"16 Uhr 50 ab Paddington" - читать интересную книгу автора (Кристи Агата)

Viertes Kapitel

I

Der Name Lucy Eyelesbarrow war in gewissen Kreisen l#228;ngst ein Begriff.

Lucy Eyelesbarrow war zweiunddrei#223;ig Jahre alt. Sie hatte in Oxford Mathematik studiert und mit Auszeichnung abgeschlossen, man attestierte ihr einen hervorragenden Verstand und ging stillschweigend davon aus, sie w#252;rde an der Universit#228;t Karriere machen.

Lucy Eyelesbarrow war jedoch nicht nur eine hervorragende Wissenschaftlerin, sondern hatte auch eine anst#228;ndige Portion gesunden Menschenverstand abbekommen. Es entging ihr keineswegs, dass ein hoher akademischer Rang nur k#252;mmerlich verg#252;tet wurde. Sie hatte nicht den geringsten Wunsch zu lehren, sondern genoss den Kontakt mit Geistern, die dem ihren nicht das Wasser reichen konnten. Kurz, sie hatte ein Faible f#252;r Menschen, f#252;r alle m#246;glichen Menschen – und nicht immer die gleichen Menschen. Au#223;erdem mochte sie, um der Wahrheit die Ehre zu geben, Geld. Um zu Geld zu kommen, musste man M#228;ngel ausnutzen.

Lucy Eyelesbarrow stie#223; sehr bald auf einen empfindlichen Mangel – den Mangel an ausgebildetem Hauspersonal. Zum Erstaunen ihrer Freunde und Forscherkollegen wurde Lucy Eyelesbarrow Hausangestellte.

Sie hatte sofort durchschlagenden Erfolg. Inzwischen, nach einer Zeitspanne von einigen Jahren, kannte man sie landauf, landab auf den Britischen Inseln. Es war keineswegs ungew#246;hnlich, dass Frauen fr#246;hlich zu ihren Gatten sagten: «Es hat geklappt. Ich kann mit dir in die Staaten fahren. Ich habe Lucy Eyelesbarrow bekommen!» Das Besondere an Lucy Eyelesbarrow war, dass sie blo#223; in einem Haus aufzutauchen brauchte, und schon l#246;sten sich Sorgen, N#246;te und harte Arbeit in Wohlgefallen auf. Lucy Eyelesbarrow k#252;mmerte sich um alles, tat alles, richtete alles. Sie war die T#252;chtigkeit in Person. Sie sorgte f#252;r hinf#228;llige Eltern, h#252;tete kleine Kinder, pflegte Kranke, war eine g#246;ttliche K#246;chin, kam mit verkn#246;cherten alten Dienern zurecht, falls es welche gab (meist gab es keine), war taktvoll im Umgang mit unm#246;glichen Leuten, beruhigte Gewohnheitstrinker und konnte wunderbar mit Hunden umgehen. Das Allerbeste aber war, dass sie sich f#252;r keine Arbeit zu schade war. Sie scheuerte den K#252;chenboden, grub den Garten um, beseitigte Hundedreck und schleppte Kohlen.

Aus Prinzip lie#223; sie sich nie f#252;r l#228;ngere Zeit anstellen. Vierzehn Tage waren die Regel – ein Monat das H#246;chstma#223;. Die vierzehn Tage kosteten ein Verm#246;gen! Aber w#228;hrend dieser vierzehn Tage lebte man wie im Paradies. Man konnte sich nach allen Regeln der Kunst entspannen, ins Ausland fahren, die Beine hochlegen, tun und lassen, was man wollte, stets konnte man beruhigt sein, weil an der Heimatfront in Lucy Eyelesbarrows fachkundigen H#228;nden alles bestens aufgehoben war.

