"Das Testament der Götter" - читать интересную книгу автора (Жак Кристиан)

Sehet, was die Ahnen vorausgesagt haben, ist eingetreten: Das Verbrechen hat sich ausgebreitet, Gewalt ist in die Herzen eingezogen, das Unheil zieht durch das Land, Blut flie#223;t, der Dieb bereichert sich, das L#228;cheln ist erloschen, die Geheimnisse sind allen preisgegeben, die B#228;ume sind entwurzelt, die Pyramide ist gesch#228;ndet worden, die Welt ist so tief gesunken, da#223; eine kleine Zahl von Toren sich des K#246;nigtums bem#228;chtigt hat und die Richter davongejagt wurden. Doch entsinne dich der Achtung der Maat, der rechten Folge der Tage, der gl#252;cklichen Zeit, in der die Menschen Pyramiden bauten und Haine f#252;r die G#246;tter gedeihen lie#223;en, jener gesegneten Zeit, in der eine einfache Matte die Bed#252;rfnisse eines jeden befriedigte und ihn gl#252;cklich machte.
Mahnworte des Weisen Ipu-we

9. Kapitel

Neferet sammelte sich seit zwei Tagen in einer Kammer der ber#252;hmten Schule der Heilkunde von Sais, im Delta, wo die zuk#252;nftigen Praktiker einer Pr#252;fung unterworfen wurden, deren Inhalt nie enth#252;llt worden war. Viele scheiterten; in einem Land, in dem nicht selten das achtzigste Lebensjahr erreicht wurde, trachteten die Zust#228;ndigen der Gesundheitsf#252;rsorge danach, Menschen von besonderem Wert anzuwerben.

W#252;rde die junge Frau ihren Traum, gegen die Krankheit anzuk#228;mpfen, verwirklichen k#246;nnen? Ihr w#252;rden gewi#223; Niederlagen widerfahren, doch sie w#252;rde nicht aufgeben, den Leiden entgegenzuwirken. Indes mu#223;te sie zun#228;chst den Anforderungen des Gerichts der Heilkunde von Sais gen#252;gen. Ein Priester hatte ihr D#246;rrfleisch, Datteln, Wasser sowie Papyri zur Heilkunst gebracht, die sie wieder und wieder durchgelesen hatte; manche Begriffe begannen sich zu verwirren. Mal besorgt, mal vertrauensvoll, hatte sie sich in die Versenkung gefl#252;chtet, indem sie ihren Blick auf dem weiten, mit Karobenb#228;umen[25] bepflanzten Garten rund um die Schule ruhen lie#223;.

W#228;hrend die Sonne niedersank, kam der H#252;ter der Myrrhe, ein besonders in R#228;ucherungen bewanderter Arzneikundiger, um sie zu holen. Er f#252;hrte sie in die Wirkst#228;tte und stellte sie mehreren Berufsgenossen gegen#252;ber. Ein jeder forderte Neferet auf, eine Verordnung auszuf#252;hren, Heilmittel zuzubereiten, die Giftigkeit einer Arznei zu bewerten, zusammengesetzte Wirkstoffe zu erkennen, die Lese der Pflanzen, des Gummiharzes und des Honigs im einzelnen darzulegen. Wiederholt stockte sie unsicher und mu#223;te in den tiefsten Winkeln ihres Ged#228;chtnisses sch#246;pfen. Zum Ende einer f#252;nfst#252;ndigen Befragung gaben vier der f#252;nf Arzneikundigen ein g#252;nstiges Urteil ab. Jener mit gegenteiliger Anschauung erl#228;uterte seinen Standpunkt: Neferet habe sich bez#252;glich zweier Darreichungsmengen geirrt. Ihrer M#252;digkeit ungeachtet, forderte er, ihre Kenntnisse weiter zu erkunden. Falls sie sich weigerte, m#252;#223;te sie Sais verlassen. Neferet hielt stand. Sie lie#223; sich von ihrer gewohnten Sanftmut nicht abbringen, w#228;hrend sie die Angriffe ihres Gegners erduldete. Er war es schlie#223;lich, der zuerst aufgab.

Ohne die geringste Belobigung erhalten zu haben, zog sie sich in ihre Kammer zur#252;ck und schlief, kaum auf ihrer Matte ausgestreckt, sogleich ein.


