Du hast mich zum Beispiel nicht gefragt, was meine Lieblingsmarmelade ist, um zu prüfen, ob ich auch wirklich Professor Dumbledore bin und kein Doppelgänger.« »Ich hab nicht …«, begann Harry, nicht ganz sicher, ob das eine Rüge war oder nicht. »Um dies ein für alle Mal klarzustellen, Harry, es ist Himbeere … obwohl ich natürlich, wenn ich ein Todesser wäre, ganz sicher zuerst meine eigenen Marmeladenvorlieben ausgekundschaftet hätte, ehe ich mich für mich selbst ausgegeben hätte.« »Ähm … stimmt«, sagte Harry. »Also, auf diesem Merkblatt stand auch etwas von Inferi. Was sind eigentlich Inferi? Das Merkblatt hat das nicht genau erklärt.« »Inferi sind Leichen«, sagte Dumbledore ruhig. »Tote Körper, die verhext wurden, um Befehle der schwarzen Magier auszuführen. Inferi wurden allerdings seit langem nicht mehr gesichtet, nicht seit Voldemort das letzte Mal mächtig war … er hat natürlich genug Leute getötet, um eine Armee mit ihnen aufstellen zu können. Hier ist es, Harry, genau hier …« Sie näherten sich einem kleinen, hübschen Steinhaus mit eigenem Garten rundherum. Harry war so beschäftigt, den fürchterlichen Gedanken an die Inferi zu verarbeiten, dass er kaum auf etwas anderes achten konnte, doch als sie das Gartentor erreichten, blieb Dumbledore wie angewurzelt stehen und Harry stieß mit ihm zusammen. »Ach herrje. Ach herrje, herrje.« Harry folgte Dumbledores Blick den sorgfältig gepflegten Weg zum Haus entlang und ihm wurde schwer ums Herz. Die Haustür hing aus den Angeln. Dumbledore sah links und rechts die Straße hinunter. Sie schien völlig verlassen. »Zieh den Zauberstab und folge mir, Harry«, sagte er ruhig. Er öffnete das Tor und ging zügig und leise den Gartenweg entlang, Harry knapp hinter sich, dann drückte er ganz langsam die Haustür auf, den Zauberstab erhoben und einsatzbereit. Die Spitze von Dumbledores Zauberstab flammte auf und warf Licht in einen schmalen Flur. Links stand eine weitere Tür offen. Dumbledore hielt seinen leuchtenden Zauberstab in die Höhe und betrat, dicht gefolgt von Harry, das Wohnzimmer. Ein Anblick völliger Verwüstung bot sich ihnen. Eine zersplitterte Standuhr lag zu ihren Füßen, deren Zifferblatt zerbrochen war und deren Pendel etwas weiter entfernt wie ein fallen gelassenes Schwert dalag. Ein Klavier war umgestürzt und hatte seine Tasten über den Boden verteilt. Daneben glitzerten Bruchstücke des herabgestürzten Kronleuchters. Zerknautschte Kissen lagen herum, denen Federn aus den aufgeschlitzten Seiten quollen; Glassplitter und Porzellanscherben waren wie Pulver über allem verstreut. Dumbledore hob seinen Zauberstab noch ein Stück höher und sein Licht fiel auf die Wände: Etwas Dunkelrotes und Klebriges war auf die Tapete gespritzt. Als Harry kurz nach Luft schnappte, drehte sich Dumbledore um. »Unschön, nicht wahr?«, sagte er mit schwerer Stimme. »Ja, hier ist etwas Schreckliches geschehen.« Vorsichtig ging Dumbledore weiter in die Mitte des Raumes und betrachtete dabei genau die Trümmer zu seinen Füßen. Harry folgte ihm und sah sich um, voller Angst, welcher Anblick ihn hinter dem zerstörten Klavier oder dem umgestürzten Sofa erwarten würde, doch von einer Leiche keine Spur. »Vielleicht hat es einen Kampf gegeben – und sie haben ihn fortgeschleppt, Professor?«, vermutete Harry und wollte sich lieber nicht vorstellen, wie schwer verwundet ein Mann sein musste, dass er solche Flecken bis fast an die Decke hinterließ. »Ich glaube nicht«, sagte Dumbledore leise und spähte hinter den zur Seite gekippten Polstersessel. »Sie meinen, er ist –?« »Immer noch hier irgendwo? Ja.« Und ohne Vorwarnung schlug Dumbledore zu und stach mit der Spitze seines Zauberstabs in den Sitz des Polstersessels, der »Autsch!« schrie. »Guten Abend, Horace«, sagte Dumbledore und richtete sich wieder auf. Harry klappte der Mund auf. Wo vor dem Bruchteil einer Sekunde noch ein Sessel gewesen war, kauerte nun ein ungeheuer fetter, glatzköpfiger alter Mann, der sich den Bauch massierte und mit betrübten und tränenden Augen zu Dumbledore emporschielte. »Es war nicht nötig, den Zauberstab so fest reinzustechen«, sagte er barsch, während er sich aufrappelte. »Das tat weh.