Ihre Dienste waren nat#252;rlich ungeheuer gefragt. Wenn sie gewollt h#228;tte, w#228;re sie die n#228;chsten drei Jahre ausgebucht gewesen. Man hatte ihr Unsummen f#252;r Festanstellungen geboten. Aber Lucy hatte nicht die Absicht, sich in Festanstellung zu begeben, auch verpflichtete sie sich nie f#252;r mehr als sechs Monate im Voraus. Und ohne dass ihre lautstarken Bittsteller etwas davon erfuhren, plante sie in diesem Zeitraum freie Phasen f#252;r kurze kostspielige Urlaube ein (Ausgaben f#252;r Kost und Logis fielen ja nicht an, #252;berdies wurde sie f#252;rstlich entlohnt) oder f#252;r kurzfristige Stellenangebote, die sie entweder als solche ansprachen oder weil sie «die Leute mochte». Da sie sich bei dem Kundenkreis, der sich um ihre Dienste bewarb, die Rosinen aus dem Kuchen picken konnte, folgte sie gro#223;enteils ihren pers#246;nlichen Neigungen. F#252;r Geld allein erwarb man sich nicht die Dienste einer Lucy Eyelesbarrow. Sie hatte die Wahl, und sie nutzte sie. Sie genoss diese Lebensweise sehr und sah darin einen nie versiegenden Quell der Unterhaltung.

Lucy Eyelesbarrow las Miss Marples Brief wiederholt durch. Die beiden hatten sich vor zwei Jahren kennen gelernt, als Lucy von dem Romancier Raymond West engagiert worden war, um seine alte Tante zu versorgen, die damals eine Lungenentz#252;ndung auskurierte. Lucy hatte das Angebot angenommen und war nach St. Mary Mead gekommen. Miss Marple hatte ihr sehr gefallen. Was Miss Marple anging, so brauchte sie nur einen Blick aus dem Schlafzimmerfenster zu werfen; als sie sah, mit welcher Sorgfalt Lucy Eyelesbarrow Reihen f#252;r die Gartenwicken zog, hatte sie sich erleichtert in die Kissen zur#252;ckfallen lassen, die von Lucy aufgetischten verf#252;hrerischen Speisen gegessen und angenehm #252;berrascht gelauscht, wie ihr altes, knurriges Hausm#228;dchen erz#228;hlte. «Ich habe dieser Miss Eyelesbarrow ein H#228;kelmuster gezeigt, von dem sie noch nie geh#246;rt hatte! Die war vielleicht dankbar.» Und ihren Arzt hatte sie mit ihrer schnellen Genesung #252;berrascht.

Miss Marple fragte in dem Brief, ob Miss Eyelesbarrow eine bestimmte Aufgabe f#252;r sie #252;bernehmen k#246;nne – eine ziemlich ungew#246;hnliche. Vielleicht k#246;nne Miss Eyelesbarrow den Termin eines Treffens vorschlagen, bei dem sie die Angelegenheit n#228;her besprechen k#246;nnten.

Lucy Eyelesbarrow runzelte die Stirn und #252;berlegte. Eigentlich war sie bis auf weiteres ausgebucht. Aber das Wort ungew#246;hnlich und ihre Erinnerung an Miss Marples Pers#246;nlichkeit gewannen die Oberhand, sie rief sofort an und erkl#228;rte, sie k#246;nne zwar nicht nach St. Mary Mead kommen, da sie zur Zeit arbeite, sei jedoch am kommenden Nachmittag von zwei bis vier Uhr frei und k#246;nne Miss Marple irgendwo in London treffen. Sie schlug ihren Club vor, eine ziemlich unscheinbare Einrichtung, die aber den Vorteil mehrerer kleiner dunkler Schreibzimmer habe, die selten benutzt w#252;rden.

Miss Marple war mit dem Vorschlag einverstanden, und sie trafen sich am Tag darauf.

Sie gaben sich die Hand, Lucy Eyelesbarrow f#252;hrte ihren Gast in das dunkelste Schreibzimmer und sagte: «Es tut mir Leid, dass ich gegenw#228;rtig ausgebucht bin, aber erz#228;hlen Sie doch bitte, was ich f#252;r Sie tun soll.»

«Das ist eigentlich ganz einfach», sagte Miss Marple. «Ungew#246;hnlich, aber einfach. Ich m#246;chte, dass Sie eine Leiche finden.»

Lucy hatte kurz den Verdacht, Miss Marple habe den Verstand verloren, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort. Miss Marple war absolut zurechnungsf#228;hig. Sie meinte wortw#246;rtlich, was sie gesagt hatte.