Der Arzneikundige, der sie so hart auf die Probe gestellt hatte, weckte sie im Morgengrauen. »Ihr habt das Recht weiterzumachen; besteht Ihr darauf?«

»Ich stelle mich Euch.«

»Ihr habt eine halbe Stunde f#252;r Eure Waschungen und Euer Morgenmahl. Ich m#246;chte Euch vorwarnen: Die folgende Pr#252;fung ist gefahrvoll.«

»Ich habe keine Angst.«

»#220;berlegt es Euch.«

Auf der Schwelle zur Wirkst#228;tte wiederholte der Arzneikundige seine Warnung. »Nehmt diese Mahnungen nicht auf die leichte Schulter.«

»Ich werde nicht zur#252;ckweichen.«

»Wie es Euch beliebt; nehmt dies hier.« Er h#228;ndigte ihr einen gegabelten Stab aus. »Geht in die Wirkst#228;tte und bereitet ein Heilmittel mit den Stoffen zu, die Ihr finden werdet.« Der Heilkundige schlo#223; die T#252;r hinter Neferet. Auf einem niedrigen Tisch standen bauchige Flaschen, Tiegel und Kr#252;ge; im entferntesten Winkel, unter dem Fenster, ein verschlossener Korb. Sie trat n#228;her.

Die Zwischenr#228;ume des Geflechts am Deckel waren weit genug, da#223; sie den Inhalt erblickte. Entsetzt schreckte sie zur#252;ck. Eine Hornotter.

Ihr Bi#223; war t#246;dlich, doch ihr Gift lieferte den Grundbestandteil #228;u#223;erst wirksamer Mittel gegen starke Blutungen, Nervenleiden und Herzerkrankungen. So begriff sie, was der Arzneikundige erwartete. Nachdem sie ihre Atmung wieder zur Ruhe gebracht hatte, hob sie den Deckel mit nunmehr sicherer Hand an. Die vorsichtige Otter kam nicht sogleich aus ihrer H#246;hle; gesammelt und reglos schaute Neferet ihr zu, wie sie den Korbrand #252;berwand und sich auf den Boden schl#228;ngelte. Das ein Meter lange Reptil bewegte sich sehr schnell; die beiden Dornen schienen bedrohlich aus seiner Stirn zu schnellen. Neferet umklammerte den Stock mit ganzer Kraft, r#252;ckte der Schlange von links auf den Leib und versuchte, ihren Kopf in die Gabel zu klemmen. Einen Augenblick schlo#223; sie die Augen; falls es ihr mi#223;l#228;nge, w#252;rde die Otter den Stock hinaufklettern und ihr den t#246;dlichen Bi#223; versetzen. Der K#246;rper schlug wild hin und her. Sie hatte es geschafft.

Neferet kniete nieder und packte die Schlange hinter dem Kopf. Sie w#252;rde sie ihr kostbares Gift ausspeien lassen.

Auf dem Schiff, das sie nach Theben brachte, hatte Neferet kaum Zeit, sich auszuruhen. Mehrere Heilkundige plagten sie mit Fragen hinsichtlich ihrer jeweiligen Fachgebiete, die sie selbst w#228;hrend ihres Studiums ausge#252;bt hatte.

Neferet pa#223;te sich jeder neuen Lage an; unter noch so unvorhergesehenen Umst#228;nden wankte sie nicht, nahm die Ersch#252;tterungen der Welt, die Ver#228;nderungen der Wesen an und bek#252;mmerte sich wenig um sich selbst, um die Kr#228;fte und die Mysterien besser wahrzunehmen. Sie war dem Gl#252;ck gewi#223; nicht abgeneigt, doch Widrigkeiten verdrossen sie nicht; durch diese hindurch strebte die junge Frau nach einer k#252;nftigen, unter dem Ungl#252;ck verborgenen Freude. Zu keinem Zeitpunkt empfand sie Verbitterung gegen jene, die sie qu#228;lten; bildeten sie sie nicht, bewiesen sie ihr nicht die Kraft ihrer Berufung? Theben, ihre Geburtsstadt, wiederzusehen, war eine wahre Lust; der Himmel schien ihr blauer als in Memphis, die Luft lieblicher. Eines Tages w#252;rde sie zur#252;ckkehren, um hier, nahe ihren Eltern, zu leben und erneut #252;ber die Flure ihrer Kindheit zu wandeln. Sie dachte an ihre #196;ffin, die sie Branir anvertraut hatte, und hoffte dabei, sie w#252;rde vor dem alten Meister Achtung haben und sich weniger l#228;stig als #252;blich zeigen. Zwei Priester mit geschorenem Sch#228;del #246;ffneten das Tor der Tempelumfriedung; hinter den hohen Mauern waren mehrere Heiligt#252;mer errichtet worden. Dort, in der St#228;tte der G#246;ttin Mut, deren hieroglyphisches Namenszeichen sowohl »Mutter« als auch »Tod« bedeuten konnte, erhielten die Heilkundigen ihre Einsetzung.