« Das Licht des Zauberstabs tanzte über seine glänzende Glatze, seine Glubschaugen, seinen gewaltigen silbernen Walrossbart und die blank polierten Knöpfe der kastanienbraunen Samtjacke, die er über einem lila Seidenpyjama trug. Sein Kopf reichte kaum bis zu Dumbledores Kinn. »Was hat mich verraten?«, brummte er, während er wacklig auf die Beine kam und sich immer noch den Bauch rieb. Er wirkte erstaunlich gefasst für einen Mann, der gerade dabei erwischt worden war, wie er einen Sessel spielte. »Mein lieber Horace«, sagte Dumbledore mit heiterer Miene, »wenn die Todesser wirklich hier vorbeigeschaut hätten, dann hätte man das Dunkle Mal über dem Haus aufsteigen lassen.« Der Zauberer schlug sich mit seiner fleischigen Hand vor die breite Stirn. »Das Dunkle Mal«, murmelte er. »Wusste doch, da war noch was … na gut. Hätte ohnehin keine Zeit mehr gehabt. Ich hab gerade noch meiner Polsterung den letzten Schliff gegeben, als du reinkamst.« Er atmete einmal tief aus und ließ dabei die Spitzen seines Schnurrbarts flattern. »Brauchst du meine Hilfe beim Aufräumen?«, fragte Dumbledore höflich. »Bitte«, sagte der andere. Sie stellten sich Rücken an Rücken, der große dünne Zauberer und der kleine dicke, und schwenkten ihre Zauberstäbe mit der gleichen schwungvollen Bewegung. Die Möbel flogen an ihre angestammten Plätze zurück; Zierwerk setzte sich mitten in der Luft wieder zusammen; Federn flutschten in ihre Kissen; zerrissene Bücher reparierten sich selbst und landeten auf ihren Regalen; Öllampen schwirrten auf Beistelltische und flammten wieder auf; eine umfangreiche Sammlung zerbrochener silberner Bilderrahmen flog glitzernd durch den Raum und ließ sich, heil und makellos, auf einem Schreibtisch nieder; Risse, Sprünge und Löcher schlossen sich überall; und die Wände wischten sich selbst sauber. »Was war das eigentlich für ein Blut?«, fragte Dumbledore laut über das Schlagen der soeben wieder zusammengesetzten Standuhr hinweg. »An den Wänden? Drache«, rief der Zauberer namens Horace, während der Kronleuchter sich unter ohrenbetäubendem Knirschen und Klimpern wieder an die Decke schraubte. Vom Klavier war ein letztes »Ja, Drache«, wiederholte der Zauberer beiläufig. »Meine letzte Flasche, und es kostet zurzeit ein Vermögen. Naja, vielleicht ist es wiederverwendbar.« Er stapfte hinüber zu einer kleinen Kristallflasche, die auf einer Anrichte stand, hob sie gegen das Licht und musterte die dicke Flüssigkeit darin. »Hm. Bisschen staubig.« Er stellte die Flasche zurück auf die Anrichte und seufzte. In diesem Moment fiel sein Blick auf Harry. »Oho«, sagte er und seine großen runden Augen huschten zu Harrys Stirn und der blitzförmigen Narbe darauf. »Das«, sagte Dumbledore und trat näher, um sie einander vorzustellen, »ist Harry Potter. Harry, das ist ein alter Freund und Kollege von mir, Horace Slughorn.« Slughorn drehte sich mit gewitztem Gesichtsausdruck zu Dumbledore. »Auf die Art willst du mich also rumkriegen? Nun, die Antwort lautet nein, Albus.« Er schob sich an Harry vorbei und hielt sein Gesicht entschlossen abgewandt, mit der Miene eines Mannes, der bemüht ist, jeglicher Versuchung zu widerstehen. »Ich meine, wir könnten wenigstens ein Glas zusammen trinken«, bat Dumbledore. »Auf alte Zeiten?« Slughorn zögerte. »Von mir aus, ein Glas«, sagte er unfreundlich. Dumbledore lächelte Harry zu und wies ihn zu einem Sessel, der ähnlich aussah wie der, den Slughorn eben verkörpert hatte, und der direkt neben dem neu entfachten Feuer und einer hell leuchtenden Öllampe stand. Harry setzte sich, er hatte deutlich den Eindruck, dass Dumbledore ihn aus irgendeinem Grund so sichtbar wie möglich haben wollte. Und tatsächlich, als Slughorn, der geschäftig mit Karaffen und Gläsern hantiert hatte, sich wieder dem Raum zuwandte, fiel sein Blick sofort auf Harry. »Umpff«, machte er und schaute rasch weg, als fürchtete er, seinen Augen Schaden zuzufügen. »Hier.