"Harry Potter und die Heiligtümer des Todes" - читать интересную книгу автора (Роулинг Джоан)

Die Widmung dieses Buches ist siebengeteilt: für Neil, für Jessica, für David, für Kenzie, für Di, für Anne und für euch, wenn ihr zu Harry gehalten habt, bis ganz zum Schluss.

Erbteil des fluches,

hässlicher sünde

blutige wunde,

schmerzen, wer trüge sie?

quälen, wer stillte sie?

wehe weh!

Einzig der erbe

heilet des hauses

eiternde wunde,

einzig mit blut'gem schnitt.

götter der finsternis

rief mein lied.

Sel'ge geister drunten in der tiefe,

wenn ihr die beschwörungsrufe hörtet,

bringt den kindern hilfe, bringt den sieg.

Aischylos, Das Opfer am Grabe


Sterben ist nur ein Uebergang aus dieser Welt in die andere, als wenn Freunde über See gehen, welche dennoch in einander fortleben. Denn Diejenigen, die im Allgegenwärtigen lieben und leben, müssen nothwendig einander gegenwärtig seyn. In diesem göttlichen Spiegel sehen sie sich von Angesicht zu Angesicht, und ihr Umgang ist so wohl frey als rein. Und wenn sie auch durch den Tod getrennt werden, so haben sie doch den Trost, daß ihre Freundschaft und Gesellschaft ihnen, dem besten Gefühle nach, beständig gegenwärtig bleibt, weil diese unsterblich ist.

William Penn, Früchte der Einsamkeit. Zweyte Abtheilung


Der Elderstab

Die Welt war zu Ende gegangen, warum hatte die Schlacht dann nicht aufgehört, war das Schloss nicht in stummes Grauen versunken und hatten nicht alle Kämpfer ihre Waffen niedergelegt? Harrys Gedanken waren im freien Fall, trudelten haltlos, unfähig, das Unmögliche zu begreifen, weil Fred Weasley nicht tot sein konnte, weil das, was ihm all seine Sinne sagten, eine Lüge sein musste -

Und dann fiel ein Körper an dem Loch vorbei, das seitlich in die Schule gesprengt worden war, und Flüche jagten aus der Dunkelheit zu ihnen herein und trafen die Wand hinter ihren Köpfen.

»In Deckung!«, rief Harry, als weitere Flüche durch die Nacht schossen: Er und Ron hatten Hermine gepackt und sie zu Boden gerissen, aber Percy lag über Freds Leiche, um sie vor weiterem Schaden zu schützen, und als Harry schrie: »Percy, komm, wir müssen weg!«, schüttelte der den Kopf.

»Percy!« Harry sah Tränenspuren auf Rons rußbedecktem Gesicht, als er seinen älteren Bruder an den Schultern fasste und hochziehen wollte, aber Percy rührte sich nicht. »Du kannst nichts mehr für ihn tun, Percy!

Wir werden -«

Hermine kreischte, und als Harry herumschnellte, brauchte er nicht nach dem Grund zu fragen. Eine monströse Spinne von der Größe eines kleinen Autos versuchte durch das riesige Loch in der Mauer zu klettern: Eine von Aragogs Nachkommen war auch in den Kampf gezogen.

Ron und Harry schrien gleichzeitig; ihre Zauber prallten zusammen, und das Monster wurde zurückgeschleudert und verschwand mit scheußlich zuckenden Beinen in der Dunkelheit.

»Sie hat Freunde mitgebracht!«, rief Harry den anderen zu, als er durch das von den Flüchen gesprengte Loch über den Rand der Schlossmauer blickte: Noch mehr Riesenspinnen kletterten seitlich am Gebäude empor, aus dem Verbotenen Wald freigelassen, in den die Todesser eingedrungen sein mussten. Harry schoss Schockzauber auf sie hinab, die das Monster an der Spitze in seine Artgenossen stieß, so dass sie die Mauer wieder hinunterkullerten und nicht mehr zu sehen waren. Dann sausten weitere Flüche über Harrys Kopf hinweg, so dicht, dass er spürte, wie ihre Wucht ihm durch die Haare wehte.

»Gehen wir, JETZT!«

Gemeinsam mit Ron schob er Hermine vor sich her und bückte sich, um Freds Leiche unter den Achseln zu fassen. Percy, der begriff, was Harry vorhatte, klammerte sich nicht mehr an dem Toten fest und half ihm; tief geduckt, um den Flüchen zu entgehen, die vom Gelände auf sie abgefeuert wurden, zerrten sie Fred mit vereinten Kräften aus dem Weg.

»Hier«, sagte Harry, und sie legten ihn in eine Nische, wo vorher eine Rüstung gestanden hatte. Er konnte es nicht ertragen, Fred auch nur eine Sekunde länger als nötig anzusehen, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Leichnam gut versteckt war, folgte er Ron und Hermine.

Malfoy und Goyle waren verschwunden, doch am Ende des Korridors, der jetzt voll Staub und herabfallendem Mauerwerk war und dessen Fenster schon lange keine Scheiben mehr hatten, sah er viele Leute hin und her rennen, ob Freund oder Feind, konnte er nicht erkennen. Als er um die Ecke bog, brüllte Percy wie ein Stier: »ROOKWOOD!«, und spurtete los, einem großen Mann hinterher, der einige Schüler verfolgte.

»Hier rein, Harry!«, schrie Hermine.

Sie hatte Ron hinter einen Wandteppich gezogen. Offenbar rangen sie miteinander, und eine verrückte Sekunde lang glaubte Harry, sie würden sich wieder umarmen; dann sah er, dass Hermine versuchte, Ron zurückzuhalten, ihn daran zu hindern, Percy nachzurennen.