Lucy Eyelesbarrow blieb die Ruhe selbst und fragte: «Was f#252;r eine Leiche?»

«Eine Frauenleiche», sagte Miss Marple. «Die Leiche einer Frau, die in einem Zug ermordet wurde – erdrosselt, um genau zu sein.»

Lucy zog die Augenbrauen hoch.

«Das ist allerdings ungew#246;hnlich. Erz#228;hlen Sie mehr davon.»

Das tat Miss Marple. Lucy Eyelesbarrow h#246;rte aufmerksam zu, ohne zu unterbrechen. Schlie#223;lich sagte sie:

«Alles h#228;ngt davon ab, was Ihre Freundin gesehen hat – oder glaubt…»

Sie beendete den Satz nicht, sondern lie#223; ihn fragend in der Schwebe.

«Elspeth McGillicuddy phantasiert nicht», sagte Miss Marple. «Deswegen verlasse ich mich auf ihre Worte. Bei Dorothy Cartwright – also, bei der w#228;re das etwas ganz anderes. Dorothy wei#223; immer eine gute Geschichte zu erz#228;hlen, oft glaubt sie sie auch, und gelegentlich hat sie sogar einen wahren Kern, aber das ist auch alles. Elspeth geh#246;rt hingegen zu den Frauen, denen es schwer f#228;llt zu glauben, dass etwas Au#223;ergew#246;hnliches oder Seltsames #252;berhaupt geschehen kann. Sie ist kaum zu beeinflussen, wie Granit.»

«Ich verstehe», sagte Lucy nachdenklich. «Gut, gehen wir einmal davon aus. Und wo komme ich ins Spiel?»

«Ich war sehr beeindruckt von Ihnen», sagte Miss Marple, «und ich selbst bin ja nicht mehr robust genug, um loszuziehen und alles selbst zu erledigen.»

«Ich soll Nachforschungen f#252;r Sie anstellen? Etwas in der Richtung? Aber hat die Polizei das nicht l#228;ngst getan? Oder glauben Sie, man w#228;re dort nachl#228;ssig gewesen?»

«O nein», sagte Miss Marple. «Man war keineswegs nachl#228;ssig. Nur habe ich meine eigenen Ansichten, was diese Frauenleiche angeht. Irgendwo muss sie schlie#223;lich abgeblieben sein. Im Zug ist sie nicht gefunden worden, also muss sie aus dem Zug gesto#223;en oder geworfen worden sein – an den Gleisen ist sie aber auch nicht gefunden worden. Ich habe daher denselben Zug genommen und nach Stellen gesucht, wo die Leiche aus dem Zug geworfen worden sein k#246;nnte, aber trotzdem nicht an den Gleisen gefunden werden musste, und es gibt eine solche Stelle. Kurz vor Brackhampton macht die Strecke auf einem hohen Bahndamm eine weite Kurve. W#252;rde eine Leiche dort hinausgeworfen, wo sich der Zug in die Kurve legt, dann w#252;rde sie, glaube ich, direkt den Bahndamm hinabst#252;rzen.»

«Aber auch dort m#252;sste sie doch gefunden werden.»

«Gewiss. Sie muss weggebracht worden sein… Aber dazu kommen wir gleich. Schauen Sie bitte mal auf die Karte – hier ist die Stelle.»

Lucy beugte sich #252;ber den Kartenausschnitt, auf den Miss Marples Finger zeigte.

«Das liegt heute am Stadtrand von Brackhampton», sagte Miss Marple, «aber eigentlich ist es ein Landsitz mit weitl#228;ufigen Parks und Anlagen. Das alles ist noch ganz unber#252;hrt – umringt von Siedlungen kleiner Vorstadth#228;user. Der Landsitz hei#223;t Rutherford Hall. Er wurde 1884 von einem Mann namens Crackenthorpe erbaut, einem schwerreichen Unternehmer. Der Sohn dieses ersten Crackenthorpe ist heute ein alter Mann und wohnt dort, wenn ich recht informiert bin, mit einer Tochter. Die Eisenbahn f#252;hrt um das halbe Grundst#252;ck herum.»

«Und was genau soll ich jetzt tun?»

Miss Marple antwortete ohne Z#246;gern.