« Er reichte Dumbledore, der unaufgefordert Platz genommen hatte, ein Glas, drückte Harry das Tablett in die Hand und sank dann in die Kissen des wiederhergestellten Sofas und in ein missmutiges Schweigen. Seine Beine waren so kurz, dass sie nicht bis zum Boden reichten. »Nun, wie geht es dir so, Horace?«, fragte Dumbledore. »Nicht sonderlich gut«, sagte Slughorn prompt. »Schwach auf der Brust. Asthma. Und Rheuma. Bin nicht mehr so beweglich wie früher. Nun ja, damit muss man rechnen. Das Alter. Die Erschöpfung.« »Trotzdem musst du ziemlich schnell gewesen sein, um uns so kurzfristig einen derartigen Empfang zu bereiten«, sagte Dumbledore. »Du kannst nicht länger als drei Minuten vorher gewarnt gewesen sein?« »Zwei«, sagte Slughorn halb verärgert, halb stolz. »Hab meinen Hausfriedenszauber nicht losgehen hören, nahm gerade ein Bad. Aber«, fügte er unnachgiebig hinzu und schien sich wieder zusammenzureißen, »es ist nun einmal so, ich bin ein alter Mann, Albus. Ein müder alter Mann, der sich das Recht auf ein ruhiges Leben und ein paar Annehmlichkeiten verdient hat.« Die hatte er zweifellos, dachte Harry und sah sich im Zimmer um. Es war muffig und vollgestopft, aber man konnte nicht behaupten, dass es ungemütlich war; es gab weiche Sessel und Schemel, Getränke und Bücher, Pralinenschachteln und dicke Kissen. Wenn Harry nicht gewusst hätte, wer hier lebte, hätte er auf eine reiche, pedantische alte Dame getippt. »Du bist noch nicht so alt wie ich, Horace«, sagte Dumbledore. »Nun, vielleicht solltest du auch mal an den Ruhestand denken«, erwiderte Slughorn freiheraus. Seine hellen stachelbeerfarbenen Augen hatten Dumbledores verletzte Hand entdeckt. »Reagierst anscheinend auch nicht mehr so schnell wie früher.« »Da hast du vollkommen Recht«, sagte Dumbledore gelassen und schüttelte den Ärmel zurück, so dass nur noch die Spitzen seiner verbrannten und geschwärzten Finger zu sehen waren; ihr Anblick löste ein unangenehmes Kribbeln in Harrys Nacken aus. »Ich bin zweifellos langsamer als früher. Doch andererseits …« Er zuckte die Achseln und spreizte die Hände, als wollte er sagen, dass das Alter auch seine Vorteile habe, und Harry fiel ein Ring an seiner unverletzten Hand auf, den er Dumbledore noch nie hatte tragen sehen: Er war groß, ziemlich grob gefertigt und offenbar aus Gold, und ein schwerer schwarzer Stein war darin eingelassen, der in der Mitte durchgebrochen war. Auch Slughorns Blick blieb kurz an dem Ring haften, und Harry sah, wie sich seine breite Stirn einen Moment lang leicht runzelte. »Nun, all diese Vorkehrungen gegen Eindringlinge, Horace … waren sie für die Todesser bestimmt oder für mich?«, fragte Dumbledore. »Was sollten die Todesser mit einem armen, gebrechlichen alten Knallkopf wie mir anfangen?«, gab Slughorn zurück. »Ich könnte mir vorstellen, dass sie von dir verlangen würden, deine außergewöhnlichen Talente für Nötigung, Folter und Mord zu nutzen«, sagte Dumbledore. »Willst du mir tatsächlich weismachen, dass sie noch nicht gekommen sind, um dich anzuwerben?« Slughorn sah Dumbledore einen Moment lang böse an und murmelte dann: »Ich hab ihnen keine Gelegenheit gegeben. Seit einem Jahr ziehe ich ständig um. Bleib nie länger als eine Woche an einem Ort. Zieh von Muggelhaus zu Muggelhaus – die Besitzer von diesem hier sind im Urlaub auf den Kanaren. Es war sehr angenehm, ich werd's vermissen. Es ist ganz leicht, wenn du den Dreh mal raushast – ein schlichter Erstarrungszauber gegen diese lächerlichen Alarmanlagen, die sie statt Spickoskopen benutzen, und aufgepasst, dass die Nachbarn dich nicht sehen, wenn du das Klavier reinbringst.