»Hör mir zu – HÖR ZU, RON!«

»Ich will helfen – ich will Todesser umbringen -«

Sein Gesicht war verzerrt, verschmiert von Staub und Ruß, und er bebte vor Zorn und Leid.

»Ron, wir sind die Einzigen, die es beenden können! Bitte – Ron – wir brauchen die Schlange, wir müssen die Schlange töten!«, sagte Hermine.

Aber Harry wusste, was in Ron vorging: Noch einen Horkrux zu verfolgen war für ihn nicht so befriedigend, wie Rache zu üben; auch Harry wollte kämpfen, wollte sie bestrafen, diejenigen, die Fred getötet hatten, und er wollte die anderen Weasleys finden und vor allem sichergehen, ganz sichergehen, dass Ginny nicht – aber er konnte es nicht zulassen, dass dieser Gedanke in seinem Kopf Gestalt annahm -

»Wir werden kämpfen!«, sagte Hermine. »Wir müssen es, um an die Schlange heranzukommen! Aber wir dürfen jetzt nicht aus dem Auge verlieren, was wir eigentlich t-tun sollen! Wir sind die Einzigen, die es beenden können!«

Auch sie weinte, und während sie sprach, wischte sie sich das Gesicht an ihrem zerfetzten und versengten Ärmel ab, doch sie holte lange und tief Luft, um sich zu beruhigen, als sie sich, immer noch Ron festhaltend, Harry zuwandte.

»Du musst herausfinden, wo Voldemort ist, denn er hat die Schlange sicher bei sich, oder? Tu es, Harry – schau in ihn rein!«

Warum war es so einfach? Weil seine Narbe seit Stunden brannte, begierig, ihm Voldemorts Gedanken zu zeigen? Auf Hermines Befehl schloss er die Augen, und sofort gingen die Schreie und die Schläge und all die Misstöne der Schlacht unter, bis sie ganz entfernt klangen, als befände er sich weit, weit weg von allem ...

Er stand inmitten eines trostlosen, aber seltsam vertrauten Raumes, dessen Tapeten sich von den Wänden ablösten und dessen Fenster bis auf eines mit Brettern vernagelt waren. Der Lärm des Angriffs auf das Schloss war gedämpft und weit entfernt. Durch das eine freie Fenster sah man in der Ferne aufflammendes Licht um das Schloss herum, doch in dem Raum selbst war es dunkel, nur eine einsame Öllampe brannte.

Er rollte seinen Zauberstab zwischen den Fingern, betrachtete ihn, während er in Gedanken in jenem Raum im Schloss war, jenem geheimen Raum, den nur er je gefunden hatte, dem Raum, den man wie die Kammer nur entdecken konnte, wenn man klug und listig und neugierig genug dafür war ... Er war überzeugt, dass der Junge das Diadem nicht finden würde ...

obwohl Dumbledores Marionette viel weiter gekommen war, als er jemals erwartet hätte ... zu weit ...

»Herr«, sagte eine Stimme, verzweifelt und gebrochen. Er wandte sich um: Da saß Lucius Malfoy, in der dunkelsten Ecke, zerlumpt und immer noch von der Strafe gezeichnet, die er nach der letzten Flucht des Jungen erhalten hatte. Eines seiner Augen war noch zugeschwollen. »Herr ... bitte

... mein Sohn ...«

»Wenn dein Sohn tot ist, Lucius, ist es nicht meine Schuld. Er ist nicht wie die anderen Slytherins gekommen, um sich mir anzuschließen.

Vielleicht hat er beschlossen, sich mit Harry Potter anzufreunden?«

»Nein – niemals«, flüsterte Malfoy.

»Das will ich für dich hoffen.«

»Habt Ihr – habt Ihr keine Angst, Herr, dass Potter von der Hand eines anderen und nicht von Eurer sterben könnte?«, fragte Malfoy mit zittriger Stimme. »Wäre es nicht... verzeiht mir ... klüger, diese Schlacht abzubrechen, in das Schloss zu gehen und ihn s-selbst zu suchen?«

»Tu nicht so, Lucius. Du willst, dass die Schlacht aufhört, damit du herausfinden kannst, was mit deinem Sohn passiert ist. Und ich muss Potter nicht suchen. Noch vor Ende der Nacht wird Potter kommen, um mich aufzusuchen. «

Voldemort senkte den Blick erneut auf den Zauberstab in seinen Fingern. Er beunruhigte ihn ... und Dinge, die Lord Voldemort beunruhigten, mussten geändert werden ...

»Geh und hol Snape.«

»S-Snape, Herr?«

»Snape. Sofort. Ich brauche ihn. Er soll mir einen – Dienst -erweisen.

Geh.«

Verängstigt und im trüben Licht ein wenig stolpernd, verließ Lucius den Raum. Voldemort blieb weiter stehen, rollte den Zauberstab zwischen den Fingern und starrte darauf.

»Es ist die einzige Möglichkeit, Nagini«, flüsterte er, und als er sich umdrehte, war da die große, dicke Schlange, die nun mitten in der Luft schwebte und sich graziös in dem verzauberten, geschützten Raum ringelte, den er für sie geschaffen hatte, einer strahlenden, durchsichtigen Sphäre irgendwo zwischen glitzerndem Käfig und Wasserbecken.

Mit einem Keuchen zog sich Harry zurück und schlug die Augen auf; im selben Moment drang das Kreischen und Schreien, das Krachen und Knallen der Schlacht wieder mit aller Gewalt an seine Ohren.