«Ich m#246;chte, dass Sie dort eine Anstellung finden. Alle Welt schreit heutzutage nach t#252;chtigen Hausangestellten – ich glaube, das d#252;rfte keine Schwierigkeit sein.»

«Nein, das glaube ich allerdings auch nicht.»

«Es hei#223;t in der Gegend, Mr. Crackenthorpe sei ein ziemlicher Geizhals. Sollten Sie sich also mit einem niedrigen Gehalt abfinden, werde ich f#252;r die Differenz aufkommen, da Ihr Sal#228;r h#246;her als #252;blich sein sollte.»

«Wegen der Schwierigkeit?»

«Weniger der Schwierigkeit als vielmehr der Gefahr wegen. Wissen Sie, es k#246;nnte gef#228;hrlich werden. Dar#252;ber m#246;chte ich Sie nicht im Unklaren lassen.»

«Ich w#252;sste nicht, dass ich mich von eventuellen Gefahren abschrecken lie#223;e», sagte Lucy nachdenklich.

«Das hatte ich auch nicht angenommen», sagte Miss Marple. «Sie sind von anderem Schrot und Korn.»

«Sie haben sich vermutlich sogar gesagt, die Gefahr w#252;rde mich locken, oder? Ich bin in meinem Leben nur sehr selten in Gefahr geraten. Aber glauben Sie im Ernst, es k#246;nne gef#228;hrlich werden?»

«Jemand hat erfolgreich ein Verbrechen begangen», f#252;hrte Miss Marple aus. «Niemand hat Zeter und Mordio geschrien, kein Verdacht ist laut geworden. Zwei alte Damen haben eine ziemlich phantastische Geschichte erz#228;hlt, die Polizei ist ihr nachgegangen und hat sie nicht erh#228;rten k#246;nnen. Also herrscht f#252;r den T#228;ter eitel Sonnenschein. Ich kann mir nicht denken, dass ihm, egal wer er ist, daran liegt, dass Sie Ihre Nase in die Angelegenheit stecken – erst recht nicht, wenn Sie Erfolg haben.»

«Wonach genau soll ich suchen?»

«Zeichen am Bahndamm, Stofffetzen, abgebrochene Zweige – solche Sachen.»

Lucy nickte.

«Und dann?»

«Ich werde in der N#228;he sein», sagte Miss Marple. «Meine alte Bedienstete, die treue Florence, wohnt in Brackhampton. Sie hat ihre alten Eltern jahrelang gepflegt. Inzwischen sind beide verstorben, und sie vermietet Zimmer – ausschlie#223;lich an respektable Menschen. Bei ihr werde ich wohnen. Sie wird mich hingebungsvoll umsorgen, und ich glaube, ich sollte in n#228;chster N#228;he bleiben. Ich schlage vor, Sie erw#228;hnen beim Vorstellungsgespr#228;ch, Ihre alte Tante wohne in der Gegend, und Sie suchten eine Stelle in ihrer N#228;he. Ferner k#246;nnten Sie sich gewisse Zeiten zu Ihrer freien Verf#252;gung ausbedingen, um sie so oft wie m#246;glich besuchen zu k#246;nnen.»

Lucy nickte wieder.

«Eigentlich wollte ich #252;bermorgen nach Taormina», sagte sie, «aber der Urlaub kann warten. Ich kann Ihnen jedoch nur f#252;r drei Wochen zusagen. Danach stehe ich schon unter Vertrag.»

«Drei Wochen sollten vollauf gen#252;gen», sagte Miss Marple. «Wenn wir in drei Wochen nichts herausgefunden haben, k#246;nnen wir die ganze Sache als blanken Unsinn abtun.»

Miss Marple verabschiedete sich, und Lucy rief nach kurzem #220;berlegen eine Stellenvermittlung in Brackhampton an, deren Leiterin sie gut kannte. Sie erkl#228;rte ihren Wunsch, eine Stelle in der Gegend anzutreten, um ihrer «Tante» nahe sein zu k#246;nnen. Nachdem sie mehrere reizvollere Stellen abgelehnt hatte, was schwierig war und einiges Geschick erforderte, fiel der Name Rutherford Hall.

«Genau das suche ich», sagte Lucy in festem Ton.