« »Raffiniert«, sagte Dumbledore. »Klingt aber nach einer ziemlich anstrengenden Lebensweise für einen gebrechlichen alten Knallkopf, der gerne ein ruhiges Dasein hätte. Also, wenn du nach Hogwarts zurückkehren würdest – « »Wenn du mir sagen willst, dass mein Leben an dieser verderbten Schule friedlicher wäre, kannst du dir die Worte sparen, Albus! Ich war zwar im Verborgenen, aber seit Dolores Umbridge weggegangen ist, sind mir ein paar seltsame Gerüchte zu Ohren gekommen! Wenn das heutzutage deine Art ist, Lehrer zu behandeln – « »Professor Umbridge hat sich mit unserer Zentaurenherde angelegt«, sagte Dumbledore. »Ich glaube, dir, Horace, wäre etwas Besseres eingefallen, als in den Wald zu marschieren und eine Horde zorniger Zentauren ›schmutzige Halbmenschen‹ zu nennen.« »Das hat sie tatsächlich getan?«, sagte Slughorn. »Idiotisches Weib. Konnte sie nie ausstehen.« Harry gluckste, und Dumbledore und Slughorn drehten sich beide zu ihm um. »Verzeihung«, sagte Harry hastig. »Es ist nur – ich konnte sie auch nicht ausstehen.« Dumbledore stand überraschend auf. »Du gehst?«, fragte Slughorn prompt mit hoffnungsvollem Blick. »Nein, ich würde nur gern mal die Toilette bei dir benutzen«, sagte Dumbledore. »Oh«, erwiderte Slughorn, offensichtlich enttäuscht. »Zweite Tür links, den Flur entlang.« Dumbledore durchquerte das Zimmer. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, trat Stille ein. Nach einigen Augenblicken erhob sich Slughorn, schien jedoch nicht sicher, was er mit sich anfangen sollte. Er warf Harry einen flüchtigen Blick zu, trat dann hinüber zum Feuer, kehrte ihm den Rücken und wärmte seinen breiten Hintern. »Glauben Sie bloß nicht, ich wüsste nicht, warum er Sie mitgebracht hat«, sagte er unvermittelt. Harry sah Slughorn nur an. Slughorns tränende Augen glitten über Harrys Narbe, und diesmal betrachtete er auch den Rest seines Gesichts. »Sie sehen Ihrem Vater sehr ähnlich.« »Ja, das hat man mir schon gesagt«, erwiderte Harry. »Mit Ausnahme der Augen. Sie haben – « »Die Augen meiner Mutter, ja.« Harry hatte das so häufig gehört, dass er es ein wenig ermüdend fand. »Umpff. Nun ja. Man sollte als Lehrer natürlich keine Lieblingsschüler haben, aber sie war eine von meinen. Ihre Mutter«, fügte Slughorn hinzu, als Harry ihn fragend anblickte. »Lily Evans. Eine der Klügsten, die ich je unterrichtet habe. Aufgeweckt, wissen Sie? Reizendes Mädchen. Ich hab immer zu ihr gesagt, dass sie eigentlich in mein Haus gehört. Da hab ich auch immer sehr freche Antworten bekommen.« »In welchem Haus waren Sie?« »Ich war der Hauslehrer von Slytherin«, sagte Slughorn. »Aber«, fuhr er rasch fort, als er Harrys Gesichtsausdruck sah, und er drohte ihm mit einem Wurstfinger, »halten Sie mir das bloß nicht vor! Sie sind Gryffindor, wie sie, schätze ich? Ja, meist geht das nach Familien. Allerdings nicht immer. Schon mal was von Sirius Black gehört? Mit Sicherheit – er war in den letzten paar Jahren dauernd in den Zeitungen – ist vor wenigen Wochen gestorben – « Es war, als ob eine unsichtbare Hand Harrys Eingeweide verdreht hätte und sie fest umklammert hielt. »Nun, er war jedenfalls in der Schule ein guter Kumpel von Ihrem Vater. Ich hatte die gesamte Familie Black in meinem Haus gehabt, aber Sirius ist in Gryffindor gelandet! Schade – er war ein talentierter Junge. Als sein Bruder Regulus dann kam, hab ich ihn gekriegt, aber ich hätte gern alle bekommen.« Er hörte sich an wie ein begeisterter Sammler, der bei einer Versteigerung überboten worden war. Offenbar in Erinnerungen versunken, starrte er auf die Wand gegenüber und drehte sich gemächlich auf der Stelle, damit sein Hinterteil gleichmäßig beheizt wurde. »Ihre Mutter stammte doch tatsächlich von Muggeln ab. Konnte es nicht fassen, als ich es rausfand. Dachte, sie müsste reinblütig sein, so gut, wie sie war.« »Eine sehr gute Freundin von mir ist muggelstämmig«, sagte Harry, »und sie ist die Beste in unserem Jahrgang.« »Komisch, dass das manchmal vorkommt, nicht wahr?«, sagte Slughorn. »Eigentlich nicht«, erwiderte Harry kühl. Slughorn sah überrascht zu ihm hinunter. »Sie dürfen nicht glauben, dass ich Vorurteile hätte!