»Er ist in der Heulenden Hütte. Die Schlange ist bei ihm, sie hat eine Art magischen Schutz um sich. Er hat gerade Lucius Malfoy losgeschickt, um Snape zu suchen.«

»Voldemort sitzt in der Heulenden Hütte?«, sagte Hermine empört. »Er

– er kämpft nicht mal?«

»Er glaubt nicht, dass er es nötig hat, zu kämpfen«, sagte Harry. »Er glaubt, dass ich zu ihm gehen werde.«

»Aber warum?«

»Er weiß, dass ich hinter den Horkruxen her bin – er behält Nagini dicht bei sich – offensichtlich muss ich zu ihm hin, um an das Ding heranzukommen -«

»Klar«, sagte Ron und straffte die Schultern. »Deshalb kannst du nicht gehen, das will er ja, das erwartet er. Du bleibst hier und passt auf Hermine auf, und ich geh und hol sie – «

Harry fiel Ron ins Wort.

»Ihr beide bleibt hier, ich geh unter dem Tarnumhang, und ich komm wieder zurück, sobald ich -«

»Nein«, sagte Hermine, »es ist viel vernünftiger, wenn ich den Tarnumhang nehme und -«

»Kommt überhaupt nicht in Frage«, knurrte Ron sie an.

Ehe Hermine mehr sagen konnte als: »Ron, ich bin genauso imstande -

«, wurde der "Wandteppich am oberen Ende der Treppe, auf der sie standen, beiseitegerissen.

»POTTER!«

Zwei maskierte Todesser standen dort, doch bevor sie ihre Zauberstäbe ganz erhoben hatten, rief Hermine: »Glisseo!«

Die Stufen unter ihren Füßen wurden eben und bildeten eine Rutschbahn, auf der sich die drei hinabstürzten, ohne dass sie ihre Geschwindigkeit beeinflussen konnten, jedoch so schnell, dass die Schockzauber der Todesser hoch über ihre Köpfe hinwegflogen. Am Fuß der Treppe schossen sie durch den "Wandteppich, der sie verbarg, purzelten auf den Boden und krachten an die Wand gegenüber.

»Duro!«, rief Hermine, indem sie mit ihrem Zauberstab auf den Wandteppich deutete, und dann gab es zwei laute, Übelkeit erregende Knirschgeräusche, da der Teppich versteinerte und die Todesser, die sie verfolgten, dagegenschmetterten.

»Zurück!«, rief Ron, und er, Harry und Hermine drückten sich flach gegen eine Tür, als eine Herde galoppierender Pulte vorbeidonnerte, angeführt von einer rennenden Professor McGonagall. Sie schien sie nicht zu bemerken: Ihre Frisur hatte sich aufgelöst und auf ihrer Wange war eine klaffende Wunde. Als sie um die Ecke bog, hörten sie sie schreien:

»ATTACKE!«

»Harry, du ziehst den Tarnumhang an«, sagte Hermine. »Kümmer dich nicht um uns -«

Doch er warf ihn über sie alle drei; so groß sie auch waren, er bezweifelte, dass irgendjemand ihre Füße ohne Körper durch den Staub sehen würde, der die Luft erfüllte, durch die herabfallenden Steine, das schimmernde Licht von Zaubern.

Sie eilten die nächste Treppe hinunter und gelangten in einen Korridor voller Duellanten. In den Porträts zu beiden Seiten der Kämpfenden drängelten sich Gestalten, die lauthals Ratschläge erteilten und aufmunternde Worte schrien, während maskierte wie unmaskierte Todesser sich mit Schülern und Lehrern Zweikämpfe lieferten. Dean hatte sich wohl einen Zauberstab erobert, denn er stand Dolohow von Angesicht zu Angesicht gegenüber, während Parvati gegen Travers kämpfte. Harry, Ron und Hermine hoben sofort die Zauberstäbe, bereit zuzuschlagen, doch die Duellanten wirbelten und sprangen so sehr umher, dass es durchaus wahrscheinlich war, dass sie einen der Ihren verletzten, wenn sie Flüche losließen. Noch während sie kampfbereit dastanden und nach einer Gelegenheit zum Eingreifen suchten, war ein lautes »ouiiiiiiie!« zu hören, und als Harry aufblickte, sah er Peeves über sie hinwegsausen und Snargaluff-Kokons auf die Todesser hinabwerfen, deren Köpfe plötzlich übersät waren von sich ringelnden grünen, fetten, wurmartigen Knollen.

»Aaarh!«

Eine Faust voll Knollenwürmer hatte den Tarnumhang über Rons Kopf getroffen; die schleimigen grünen Wurzeln blieben auffällig mitten in der Luft in der Schwebe, während Ron versuchte, sie abzuschütteln.

»Da ist jemand unsichtbar!«, rief ein maskierter Todesser und deutete in ihre Richtung.

Dean nutzte es, dass der Todesser vorübergehend abgelenkt war, und streckte ihn mit einem Schockzauber nieder; Dolohow setzte zum Vergeltungsschlag an, und Parvati schoss einen Körperklammer-Fluch auf ihn ab.

»WEG HIER!«, schrie Harry, und er, Ron und Hermine rafften den Tarnumhang eng an sich und spurteten mit gesenkten Köpfen los, mitten durch die Kämpfer und ein wenig in den Pfützen aus Snargaluff-Saft schlitternd, auf die Marmortreppe zu, die hinunter in die Eingangshalle führte.

»Ich bin Draco Malfoy, ich bin Draco, ich bin auf eurer Seite!«

Draco stand oben auf dem Treppenabsatz und flehte einen anderen maskierten Todesser an. Harry schockte den Todesser, als sie vorbeihuschten: Malfoy blickte sich strahlend nach seinem Retter um und Ron verpasste ihm unter dem Tarnumhang hervor einen Faustschlag.