Der Obere empfing die junge Frau. »Ich habe die Berichte der Schule von Sais #252;bermittelt bekommen; wenn Ihr es w#252;nscht, k#246;nnt Ihr fortfahren.«

»Das w#252;nsche ich.«

»Die endg#252;ltige Entscheidung obliegt den Sterblichen nicht. Sammelt Euch, denn Ihr werdet einem Richter gegen#252;bertreten, der nicht von dieser Welt ist.« Der Obere legte um Neferets Hals eine Schnur mit dreizehn Knoten und forderte sie auf, sich niederzuknien.

»Das ›Geheimnis des Heilkundigen[26]‹«, offenbarte er, »ist die Kenntnis des Herzens; von ihm gehen die sichtbaren und unsichtbaren Gef#228;#223;e aus, die zu jedem Organ und zu jedem Glied streben. Aus diesem Grund spricht das Herz im ganzen K#246;rper; wenn Ihr einen Kranken abhorcht, indem Ihr ihm die Hand auf seinen Kopf, seinen Nacken, seine Arme, seine Beine oder auf irgendeinen anderen Teil seines Leibes legt, forscht zuerst nach der Stimme des Herzens und seiner Schl#228;ge. Versichert Euch, da#223; es fest auf seinem Grunde ruht, da#223; es sich nicht von seinem Platz entfernt, sich nicht senkt, noch schw#228;cher wird und da#223; es normal tanzt. Wi#223;t, da#223; Kan#228;le den K#246;rper durcheilen und die fl#252;chtigen Lebenskr#228;fte sowie Luft, Blut, Wasser, Tr#228;nen, Samen oder kotige Stoffe f#252;hren; wacht #252;ber die Reinheit der Gef#228;#223;e und der K#246;rpers#228;fte. Wenn die Krankheit eintritt, bringt sie eine St#246;rung der Lebenskraft zum Ausdruck; #252;ber die Wirkungen hinaus m#252;#223;t Ihr die Ursache erforschen. Seid aufrichtig mit dem Leidenden, und teilt ihm eine der drei m#246;glichen Befunde mit: ein Leiden, das ich kenne und das ich behandeln werde; ein Leiden, gegen das ich ank#228;mpfen werde; ein Leiden, gegen das ich nichts ausrichten kann. Geht nun Eurem Geschick entgegen.«


Das Heiligtum lag in tiefer Stille. Auf ihren Fersen sitzend, die H#228;nde auf den Knien und die Augen geschlossen, wartete Neferet. Die Zeit hatte keine Bedeutung mehr. In sich versenkt, bez#228;hmte sie ihre Bangigkeit. Wie sollte sie ihr Vertrauen auch nicht dem Kollegium der Priester-#196;rzte schenken, die seit den Urspr#252;ngen #196;gyptens die Berufung der Heilkundigen mit ihrer Weihe kr#246;nten? Zwei Priester richteten sie auf; vor ihr #246;ffnete sich eine zederne Pforte, die zu einer Kapelle f#252;hrte. Die beiden M#228;nner begleiteten sie nicht. Sich selbst fern und jenseits aller Furcht und Hoffnung betrat Neferet den l#228;nglichen, in Dunkelheit getauchten Raum. Die schwere T#252;r schlo#223; sich hinter ihr. Sogleich sp#252;rte Neferet eine Gegenwart; irgend jemand hockte in der Finsternis am Boden und beobachtete sie. Die Arme am K#246;rper entlang ausgestreckt und mit beklommenem Atem bezwang die junge Frau die heillose Angst. Allein war sie bis hierher gelangt; allein w#252;rde sie sich verteidigen. Pl#246;tzlich fiel ein Lichtstrahl vom Dach des Tempels hernieder und erleuchtete eine an der hinteren Wand anlehnende Statue aus Diorit. Sie stellte die G#246;ttin Sechmet aufrecht schreitend dar, die furchterregende L#246;win, die an jedem Jahresende nach der Vernichtung des Menschengeschlechts trachtete, indem sie Horden von Miasmen, Krankheiten und sch#228;dlichen Keimen aussandte. Sie durchstreifte die Welt, um Unheil und Tod zu verbreiten. Einzig die Heilkundigen vermochten dieser entsetzlichen Gottheit entgegenzuwirken, die #252;berdies auch ihre Schutzg#246;ttin war; sie allein lehrte jene die Heilkunst und das Geheimnis der Heilmittel.