«, sagte er. »Nein, nein, nein! Hab ich nicht eben gesagt, dass Ihre Mutter einer meiner absoluten Lieblinge war? Und dann gab es da auch noch Dirk Cresswell, im Jahr nach ihr – er ist jetzt natürlich Leiter des Koboldverbindungsbüros –, noch ein Muggelstämmiger, ein sehr begabter Schüler, der mir nach wie vor hervorragende Insider-Informationen über die Vorgänge bei Gringotts liefert!« Er wippte ein wenig auf und ab, lächelte selbstzufrieden und deutete auf die Kommode mit den vielen Fotos in glänzenden Rahmen, die alle mit winzigen, sich bewegenden Gestalten bevölkert waren. »Allesamt ehemalige Schüler von mir, alle signiert. Das ist zum Beispiel Barnabas Cuffe, Chefredakteur beim Beim Gedanken daran schien sich seine Stimmung mächtig zu heben. »Und all diese Leute wissen, wo Sie zu finden sind, wenn sie Ihnen Sachen schicken wollen?«, fragte Harry, der sich unwillkürlich wunderte, warum die Todesser Slughorn noch nicht aufgespürt hatten, wo doch Körbe mit Süßigkeiten, Quidditch-Karten und Besucher, die begierig seinen Rat und seine Meinung hören wollten, ihn finden konnten. Das Lächeln schwand aus Slughorns Gesicht, so schnell wie das Blut von seinen Wänden. »Natürlich nicht«, sagte er und blickte auf Harry hinab. »Seit einem Jahr habe ich zu niemandem mehr Kontakt.« Harry hatte den Eindruck, dass Slughorn über seine eigenen Worte erschrak; einen Moment lang wirkte er ziemlich beunruhigt. Dann zuckte er die Achseln. »Jedenfalls … in Zeiten wie diesen zieht der kluge Zauberer den Kopf ein. Schön und gut, was Dumbledore sagt, aber wenn ich gerade jetzt einen Posten in Hogwarts annehmen würde, hieße das nichts anderes, als öffentlich meine Loyalität zum Orden des Phönix zu bekunden! Und obwohl die mit Sicherheit sehr bewundernswert und mutig und alles sind, bin ich persönlich von ihrer Sterblichkeitsrate nicht gerade angetan –« »Sie müssen sich dem Orden nicht anschließen, um in Hogwarts zu unterrichten«, sagte Harry, der sich einen spöttischen Unterton in seiner Stimme nicht ganz verkneifen konnte: Es fiel ihm schwer, Slughorns bequemes Leben gutzuheißen, wenn er an Sirius dachte, der sich in einer Höhle verkrochen und von Ratten gelebt hatte. »Die meisten Lehrer sind nicht drin und bisher wurde keiner von ihnen umgebracht – na ja, außer man zählt Quirrell mit, und der bekam, was er verdiente, weil er mit Voldemort zusammengearbeitet hat.« Harry war sicher, dass Slughorn einer der Zauberer war, die es nicht ertragen konnten, wenn Voldemorts Name laut ausgesprochen wurde, und er wurde nicht enttäuscht: Slughorn erschauderte und protestierte lautstark, doch Harry ignorierte ihn. »Ich schätze, die Lehrer sind sicherer als die meisten Leute, solange Dumbledore Schulleiter ist; er soll der Einzige sein, den Voldemort je gefürchtet hat, nicht wahr?«, fuhr Harry fort. Slughorn starrte einige Augenblicke ins Leere: Er schien über Harrys Worte nachzudenken. »Nun ja, es stimmt, dass Er, dessen Name nicht genannt werden darf, nie einen Kampf mit Dumbledore gesucht hat«, murmelte er widerwillig. »Und da ich mich nicht den Todessern angeschlossen habe, könnte man vermutlich behaupten, dass Er, dessen Name nicht genannt werden darf, mich wohl kaum zu seinen Freunden zählen kann … von daher wäre ich in Albus' Nähe vielleicht sicherer … ich will nicht so tun, als hätte Amelia Bones' Tod mich nicht erschüttert … wenn sie, mit all ihren Beziehungen zum Ministerium und unter dessen Schutz …« Dumbledore kam ins Zimmer zurück, und Slughorn zuckte zusammen, als ob er vergessen hätte, dass er im Haus war. »Oh, da bist du ja, Albus«, sagte er. »Hast sehr lange gebraucht. Magen verstimmt?« »Nein, ich habe nur in den Muggelmagazinen gelesen«, sagte Dumbledore. »Ich habe ein Faible für Strickmuster. Nun, Harry, wir haben Horace' Gastfreundschaft wahrhaft lange genug in Anspruch genommen; ich denke, es ist Zeit für uns, zu gehen.« Harry gehorchte nur zu gern und sprang auf. Slughorn schien bestürzt. »Ihr geht?« »Ja, in der Tat. Ich denke, ich weiß, wann eine Sache aussichtslos ist.« »Aussichtslos …?