Malfoy fiel vollkommen verdutzt mit blutendem Mund rücklings auf den Todesser.

»Und das ist das zweite Mal, dass wir dir heute Nacht das Leben gerettet haben, du falsches Schwein!«, schrie Ron.

Auf der ganzen Treppe und in der Halle wurden weitere Zweikämpfe ausgefochten; wo Harry auch hinsah, überall waren Todesser: Yaxley kämpfte nahe dem Schlossportal gegen Flitwick, gleich daneben duellierte sich ein maskierter Todesser mit Kingsley. Schülerinnen und Schüler rannten kreuz und quer, manche schleppten verletzte Freunde oder zerrten sie hinter sich her. Harry feuerte einen Schockzauber auf den maskierten Todesser ab, der ihn verfehlte, aber dafür fast Neville traf, der aus dem Nichts aufgetaucht war und mit Armen voller Giftiger Tentakulas herumfuchtelte, die sich munter um den nächsten Todesser schlangen und ihn einzuwickeln begannen.

Harry, Ron und Hermine eilten die Marmortreppe hinunter: Zu ihrer Linken splitterte Glas, und das Slytherin-Stundenglas, das die Hauspunkte angezeigt hatte, schleuderte seine Smaragde überall umher, so dass die Vorbeirennenden ausrutschten und strauchelten. Als sie unten angelangt waren, stürzten von der Galerie über ihnen zwei Körper herunter, und ein grauer Fleck, den Harry für ein Tier hielt jagte vierbeinig durch die Halle und grub seine Zähne in einen der Körper.

»NEIN!«, kreischte Hermine und mit einem ohrenbetäubenden Krach aus ihrem Zauberstab riss es Fenrir Greyback rücklings weg von dem sich schwach regenden Körper Lavender Browns. Greyback schlug gegen die marmornen Geländerpfosten und kämpfte sich mühsam hoch. Dann fiel ihm mit einem leuchtenden weißen Blitz und einem Knall eine Kristallkugel auf den Kopf, und er brach auf dem Boden zusammen und rührte sich nicht mehr.

»Ich hab noch mehr davon!«, kreischte Professor Trelawney, über das Geländer gebeugt, »es sind genug für alle da! Hier -«

Und mit einer Bewegung wie bei einem Tennisaufschlag zog sie eine weitere riesige Kristallkugel aus ihrer Tasche, schwang ihren Zauberstab durch die Luft und ließ den Ball quer durch die Halle sausen und durch ein Fenster krachen. Im selben Moment sprang das schwere hölzerne Schlossportal auf und weitere Riesenspinnen zwängten sich in die Eingangshalle.

Angstschreie gellten durch die Luft. Die Kämpfer zerstreuten sich, Todesser wie Hogwartsianer, und rote und grüne Lichtstrahlen flogen mitten zwischen die angreifenden Monster, die schauderten und sich aufbäumten, schrecklicher denn je.

»Wie kommen wir hier raus?«, rief Ron durch das ganze Geschrei, doch ehe Harry oder Hermine antworten konnten, wurden sie zur Seite gestoßen: Hagrid war die Treppe heruntergedonnert und schwang seinen geblümten rosa Schirm.

»Tut ihnen nich weh, tut ihnen nich weh!«, schrie er.

»HAGRID, NEIN!«

Harry vergaß alles andere: Er schoss unter dem Tarnumhang hervor und duckte sich im Laufen, um den Flüchen zu entgehen, die die ganze Halle erleuchteten.

»HAGRID, KOMM ZURÜCK!«

Doch er hatte noch nicht einmal den halben Weg zu Hagrid hinter sich, als er es geschehen sah: Hagrid verschwand zwischen den Spinnen, und unter mächtigem Getrippel, mit einer widerlichen wimmelnden Bewegung, zogen sie sich vor dem heftigen Anprall der Zauber zurück, Hagrid in ihrer Mitte begraben.

»HAGRID!«

Harry hörte hinter sich jemanden seinen Namen rufen, doch ob Freund oder Feind, es war ihm gleich: Er rannte die Vordertreppe hinunter auf das dunkle Gelände, während die Spinnen mit ihrer Beute davonschwärmten, und er konnte überhaupt nichts mehr von Hagrid sehen.

»HAGRID!«

Er glaubte einen riesigen Arm aus der Mitte des Spinnenschwarms herauswinken zu sehen, doch als er ihnen nachjagen wollte, versperrte ihm ein gewaltiger Fuß den Weg, der aus der Dunkelheit herabschwang und den Boden, auf dem Harry stand, erzittern ließ. Er blickte auf: Ein Riese stand vor ihm, gut sechs Meter hoch, den Kopf in der Düsternis verborgen, nur seine baumartigen, haarigen Schienbeine wurden vom Licht aus dem Schlossportal erhellt. Mit einer einzigen, vor Kraft strotzenden flüssigen Bewegung stieß er eine massige Faust durch ein Fenster in einem oberen Stockwerk, und herabprasselndes Glas zwang Harry, sich in den schützenden Eingang zurückzuziehen.

»O um Himmels -«, kreischte Hermine, als sie und Ron zu Harry gelangten und hinauf zu dem Riesen starrten, der jetzt versuchte, durch das Fenster oben nach Leuten zu greifen.