Die Stellenvermittlung rief Miss Crackenthorpe an, und Miss Crackenthorpe rief Lucy zur#252;ck.

Zwei Tage darauf war Lucy auf dem Weg aus London nach Rutherford Hall.


II

Lucy Eyelesbarrow fuhr in ihrem Kleinwagen durch die Fl#252;gel eines imposanten Eisentors. Gleich dahinter stand ein ehemaliges Pf#246;rtnerh#228;uschen, das inzwischen v#246;llig verfallen war, aber es war schwer zu sagen, ob durch Kriegssch#228;den oder blo#223;e Vernachl#228;ssigung. Eine lange, gewundene Auffahrt f#252;hrte durch gro#223;e d#252;stere Rhododendrongruppen bis zum Haus. Lucy schnappte nach Luft, als sie das Haus sah, eine Kleinausgabe von Windsor Castle. Die Steintreppe vor dem Eingang konnte Pflege gebrauchen, und die Kieswege waren von Unkraut #252;berwuchert.

Lucy l#228;utete eine altmodische schmiedeeiserne Glocke, deren L#228;rm im Geb#228;ude verhallte. Eine nachl#228;ssig gekleidete Frau #246;ffnete, wischte sich die H#228;nde an der Sch#252;rze ab und sah Lucy misstrauisch an.

«Werden erwartet, was?», sagte sie. «Miss Irgendwas-barrow, hat sie gesagt.»

«Ganz recht», sagte Lucy.

Im Haus war es unglaublich kalt. Ihre F#252;hrerin brachte sie durch eine dunkle Halle und #246;ffnete eine T#252;r zur Rechten. Lucy war #252;berrascht, als sie sich in einem anheimelnden Salon mit B#252;cherregalen und Chintzsesseln wiederfand.

«Ich werde Sie melden», sagte die Frau, ging und schloss die T#252;r hinter sich, nachdem sie Lucy mit unverhohlenem Missfallen gemustert hatte.

Nach einigen Minuten ging die T#252;r wieder auf. Lucy fand Emma Crackenthorpe vom ersten Augenblick an sympathisch.

Diese war eine Frau mittleren Alters ohne auff#228;llige Merkmale, weder sch#246;n noch h#228;sslich, zweckm#228;#223;ig gekleidet in Tweedrock und Pullover, die schwarzen Haare aus der Stirn gek#228;mmt, mit ruhigen kastanienbraunen Augen und angenehmer Stimme.

«Miss Eyelesbarrow?», fragte sie und hielt ihr die Hand hin.

Dann verzog sie zweifelnd das Gesicht.

«Ich frage mich, ob diese Stelle wirklich das Richtige f#252;r Sie ist», sagte sie. «Wissen Sie, ich brauche keine Wirtschafterin, die den Haushalt beaufsichtigt. Ich brauche ein M#228;dchen f#252;r alles.»

Lucy sagte, das br#228;uchten die meisten Leute.

Emma Crackenthorpe sagte entschuldigend:

«Viele Menschen glauben, mit ein wenig Staubwischen sei alles getan – aber das bisschen Staubwischen kann ich selber erledigen.»

«Ich verstehe», sagte Lucy. «Sie brauchen jemanden, der kocht, abw#228;scht, putzt und einheizt. Das geht in Ordnung. Das mache ich alles. Ich bin nicht arbeitsscheu.»

«Das Haus ist sehr gro#223;, f#252;rchte ich, und unpraktisch. Wir bewohnen nat#252;rlich nur einen Teil davon – mein Vater und ich. Er ist nahezu invalide. Wir f#252;hren ein ruhiges Leben, und es gibt einen Aga-Herd. Ich habe mehrere Br#252;der, aber sie kommen nur selten her. Wir haben zwei Zugehfrauen, eine Mrs. Kidder am Vormittag und Mrs. Hart, die an drei Tagen die Woche kommt, das Silber putzt und anderen Kleinkram erledigt. Sie haben ein eigenes Auto?»

«Ja. Es kann im Freien stehen, falls Sie keine Unterstellm#246;glichkeiten haben. Das ist es gewohnt.»