« Slughorn schien aufgeregt. Er drehte nervös seine fetten Däumchen und sah zu, wie Dumbledore seinen Reiseumhang zuschnürte und Harry den Reißverschluss seiner Jacke hochzog. »Nun, ich bedaure, dass du die Stelle nicht haben willst, Horace«, sagte Dumbledore und hob seine unverletzte Hand zu einem Abschiedsgruß. »Hogwarts wäre froh gewesen, dich wieder zu haben. Trotz unserer deutlich verschärften Sicherheitsvorkehrungen kannst du uns immer gerne besuchen, falls du das wünschst.« »Ja … nun … sehr liebenswürdig … Was ich sagen wollte …« »Dann auf Wiedersehen.« »Tschüss«, sagte Harry. Sie waren an der Haustür angelangt, als sie hinter sich einen Ruf hörten. »Na gut, na gut, ich mach's!« Dumbledore drehte sich um und sah Slughorn atemlos in der Wohnzimmertür stehen. »Du willst aus dem Ruhestand zurückkehren?« »Ja, ja«, erwiderte Slughorn ungeduldig. »Ich muss verrückt sein, aber ja.« »Wunderbar«, sagte Dumbledore strahlend. »Dann, Horace, sehen wir uns am ersten September.« »Ja, das würde ich auch sagen«, brummte Slughorn. Als sie den Gartenpfad entlanggingen, wehte ihnen Slughorns Stimme hinterher. »Ich will eine Gehaltserhöhung, Dumbledore!« Dumbledore gluckste. Das Gartentor schwang hinter ihnen zu, und sie machten sich durch die Dunkelheit und die wirbelnden Nebelschleier auf den Weg zurück den Hügel hinunter. »Gut gemacht, Harry«, sagte Dumbledore. »Ich hab überhaupt nichts gemacht«, gab Harry überrascht zurück. »O doch, das hast du. Du hast Horace sehr genau klar gemacht, was er zu gewinnen hat, wenn er nach Hogwarts zurückkehrt. Mochtest du ihn?« »Ähm …« Harry war nicht sicher, ob er Slughorn mochte oder nicht. Auf seine Art war er ganz nett gewesen, dachte er, aber er wirkte auch eingebildet und, selbst wenn er das Gegenteil behauptete, viel zu überrascht darüber, dass eine Muggelstämmige eine gute Hexe abgeben sollte. »Horace«, sagte Dumbledore und enthob Harry damit der Verpflichtung, irgendetwas davon auszusprechen, »mag es gern behaglich. Er mag auch die Gesellschaft der Berühmten, der Erfolgreichen und der Mächtigen. Er genießt das Gefühl, diese Leute zu beeinflussen. Er wollte nie selber den Thron einnehmen; er zieht die zweite Reihe vor – mehr Platz, um sich auszubreiten, verstehst du? Früher in Hogwarts hat er seine Lieblinge handverlesen, manche, weil sie ehrgeizig oder intelligent waren, andere, weil sie charmant oder talentiert waren, und er hatte ein unglaubliches Geschick, diejenigen auszuwählen, die später auf ihren jeweiligen Gebieten glänzten. Horace gründete eine Art Klub seiner Lieblinge, dessen Mittelpunkt er selbst war. Er hat Leute miteinander bekannt gemacht, nützliche Beziehungen zwischen den Mitgliedern geknüpft und als Gegenleistung immer irgendeinen Gewinn daraus gezogen, sei es eine kostenlose Schachtel mit seinen geliebten kandierten Ananas oder die Möglichkeit, den nächsten Nachwuchsmitarbeiter für das Koboldverbindungsbüro zu empfehlen.« Harry hatte plötzlich das deutliche Bild einer großen aufgeblähten Spinne vor Augen, die ein Netz um ihn spann und mal hier und mal da an einem Faden zupfte, um ihre großen und saftigen Fliegen ein wenig näher heranzuholen. »All das«, fuhr Dumbledore fort, »erzähle ich dir nicht, um dich gegen Horace aufzubringen – oder, wie wir ihn jetzt nennen müssen, Professor Slughorn –, sondern damit du auf der Hut bist. Er wird zweifellos versuchen, dich für sich zu gewinnen, Harry. Du wärst das Juwel seiner Sammlung: der Junge, der überlebt hat … oder, wie sie dich heute nennen, der Auserwählte.« Bei diesen Worten kroch eine Kälte über Harry, die nichts mit dem Nebel rundum zu tun hatte. Er erinnerte sich an Worte, die er vor einigen Wochen gehört hatte, Worte, die eine schreckliche und besondere Bedeutung für ihn hatten: Dumbledore war stehen geblieben, auf Höhe der Kirche, an der sie vorher vorbeigegangen waren. »Das soll genügen, Harry. Nimm jetzt bitte meinen Arm.