Kein Sterblicher, hatte man Neferet oftmals gesagt, schaute der G#246;ttin ins Angesicht, ohne zur Strafe sein Leben zu verlieren.

Sie h#228;tte die Augen senken, ihren Blick von dieser au#223;ergew#246;hnlichen Statue, dem Antlitz der grimmigen L#246;win abwenden m#252;ssen[27]; doch sie trotzte ihr. Neferet schaute Sechmet.

Sie bat die G#246;ttin, in ihrem Innern ihre Berufung zu lesen, in die Tiefe ihres Herzens zu dringen und #252;ber dessen Lauterkeit zu urteilen. Der Lichtstrahl wurde st#228;rker, erhellte nunmehr ganz und gar die steinerne Figur, deren Macht die junge Frau niederzwang. Das Wunder geschah: Die furchterregende L#246;win l#228;chelte.


Das Kollegium der Heilkunde von Theben war in einem weiten S#228;ulensaal versammelt; in der Mitte: ein Wasserbecken. Der Obere n#228;herte sich Neferet. »Habt Ihr die feste Absicht, Kranke zu heilen?«

»Die G#246;ttin war Zeugin meines Eids.«

»Was man anderen verordnet, mu#223; zuerst bei sich selbst Anwendung finden.«

Der Obere zeigte ihr einen mit r#246;tlicher Fl#252;ssigkeit gef#252;llten Kelch.


»Hier ist ein Gift. Nachdem Ihr es eingenommen habt, werdet Ihr es ermitteln und Euren Befund stellen. Wenn dieser zutrifft, werdet Ihr Zuflucht zu einem guten Gegengift nehmen k#246;nnen. Falls er irrig ist, werdet Ihr sterben. Das Gesetz der Sechmet wird #196;gypten somit vor einem schlechten Arzt bewahrt haben.«

Neferet nahm den Kelch an.

»Es steht Euch frei, den Trunk abzulehnen und diese Versammlung zu verlassen.« Langsam trank sie die bitter schmeckende Fl#252;ssigkeit, wobei sie bereits herauszufinden versuchte, was diese enthielt.


Der Leichenzug ging, von den Klageweibern gefolgt, an der Tempelumfriedung entlang und schlug die Richtung zum Flu#223; ein. Ein Ochse zog den Schlitten, auf dem der Sarkophag ruhte. Vom Dach des Tempels aus wohnte Neferet dem Spiel des Lebens und des Todes bei. Ermattet geno#223; sie die Liebkosungen der Sonne auf ihrer Haut.

»Es wird Euch noch einige Stunden kalt sein; das Gift wird aber keinerlei Spuren in Eurem K#246;rper hinterlassen. Eure Schnelligkeit und Genauigkeit haben all Eure Standesbr#252;der sehr beeindruckt.«

»H#228;ttet Ihr mich gerettet, wenn ich fehlgegangen w#228;re?«

»Wer andere pflegt, mu#223; unerbittlich mit sich selbst sein. Sobald Ihr wiederhergestellt seid, werdet Ihr nach Memphis zur#252;ckkehren, um Eure erste Stellung zu bekleiden. Auf Eurem Weg wird es nicht an Fallen mangeln. Eine so junge und so begabte Heilkundige wird allerlei Neid erregen. Seid weder blind noch arglos.«

Schwalben segelten #252;ber dem Tempel. Neferet dachte an ihren Meister Branir, den Mann, der sie alles gelehrt hatte und dem sie ihr Leben verdankte.