»NICHT!«, schrie Ron und packte Hermines Hand, als sie ihren Zauberstab hob. »Wenn du ihn schockst, drückt er das halbe Schloss ein -«

»HAGGER?«

Grawp taumelte um die Ecke des Schlosses; erst jetzt wurde Harry bewusst, dass Grawp tatsächlich ein kleinwüchsiger Riese war. Das gewaltige Ungeheuer, das gerade versuchte, Leute in den oberen Stockwerken zu zerquetschen, sah sich um und stieß ein Brüllen aus. Die Steinstufen erbebten, als es auf seinen kleineren Artgenossen zustampfte, Grawps schiefer Mund klappte auf und offenbarte gelbe Zähne, so groß wie halbe Backsteine, und dann stürzten sie sich wild wie Löwen aufeinander.

»LAUFT!«, brüllte Harry; die Nacht war erfüllt von grässlichen Schreien und Schlägen, während die Riesen miteinander rangen, und er packte Hermines Hand und stürmte die Treppe zum Gelände hinunter, Ron hinter ihnen. Noch hatte Harry die Hoffnung nicht verloren, dass er Hagrid finden und retten konnte; er rannte so schnell, dass sie den halben Weg zum Wald zurückgelegt hatten, ehe sie schließlich innehielten.

Die Luft um sie herum war erstarrt: Harry blieb der Atem in der Brust stecken und wurde dort hart. Schemen bewegten sich draußen in der Dunkelheit, tiefschwarze wirbelnde Gestalten schoben sich wie eine mächtige Woge auf das Schloss zu, mit rasselndem Atem und von Kapuzen verborgenen Gesichtern ...

Ron und Hermine traten an seine Seite, als der Kampflärm hinter ihnen plötzlich gedämpft wurde, abgeschwächt, weil eine Stille, die nur Dementoren hervorbringen konnten, schwer durch die Nacht herabsank ...

»Komm, Harry!«, sagte Hermines Stimme aus weiter Ferne, »Patroni, Harry, nun mach schon!«

Er hob seinen Zauberstab, doch eine dumpfe Hoffnungslosigkeit ergriff von ihm Besitz: Fred war nicht mehr, und Hagrid starb sicher gerade oder war bereits tot; wie viele andere waren umgekommen, von denen er noch nicht wusste; ihm war, als ob seine Seele schon halb seinen Körper verlassen hätte ...

»HARRY, NUN KOMM!«, schrie Hermine.

Hundert Dementoren rückten vor, glitten auf sie zu, saugten sich näher heran an Harrys Verzweiflung, die wie die Verheißung eines Festmahls war

...

Er sah Rons silbernen Terrier hervorbrechen, schwach flackern und erlöschen; er sah Hermines Otter sich in der Luft krümmen und dann verblassen, und sein eigener Zauberstab zitterte ihm in der Hand, und fast war ihm die bevorstehende Auslöschung willkommen, die Aussicht auf das Nichts, die Fühllosigkeit ...

Und dann rauschten ein silberner Hase, ein Eber und ein Fuchs an Harrys, Rons und Hermines Köpfen vorbei: Die Dementoren wichen vor den näher kommenden Geschöpfen zurück. Drei Menschen waren in der Dunkelheit zu ihnen gestoßen, um ihnen zur Seite zu stehen: Luna, Ernie und Seamus, die mit gezückten Zauberstäben immer weiter ihre Patroni aufrechterhielten.

»Jawohl!«, sagte Luna aufmunternd, als ob sie sich wieder im Raum der Wünsche befänden und das alles nur eine Zauberübung für die DA wäre.

»Ja, Harry ... komm schon, denk an etwas Glückliches ...«

»Etwas Glückliches?«, sagte er mit gebrochener Stimme.

»Wir sind alle noch hier«, flüsterte sie, »wir kämpfen immer noch.

Komm schon, jetzt ...«

Erst war ein silberner Funke zu sehen, dann ein flackerndes Licht, und dann brach, mit der größten Kraftanstrengung, die es ihn je gekostet hatte, der Hirsch aus der Spitze von Harrys Zauberstab hervor. Er sprang vorwärts, und nun stoben die Dementoren tatsächlich auseinander, und augenblicklich war die Nacht wieder mild, doch der Lärm der Schlacht rundum drang ihm laut in die Ohren.

»Weiß nicht, wie ich euch danken soll«, sagte Ron zittrig, an Luna, Ernie und Seamus gewandt, »ihr habt uns gerade das Leben -«

Mit einem Gebrüll und einem Beben, das die ganze Erde erschütterte, kam ein weiterer Riese aus der Dunkelheit vom Verbotenen Wald hergestampft und fuchtelte mit einer Keule, die größer als sie alle war.

»LAUFT!«, rief Harry erneut, doch das musste er den anderen nicht erst sagen: Sie stoben auseinander, und keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Moment landete der riesige Fuß der Kreatur genau an der Stelle, wo sie gestanden hatten. Harry sah sich um: Ron und Hermine folgten ihm, aber die anderen drei waren wieder in Richtung Schlacht verschwunden.

»Wir müssen raus aus seiner Reichweite!«, schrie Ron, als der Riese seine Keule abermals schwang und sein Brüllen durch die Nacht hallte, über das Gelände, wo nach wie vor rote und grüne Lichtgarben die Finsternis erhellten.

»Zur Peitschenden Weide«, sagte Harry. »Los!«

Irgendwie mauerte er es alles in seinem Kopf ein, stopfte es in einen kleinen Raum, in den er jetzt nicht hineinschauen konnte: Die Gedanken an Fred und Hagrid und seine furchtbare Angst um die ganzen Menschen, die er liebte und die überall im Schloss und davor verstreut waren, all das musste warten, weil sie jetzt rennen, die Schlange erreichen mussten, und Voldemort, denn das war, wie Hermine sagte, die einzige Möglichkeit, es zu beenden -

Er jagte dahin, schon fast im Glauben, er könnte den Tod selbst hinter sich lassen, achtete nicht auf die Lichtstrahlen, die in der Dunkelheit überall um ihn her flogen, nicht auf den Lärm des Sees, der wie das Meer toste, nicht auf das Ächzen des Verbotenen Waldes trotz dieser windstillen Nacht; er rannte durch eine Landschaft, die sich scheinbar selbst zur Rebellion erhoben hatte, rannte schneller als je zuvor in seinem Leben, und er war es, der den großen Baum zuerst sah, die Weide, die das Geheimnis an ihren Wurzeln mit peitschenden, um sich schlagenden Zweigen beschützte.