« Diesmal war Harry gefasst auf das, was kommen würde, und bereit zum Apparieren, doch er fand es trotzdem unangenehm. Als der Druck nachließ und er wieder atmen konnte, stand er auf einer Landstraße neben Dumbledore und sah vor sich die schiefen Umrisse seines zweitliebsten Gebäudes der Welt: des Fuchsbaus. Trotz des beklemmenden Gefühls, das ihn eben noch durchdrungen hatte, wurde seine Laune bei diesem Anblick wie von selbst besser. Dort drin war Ron … und auch Mrs Weasley, die besser kochen konnte als jeder, den er kannte … »Wenn du nichts dagegen hast, Harry«, sagte Dumbledore, als sie durch das Tor gingen, »möchte ich noch ein paar Worte mit dir wechseln, ehe wir uns trennen. Unter vier Augen. Vielleicht da drin?« Dumbledore wies auf ein heruntergekommenes steinernes Nebengebäude, wo die Weasleys ihre Besen aufbewahrten. Ein wenig verwundert folgte Harry Dumbledore durch die knarrende Tür in einen Raum, der etwas kleiner war als ein gewöhnlicher Schrank. Dumbledore ließ die Spitze seines Zauberstabs leuchten, so dass er wie eine Taschenlampe brannte, und lächelte zu Harry hinab. »Ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich es erwähne, Harry, aber ich bin froh und ein wenig stolz darauf, wie gut du offenbar zurechtkommst, nach allem, was im Ministerium geschehen ist. Gestatte mir zu bemerken, dass Sirius stolz auf dich gewesen wäre.« Harry schluckte; die Stimme schien ihm zu versagen. Er meinte es nicht ertragen zu können, über Sirius zu sprechen. Es war schmerzhaft genug gewesen, Onkel Vernon sagen zu hören: »Sein Pate ist tot?«; noch schmerzhafter war es, als Slughorn Sirius' Namen beiläufig fallen ließ. »Es war schlimm«, sagte Dumbledore sanft, »dass du und Sirius nur eine so kurze gemeinsame Zeit hattet. Ein grausames Ende für etwas, das eine lange und glückliche Beziehung hätte sein sollen.« Harry nickte, den Blick entschlossen auf die Spinne geheftet, die jetzt Dumbledores Hut hinaufkletterte. Er spürte, dass Dumbledore ihn verstand, dass er vielleicht sogar ahnte, dass Harry, ehe sein Brief eintraf, fast die ganze Zeit bei den Dursleys auf seinem Bett gelegen, die Mahlzeiten verweigert und auf das beschlagene Fenster gestarrt hatte, erfüllt von der kalten Leere, die er inzwischen mit Dementoren in Verbindung brachte. »Es ist einfach schwierig«, sagte Harry schließlich leise, »sich klar zu machen, dass er mir nie mehr schreiben wird.« Seine Augen brannten plötzlich und er blinzelte. Es kam ihm albern vor, es zuzugeben, aber die Tatsache, dass er jemanden außerhalb von Hogwarts gehabt hatte, dem am Herzen lag, was mit ihm geschah, fast wie ein Vater oder eine Mutter, war mit das Beste daran gewesen, als er entdeckt hatte, dass er einen Paten besaß … und nun würden ihm die Posteulen nie wieder einen solchen Trost bringen … »Sirius hat viel für dich bedeutet, was du nie zuvor erfahren hast«, sagte Dumbledore sanft. »Natürlich ist der Verlust niederschmetternd …« »Aber während ich bei den Dursleys war«, unterbrach ihn Harry und seine Stimme wurde immer kräftiger, »ist mir klar geworden, dass ich mich nicht einfach zurückziehen kann oder – oder durchdrehen. Das hätte Sirius nicht gewollt, oder? Das Leben ist jedenfalls viel zu kurz … wenn man an Madam Bones denkt oder an Emmeline Vance … ich könnte der Nächste sein, stimmt's? Aber wenn das so ist«, sagte er grimmig und blickte nun direkt in Dumbledores blaue Augen, die im Licht des Zauberstabs funkelten, »dann werde ich dafür sorgen, dass ich so viele Todesser wie möglich mitnehme, und wenn ich es schaffe, Voldemort noch dazu.« »Du sprichst wie deiner Mutter und deines Vaters Sohn und Sirius' wahrer Patensohn!«, sagte Dumbledore und klopfte Harry anerkennend auf die Schulter. »Ich ziehe meinen Hut vor dir – oder besser nicht, denn ich fürchte, dann würde ich dich mit Spinnen berieseln. Und jetzt, Harry, zu einem Thema, das eng damit zusammenhängt … Ich nehme an, du hast in den letzten beiden Wochen den »Ja«, sagte Harry, und sein Herz schlug ein wenig schneller. »Dann wirst du gesehen haben, dass dein Abenteuer in der Halle der Prophezeiung nicht durchgesickert ist, sondern geradezu durchgeflutet?