«Oh, alte St#228;lle gibt es in H#252;lle und F#252;lle. Das d#252;rfte kein Problem sein.» Sie runzelte die Stirn und sagte dann: «Eyelesbarrow – ein ziemlich seltener Name. Freunde haben mir mal von einer Lucy Eyelesbarrow erz#228;hlt – die Kennedys?»

«Das stimmt. Ich habe in North Devon bei ihnen gearbeitet, als Mrs. Kennedy das Kind erwartete.»

Emma Crackenthorpe l#228;chelte.

«Ich wei#223; noch, sie haben gesagt, sie h#228;tten es noch nie so gut gehabt wie in der Zeit, als Sie sich um alles gek#252;mmert haben. Aber ich dachte, Sie seien schrecklich teuer. Das Gehalt, das ich Ihnen nannte –»

«Das gen#252;gt mir», sagte Lucy. «Schauen Sie, mir liegt besonders daran, in der N#228;he von Brackhampton zu arbeiten. Ich habe eine alte Tante mit angegriffener Gesundheit und m#246;chte in ihrer N#228;he sein. Deswegen ist das Gehalt f#252;r mich zweitrangig. Das Nichtstun kann ich mir andererseits nicht leisten. W#228;re es m#246;glich, an den meisten Tagen eine gewisse Zeit freizuhaben?»

«Aber nat#252;rlich. Jeden Nachmittag bis sechs, wenn Sie m#246;chten.»

«Das w#228;re herrlich.»

Miss Crackenthorpe z#246;gerte kurz, dann sagte sie: «Mein Vater ist alt und manchmal etwas – schwierig. Er legt gro#223;en Wert auf Sparsamkeit, und manchmal rutschen ihm Bemerkungen heraus, die verletzend klingen. Es w#228;re mir –»

Lucy fiel ihr ins Wort:

«Ich bin die verschiedensten alten Menschen gewohnt», sagte sie. «Bisher bin ich immer mit ihnen klargekommen.»

Emma Crackenthorpe wirkte erleichtert.

«Probleme mit dem Vater!», befand Lucy. «Bestimmt ein alter W#252;terich.»

Sie bekam ein gro#223;es dunkles Zimmer zugewiesen, das ein kleiner Radiator nur unzureichend w#228;rmte, und wurde im Haus herumgef#252;hrt, einem ungem#252;tlichen Herrenhaus. Als sie an einer T#252;r in der Halle vorbeikamen, br#252;llte eine Stimme:

«Bist du das, Emma? Hast du das neue M#228;dchen dabei? Bring sie her. Ich will sie mir ansehen.»

Emma wurde rot und warf Lucy einen entschuldigenden Blick zu.

Die beiden Frauen traten in das Zimmer. Es hatte dicke dunkle Samttapisserien, schmale Fenster, die wenig Licht hereinlie#223;en, und stand voller massiver Mahagonim#246;bel aus viktorianischer Zeit.

Der alte Mr. Crackenthorpe lag ausgestreckt in einem Rollstuhl, an dem ein Gehstock mit Silberknauf lehnte.

Er war ein gro#223;er hagerer Mann mit H#228;ngebacken, einem Kopf wie eine Bulldogge und einem kampflustig vorgereckten Kinn. Unter den dichten schwarzen, teilweise ergrauten Haaren funkelten misstrauische #196;uglein.

«Dann lassen Sie sich mal ansehen, junge Dame.»

Lucy ging gelassen l#228;chelnd zu ihm.

«Eine Sache schreiben Sie sich besser sofort hinter die Ohren. Blo#223; weil wir in einem gro#223;en Haus leben, hei#223;t das noch lange nicht, dass wir reich sind. Wir sind nicht reich. Wir leben einfach – haben Sie verstanden? –, einfach und bescheiden! Hochtrabende Vorstellungen sind hier fehl am Platz. Kabeljau ist genauso gut wie Steinbutt, lassen Sie sich das gesagt sein. Verschwendung lasse ich mir nicht bieten. Ich wohne hier, weil mein Vater dieses Haus gebaut hat und weil es mir gef#228;llt. Nach meinem Tod k#246;nnen sie es verkaufen, wenn sie wollen – und sie werden wollen. Kein Familiensinn. Dieses Haus wurde f#252;r die Ewigkeit gebaut – es ist solide, und wir haben unseren eigenen Grund und Boden. Dadurch haben wir Ruhe. Wenn man es als Bauland verkauft, w#252;rde es eine Menge einbringen, aber nicht, solange ich lebe. Mich wird man hier nur mit den F#252;#223;en voran raustragen.»