Keuchend und japsend verlangsamte Harry seine Schritte, ging um die dreschenden Zweige der Weide herum, spähte durch die Dunkelheit auf ihren dicken Stamm und versuchte den einen Knoten in der Rinde des alten Baums zu erkennen, der ihn lahmlegen würde. Ron und Hermine kamen herbei, Hermine derart außer Atem, dass sie nicht sprechen konnte.

»Wie – wie sollen wir da reinkommen?«, keuchte Ron. »Ich kann – die Stelle sehen – wenn wir nur – wieder Krummbein hätten – «

»Krummbein?«, schnaufte Hermine vornübergebeugt, die Hand an die Brust gepresst. »Bist du ein Zauberer oder nicht?«

»Oh – stimmt – jaah -«

Ron blickte sich um, dann richtete er seinen Zauberstab auf einen kleinen Zweig am Boden und sagte: »Wingardium Leviosa!« Der Zweig flog vom Boden hoch, wirbelte durch die Luft, als wäre er von einem Windstoß erfasst worden, und sauste dann durch die unheilvoll schwingenden Äste der Weide hindurch direkt auf den Stamm zu. Er stach in eine Stelle nahe den Wurzeln und sofort wurde der um sich schlagende Baum friedlich.

»Perfekt!«, keuchte Hermine.

»Wartet.«

Eine ungewisse Sekunde lang zögerte Harry, während das Krachen und Dröhnen der Schlacht die Luft erfüllte. Voldemort wollte, dass er das tat, er wollte, dass er kam ... führte er Ron und Hermine in eine Falle?

Doch dann schien ihn die Wirklichkeit wieder einzuholen, grausam und schlicht: Das Einzige, was sie weiterführte, war, die Schlange zu töten, und die Schlange war dort, wo Voldemort war, und Voldemort war am Ende dieses Tunnels ...

»Harry, wir kommen auch, nun geh schon rein!«, sagte Ron und schob ihn vorwärts.

Harry zwängte sich in den erdigen Gang, der in den Wurzeln der Bäume verborgen war. Er musste sich viel kleiner machen als beim letzten Mal, als sie hier eingedrungen waren. Die Decke des Tunnels war niedrig: Vor fast vier Jahren hatten sie sich schon bücken müssen, um durchzukommen, und jetzt blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu kriechen. Harry kroch voraus, mit erleuchtetem Zauberstab, und erwartete jeden Moment, auf Hindernisse zu stoßen, doch es kam keines. Sie bewegten sich schweigend, Harry behielt den hin und her schwingenden Lichtstrahl des Zauberstabs im Blick, den er in seiner Faust hielt.

Endlich begann der Tunnel anzusteigen und Harry sah vor sich einen Streifen Licht. Hermine zerrte an seinem Knöchel.

»Den Tarnumhang!«, flüsterte sie. »Zieh den Tarnumhang an!«

Er tastete nach hinten und sie drückte ihm das glatte Stoffbündel in die freie Hand. Mühsam zog er ihn über, murmelte »Nox«, um sein Zauberstablicht zu löschen, und kroch auf Händen und Knien weiter, so leise wie möglich, alle Sinne angespannt, darauf gefasst, jeden Moment entdeckt zu werden, eine kalte, klare Stimme zu hören, einen grünen Lichtblitz zu sehen.

Und dann hörte er Stimmen aus dem Raum direkt vor ihnen, nur leicht gedämpft, weil die Öffnung am Ende des Tunnels von etwas wie einer alten Kiste versperrt worden war. Harry, der kaum zu atmen wagte, schob sich langsam bis zur Öffnung vor und spähte durch einen schmalen Schlitz, der zwischen Kiste und Wand blieb.

Der Raum dahinter war spärlich beleuchtet, doch er konnte Nagini sehen, die sich ringelte und rollte wie eine Schlange unter Wasser, geschützt in ihrer verzauberten, strahlenden Sphäre, die frei in der Luft schwebte. Er konnte den Rand eines Tisches sehen und eine langfingrige weiße Hand, die mit einem Zauberstab spielte. Dann sprach Snape und Harry schlug das Herz bis zum Hals: Snape war nur Zentimeter von der Stelle entfernt, wo er verborgen kauerte.

»... Herr, ihr Widerstand bröckelt -«

»- und das ohne deine Hilfe«, sagte Voldemort mit seiner hohen, klaren Stimme. »Du bist zwar ein fähiger Zauberer, Severus, aber ich denke nicht, dass du jetzt noch von großer Bedeutung sein wirst. Wir sind fast am Ziel

... fast.«

»Lasst mich den Jungen finden. Lasst mich Potter zu Euch bringen. Ich weiß, dass ich ihn finden kann, Herr. Bitte.«

Snape schritt an dem Spalt vorbei, und Harry wich ein wenig zurück, den Blick weiterhin auf Nagini geheftet, während er sich fragte, ob es irgendeinen Zauber gab, der den Schutz um sie herum durchdringen könnte, doch es fiel ihm nichts ein. Ein gescheiterter Versuch, und er hätte seine Position verraten ...