« »Ja«, sagte Harry noch einmal. »Und alle wissen jetzt, dass ich derjenige bin – « »Nein, das wissen sie nicht«, unterbrach Dumbledore ihn. »Es gibt nur zwei Menschen auf der ganzen Welt, die den gesamten Inhalt der Prophezeiung kennen, die über dich und Lord Voldemort gemacht wurde, und die stehen beide hier in diesem stinkenden Besenschuppen voller Spinnen. Es stimmt allerdings, viele haben sich zusammengereimt, dass Voldemort seine Todesser geschickt hat, um eine Prophezeiung zu stehlen, und dass diese Prophezeiung dich betraf. Nun, ich denke, ich liege richtig, wenn ich sage, dass du niemandem erzählt hast, dass du weißt, wie die Prophezeiung lautet?« »Ja«, antwortete Harry. »Ein weiser Entschluss, im Großen und Ganzen«, sagte Dumbledore. »Dennoch meine ich, dass du ihn zugunsten deiner Freunde, Mr Ronald Weasley und Miss Hermine Granger, etwas lockern solltest. Ja«, fuhr er fort, als Harry verdutzt dreinblickte, »ich denke, sie sollten es erfahren. Du tust ihnen keinen Gefallen, wenn du ihnen etwas so Wichtiges verschweigst.« »Ich wollte nicht – « » dass sie sich Sorgen machen oder Angst bekommen?«, sagte Dumbledore und musterte Harry über den Rand seiner Halbmondbrille. »Oder vielleicht auch nicht eingestehen, dass du dir selber Sorgen machst und Angst hast? Du brauchst deine Freunde, Harry. Wie du so richtig gesagt hast, Sirius hätte es nicht gewollt, dass du dich zurückziehst.« Harry erwiderte nichts, aber Dumbledore schien keine Antwort zu verlangen. Er fuhr fort: »Was ein anderes, doch dazugehöriges Thema angeht, so ist es mein Wunsch, dass du dieses Jahr Einzelstunden bei mir nimmst.« »Einzelstunden – bei Ihnen?«, sagte Harry, der aus seinem gedankenverlorenen Schweigen hochschreckte. »Ja. Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich mich verstärkt um deine Ausbildung kümmere.« »Worin werden Sie mich unterrichten, Sir?« »Oh, ein bisschen hierin, ein bisschen darin«, sagte Dumbledore leichthin. Harry wartete hoffnungsvoll, aber Dumbledore gab keine näheren Auskünfte, also fragte er nach etwas anderem, das ihn ein wenig bedrückte. »Wenn ich Unterricht bei Ihnen habe, muss ich keinen Okklumentikunterricht mehr bei Snape nehmen, oder?« »Gut«, sagte Harry erleichtert, »das war nämlich ein – « Er hielt inne, bemüht, nicht zu sagen, was er wirklich dachte. »Ich denke, das Wort ›Fiasko‹ würde da gut passen«, sagte Dumbledore und nickte. Harry lachte. »Das heißt also, dass ich Professor Snape von jetzt an nicht mehr allzu oft sehen werde«, sagte er, »denn er lässt mich nicht in Zaubertränke weitermachen, wenn ich kein ›Ohnegleichen‹ in meinen ZAGs kriege, und ich weiß, das kriege ich nicht.« »Du sollst den Tag nicht vor der letzten Eule loben«, sagte Dumbledore ernst. »Was aber, wie mir gerade einfällt, heute etwas später noch möglich sein sollte. Jetzt zwei weitere Dinge, Harry, ehe wir auseinander gehen. Erstens möchte ich, dass du von diesem Moment an deinen Tarnumhang jederzeit bei dir trägst. Sogar in Hogwarts. Nur für alle Fälle, du verstehst mich?« Harry nickte. »Und schließlich – während du dich hier aufhältst, bekommt der Fuchsbau den höchsten Sicherheitsstandard, den das Zaubereiministerium bieten kann. Diese Vorkehrungen bereiten Arthur und Molly ein gewisses Maß an Unannehmlichkeiten – so wird zum Beispiel ihre gesamte Post im Ministerium durchsucht, ehe sie weitergeleitet wird. Es stört sie nicht im Geringsten, denn ihre einzige Sorge ist deine Sicherheit. Allerdings würdest du es ihnen schlecht danken, wenn du deinen Hals riskiertest, während du bei ihnen bist.« »Ich verstehe«, sagte Harry rasch. »Sehr gut«, sagte Dumbledore, stieß die Tür des Besenschuppens auf und trat hinaus auf den Hof. »Ich sehe Licht in der Küche. Wir wollen Molly nicht länger die Gelegenheit vorenthalten zu beklagen, wie dünn du bist.« |
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