Er funkelte Lucy an.

«Eigener Herd ist Goldes wert», sagte Lucy.

«Wollen Sie mich zum Besten halten?»

«Ganz und gar nicht. Es muss sehr sch#246;n sein, wenn man einen echten Landsitz mitten in der Stadt hat.»

«Ganz meine Meinung. Von hier sieht man weit und breit kein Haus, stimmt’s? Felder mit K#252;hen – mitten in Brackhampton. Bei bestimmten Windrichtungen h#246;rt man den Verkehr – aber davon abgesehen leben wir noch mitten auf dem Lande.»

Zu seiner Tochter gewandt, f#252;gte er ohne Pause oder Tonver#228;nderung hinzu:

«Ruf diesen Narren von Arzt an. Sag ihm, seine letzte Arznei taugt nichts.»

Lucy und Emma gingen. Er rief ihnen nach:

«Und lass das Weibsst#252;ck, das immer so schnieft, hier nicht mehr Staub wischen. Die hat mir die ganzen B#252;cher verstellt.»

Lucy fragte:

«Ist Mr. Crackenthorpe schon lange invalide?»

Emma sagte ausweichend:

«Oh, schon seit Jahren… Das hier ist die K#252;che.»

Die K#252;che war riesig. In der Mitte stand kalt und verlassen ein monumentaler Herd, daneben ein n#252;chterner Aga.

Lucy fragte nach den Essenszeiten und inspizierte die Speisekammer. Dann sagte sie munter zu Emma Crackenthorpe:

«Ich wei#223; vorl#228;ufig alles, was ich wissen muss. Keine Sorge. #220;berlassen Sie alles mir.»

Emma Crackenthorpe seufzte erleichtert, als sie sich an diesem Abend zur#252;ckzog.

Die Kennedys hatten v#246;llig Recht, sagte sie sich. Sie ist gro#223;artig.

Am n#228;chsten Morgen stand Lucy um sechs Uhr auf. Sie brachte das Haus in Ordnung, putzte Gem#252;se, deckte den Tisch und bereitete und servierte das Fr#252;hst#252;ck. Zusammen mit Mrs. Kidder machte sie die Betten, und um elf Uhr setzten sich die beiden zu einer Kanne starken Tees und Geb#228;ck in die K#252;che. Mrs. Kidder hatte es bes#228;nftigt, dass Lucy nicht auf dem hohen Ross sa#223;, zudem liebte sie starken und s#252;#223;en Tee und erging sich daher in Klatsch und Tratsch. Sie war eine spindeld#252;rre Frau mit stechenden Augen und schmalen Lippen.

«Er ist ein richtiger alter Pfennigfuchser. Was die sich alles bieten lassen muss! Trotzdem glaube ich nicht, dass sie unter der Knute steht. Die l#228;sst sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Und wenn die Gentlemen herkommen, sorgt sie daf#252;r, dass es was Anst#228;ndiges zu bei#223;en gibt.»

«Die Gentlemen?»

«Ja. Das war mal eine ganz gro#223;e Familie. Der #196;lteste, Mr. Edmund, ist im Krieg gefallen. Dann ist da Mr. Cedric, der lebt irgendwo im Ausland. Ist ledig geblieben. Treibt sich in der Weltgeschichte rum und malt Bilder. Mr. Harold arbeitet in der City und wohnt in London – hat eine Grafentochter geheiratet. Dann gibt’s Mr. Alfred, der ist ganz umg#228;nglich, hat aber was vom schwarzen Schaf und ist schon ein paar Mal in die Zwickm#252;hle geraten – schlie#223;lich ist da noch der Mann von Miss Edith, Mr. Bryan, der ist unheimlich nett und – sie ist vor ein paar Jahren verstorben, aber er geh#246;rt immer noch zur Familie. Ach ja, und Master Alexander, das ist der kleine Junge von Miss Edith. Der geht zur Schule, ist aber in den Ferien meistens hier. Miss Emma verg#246;ttert ihn richtig.»