Voldemort stand auf. Harry konnte ihn jetzt sehen, konnte die roten Augen sehen, das abgeflachte, schlangenartige Gesicht, seine Blässe, die im Halbdunkel leicht schimmerte.

»Ich habe ein Problem, Severus«, sagte Voldemort leise.

»Herr?«, sagte Snape.

Voldemort hob den Elderstab, hielt ihn so zart und präzise wie ein Dirigent seinen Taktstock.

»Warum arbeitet er nicht für mich, Severus?«

In der Stille bildete Harry sich ein, die Schlange leise zischen zu hören, während sie sich ein- und wieder aufrollte, oder war es Voldemorts zischendes Seufzen, das in der Luft nachklang?

»H-Herr?«, sagte Snape verdutzt. »Ich verstehe nicht. Ihr – Ihr habt außergewöhnliche Zauber mit diesem Stab vollbracht.«

»Nein«, entgegnete Voldemort. »Ich habe meine üblichen Zauber vollbracht. Ich bin außergewöhnlich, aber dieser Zauberstab ... nein. Er hat die Wunder nicht offenbart, die er verheißen hat. Ich spüre keinen Unterschied zwischen diesem Zauberstab und dem, den ich vor all den Jahren bei Ollivander erworben habe.«

Voldemorts Ton war nachdenklich, ruhig, aber Harrys Narbe hatte zu pochen und zu hämmern begonnen: Schmerz bildete sich allmählich in seiner Stirn, und er konnte die gemessene Wut spüren, die sich in Voldemort anstaute.

»Keinen Unterschied«, sagte Voldemort erneut.

Snape schwieg. Harry konnte sein Gesicht nicht sehen. Er fragte sich, ob Snape Gefahr witterte, ob er versuchte, die richtigen Worte zu finden, um seinen Herrn zu beruhigen.

Voldemort begann durch den Raum zu gehen. Harry verlor ihn für Sekunden aus dem Auge, in denen Voldemort umherstrich und weiter mit gleichmäßiger Stimme sprach, während Schmerz und Zorn in Harry anschwollen.

»Ich habe lange und scharf nachgedacht, Severus ... Weißt du, weshalb ich dich aus der Schlacht zurückgerufen habe?«

Und für einen Moment sah Harry Snape im Profil: Sein Blick war auf die sich windende Schlange in ihrem verzauberten Käfig gerichtet.

»Nein, Herr, aber ich bitte Euch, lasst mich zurückkehren. Lasst mich Potter finden.«

»Du klingst wie Lucius. Keiner von euch versteht Potter, wie ich es tue.

Es ist nicht nötig, ihn zu finden. Potter wird zu mir kommen. Ich kenne seine Schwäche, musst du wissen, seinen einzigen großen Fehler. Er wird es verabscheuen, zusehen zu müssen, wie die anderen um ihn herum niedergestreckt werden, wohl wissend, dass es seinetwegen geschieht. Er wird dem um jeden Preis Einhalt gebieten wollen. Er wird kommen.«

»Aber, Herr, er könnte versehentlich von einem anderen statt von Euch getötet werden -«

»Meine Anweisungen an meine Todesser waren vollkommen klar.

Nehmt Potter gefangen. Tötet seine Freunde – je mehr, desto besser –, aber ihn tötet nicht.

Doch ich wollte über dich sprechen, Severus, nicht über Harry Potter.

Du warst sehr nützlich für mich. Sehr nützlich.«

»Mein Herr weiß, dass ich nur danach strebe, ihm zu dienen. Aber –lasst mich gehen und den Jungen finden, Herr. Ich will ihn zu Euch bringen. Ich weiß, ich kann es -«

»Ich habe es bereits gesagt, nein!«, entgegnete Voldemort, und als er sich wieder umdrehte, erhaschte Harry das rote Funkeln in seinen Augen, und sein Umhang raschelte wie eine dahingleitende Schlange, und Harry spürte Voldemorts Ungeduld in seiner brennenden Narbe. »Meine Sorge im Augenblick ist, was geschehen wird, Severus, wenn ich endlich auf den Jungen treffe!«

»Herr, es ist doch gewiss keine Frage -? «

»- aber es gibt eine Frage, Severus. Es gibt eine.«

Voldemort blieb stehen, und Harry konnte ihn wieder deutlich sehen, wie er den Elderstab durch seine weißen Finger gleiten ließ und Snape anstarrte.

»Warum haben beide Zauberstäbe, die ich benutzte, versagt, als ich sie gegen Harry Potter richtete?«

»Ich – ich kann das nicht beantworten, Herr.«

»Du kannst es nicht?«

Der jähe Zorn war wie ein Nagel, der durch Harrys Kopf getrieben wurde: Er drückte sich die Faust in den Mund, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Er schloss die Augen, und plötzlich war er Voldemort, der in Snapes bleiches Gesicht blickte.

»Mein Zauberstab aus Eibenholz tat alles, was ich von ihm verlangte, Severus, außer Harry Potter zu töten. Zwei Mal versagte er. Ollivander erzählte mir unter der Folter von den Zwillingskernen, er riet mir, den Zauberstab eines anderen zu nehmen. Das tat ich, aber Lucius' Zauberstab zerbrach, als er auf den von Potter traf.«

»Ich – ich kann es nicht erklären, Herr.«

Snape schaute jetzt nicht zu Voldemort. Seine dunklen Augen waren nach wie vor auf die sich ringelnde Schlange in ihrer schützenden Sphäre gerichtet.

»Ich suchte einen dritten Zauberstab, Severus. Den Elderstab, den Zauberstab des Schicksals, den Todesstab. Ich nahm ihn seinem vorigen Herrn ab. Ich holte ihn aus dem Grab von Albus Dumbledore.«

Und nun blickte Snape Voldemort an und Snapes Gesicht war wie eine Totenmaske. Es war marmorweiß und so reglos, dass es ein Schock war, als er zu sprechen begann und es sichtbar wurde, dass sich Leben hinter diesen leeren Augen verbarg.

»Herr – lasst mich zu dem Jungen gehen -«

»Diese ganze lange Nacht, in der ich meinem Sieg so nahe bin, sitze ich schon hier«, sagte Voldemort, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern,

»und ich frage mich, ich frage mich, warum der Elderstab sich weigert, das zu sein, was er sein sollte, sich weigert, das zu leisten, was er der Legende nach für seinen rechtmäßigen Besitzer leisten muss ... und ich glaube, ich habe die Antwort.«

Snape schwieg.

»Vielleicht kennst du sie bereits? Du bist schließlich ein kluger Mann, Severus. Du warst mir ein guter und treuer Diener, und ich bedaure, was geschehen muss.«

»Herr -«

»Der Elderstab kann mir nicht richtig dienen, Severus, weil ich nicht sein wahrer Meister bin. Der Elderstab gehört dem Zauberer, der seinen letzten Besitzer getötet hat. Du hast Albus Dumbledore getötet. Solange du lebst, Severus, kann der Elderstab nicht wahrhaft mir gehören.«

»Herr!«, protestierte Snape und hob seinen Zauberstab.

»Es gibt keinen anderen Weg«, sagte Voldemort. »Ich muss den Zauberstab bezwingen, Severus. Den Zauberstab bezwingen, und dann werde ich endlich Potter bezwingen.«

Und Voldemort schlug mit dem Elderstab durch die Luft. Snape geschah nichts, und für den Bruchteil einer Sekunde schien er zu denken, ihm sei Gnade gewährt worden. Doch dann wurde Voldemorts Absicht offensichtlich: Der Schlangenkäfig wälzte sich durch die Luft, und ehe Snape etwas anderes tun konnte als schreien, war er mit Kopf und Schultern darin eingeschlossen, und Voldemort sprach Parsel.

»Töte.«

Ein furchtbarer Schrei war zu hören. Harry sah, wie Snapes Gesicht den letzten Rest Farbe verlor und weiß wurde, während seine schwarzen Augen sich weiteten, als die Zähne der Schlange sich in seinen Hals bohrten, und es gelang ihm nicht, den verzauberten Käfig von sich wegzustoßen, seine Knie gaben nach, und er stürzte zu Boden.

»Ich bedaure es«, sagte Voldemort kalt.

Er wandte sich ab; da war keine Trauer in ihm, keine Reue.

Es war an der Zeit, diese Hütte zu verlassen und die Führung zu übernehmen, mit einem Zauberstab, der ihm nun vollkommen gehorchen würde. Er richtete ihn auf den strahlenden Schlangenkäfig, der nach oben trieb, weg von Snape, der seitlich umkippte und aus dessen Wunden am Hals Blut spritzte. Voldemort rauschte ohne einen Blick zurück hinaus und die große Schlange schwebte ihm in ihrer riesigen schützenden Sphäre hinterher.

Zurück im Tunnel und in seinem eigenen Geist, schlug Harry die Augen auf: Er blutete, da er sich auf die Knöchel gebissen hatte vor Anstrengung, nicht laut herauszuschreien. Jetzt blickte er durch den schmalen Spalt zwischen Kiste und Mauer und beobachtete einen Fuß in einem schwarzen Stiefel, der am Boden zitterte.

»Harry!«, hauchte Hermine hinter ihm, doch er hatte seinen Zauberstab schon auf die Kiste gerichtet, die ihm die Sicht versperrte. Sie hob sich einige Zentimeter in die Luft und schwebte geräuschlos zur Seite. So leise er konnte, zog er sich hoch in den Raum.

Er wusste nicht, warum er es tat, warum er sich dem sterbenden Mann näherte. Er wusste nicht, was er empfand, als er Snapes weißes Gesicht sah und die Finger, die versuchten, die blutende Wunde an seinem Hals zuzudrücken. Harry nahm den Tarnumhang ab und blickte hinunter auf den Mann, den er hasste, dessen schwarze Augen sich weiteten und Harry fanden, während er zu sprechen versuchte. Harry beugte sich über ihn; und Snape fasste ihn vorne am Umhang und zog ihn näher zu sich heran.

Ein schrecklich rasselndes, gurgelndes Geräusch drang aus Snapes Kehle.

»Nimm ... es ... Nimm ... es ...«

Etwas, das mehr war als Blut, sickerte aus Snape heraus. Silbrig blau, weder Gas noch Flüssigkeit, sprudelte es aus seinem Mund und seinen Ohren und seinen Augen, und Harry wusste, was es war, doch er wusste nicht, was er tun sollte -

Ein Fläschchen, aus dem Nichts heraufbeschworen, wurde ihm von Hermine in die zitternden Hände gedrückt. Harry hob die silbrige Substanz mit seinem Zauberstab hinein. Als das Fläschchen bis zum Rand voll war und Snape aussah, als wäre kein Blut mehr in ihm, lockerte sich sein Griff an Harrys Umhang.

»Sieh ... mich ... an ...«, flüsterte er.

Die grünen Augen begegneten den schwarzen, doch eine Sekunde später schien etwas in den Tiefen des dunklen Augenpaares zu verschwinden, und es war nur noch starr, ausdruckslos und leer. Die Hand, die Harry hielt, schlug dumpf zu Boden, und Snape rührte sich nicht mehr.