Lucy verdaute all diese Neuigkeiten und dr#228;ngte ihrer Informantin immer wieder Tee auf. Schlie#223;lich stand Mrs. Kidder widerstrebend auf.

«Jetzt haben wir uns ja richtig verquatscht», sagte sie verwundert. «Soll ich Ihnen bei den Kartoffeln helfen, Liebes?»

«Die sind schon fertig.»

«Na, Sie kriegen ja ganz sch#246;n was geschafft! Dann mach ich mich wohl besser auf die Socken, wenn es hier eh nichts mehr zu tun gibt.»

Mrs. Kidder ging, und da Lucy noch Zeit hatte, scheuerte sie den K#252;chentisch. Das hatte sie die ganze Zeit vorgehabt, aber aufgeschoben, um Mrs. Kidder nicht zu kr#228;nken, zu deren Aufgaben es eigentlich geh#246;rte. Dann polierte sie das Tafelsilber, bis es blitzte und funkelte. Sie kochte Mittagessen, r#228;umte ab, sp#252;lte das Geschirr, und um halb drei konnte sie auf Entdeckungsreise gehen. Das Teegeschirr hatte sie auf einem Tablett bereitgestellt und Sandwiches, Brot und Butter mit einer feuchten Serviette abgedeckt, um alles frisch zu halten.

Sie schlenderte durch die G#228;rten, was ja nur normal war. Im K#252;chengarten gab es ein paar Gem#252;sebeete. Von den Gew#228;chsh#228;usern waren nur Ruinen #252;brig. Alle Wege waren von Unkraut #252;berwuchert. Nur eine Staudenrabatte am Haus war gej#228;tet und gepflegt, und Lucy nahm an, dass dies Emmas Werk war. Der G#228;rtner war ein schwerh#246;riger alter Mann, der nur so tat, als arbeite er. Lucy unterhielt sich freundlich mit ihm. Er wohnte in einem Cottage unmittelbar neben den Stallungen.

Hinter den Stallungen f#252;hrte die eingez#228;unte Lieferantenzufahrt durch den Park und unter der Eisenbahn hindurch auf einen Feldweg.

Alle paar Minuten donnerte oben auf dem Bahndamm ein Zug #252;ber die Hauptstrecke. Lucy beobachtete, wie die Z#252;ge verlangsamten, wenn sie sich in die scharfe Kurve legten, die das Anwesen der Crackenthorpes einfasste. Sie schritt durch die Unterf#252;hrung und ging den Feldweg entlang. Er wurde anscheinend selten benutzt. Auf der einen Seite lag der Bahndamm, auf der anderen stand eine hohe Mauer, die emporragende Fabrikbauten einschloss. Lucy folgte dem Feldweg, bis er auf eine Stra#223;e mit kleinen H#228;usern m#252;ndete. Ein St#252;ck weiter h#246;rte sie den Verkehrsl#228;rm einer Durchgangsstra#223;e. Sie sah auf die Uhr. Eine Frau kam aus einem Haus, und Lucy richtete das Wort an sie.

«Entschuldigen Sie bitte, aber k#246;nnen Sie mir sagen, ob es hier in der N#228;he einen #246;ffentlichen Fernsprecher gibt?»

«Das Postamt ist gleich da unten an der Stra#223;enecke.»

Lucy bedankte sich und ging zum Postamt, das gleichzeitig ein Kaufladen war. An der Seite stand eine Telefonzelle. Lucy trat hinein, w#228;hlte und bat darum, Miss Marple zu sprechen. Eine Frauenstimme antwortete barsch:

«Sie hat sich hingelegt, und ich werde sie unter keinen Umst#228;nden st#246;ren!! Sie braucht ihre Ruhe – sie ist eine alte Dame! Von wem soll ich etwas ausrichten?»

«Miss Eyelesbarrow. Sie brauchen Sie nicht zu st#246;ren. Sagen Sie ihr bitte nur, ich sei angekommen, alles entwickle sich bestens, und ich werde mich melden, soweit ich etwas Neues wei#223;.»

Sie h#228;ngte ein und machte sich auf den R#252;ckweg nach Rutherford Hall.