"Das Testament der Götter" - читать интересную книгу автора (Жак Кристиан)
Sehet, was die Ahnen vorausgesagt haben, ist eingetreten: Das Verbrechen hat sich ausgebreitet, Gewalt ist in die Herzen eingezogen, das Unheil zieht durch das Land, Blut flie#223;t, der Dieb bereichert sich, das L#228;cheln ist erloschen, die Geheimnisse sind allen preisgegeben, die B#228;ume sind entwurzelt, die Pyramide ist gesch#228;ndet worden, die Welt ist so tief gesunken, da#223; eine kleine Zahl von Toren sich des K#246;nigtums bem#228;chtigt hat und die Richter davongejagt wurden. Doch entsinne dich der Achtung der Maat, der rechten Folge der Tage, der gl#252;cklichen Zeit, in der die Menschen Pyramiden bauten und Haine f#252;r die G#246;tter gedeihen lie#223;en, jener gesegneten Zeit, in der eine einfache Matte die Bed#252;rfnisse eines jeden befriedigte und ihn gl#252;cklich machte. Mahnworte des Weisen Ipu-we
6. Kapitel
Bei Sonnenuntergang verschlo#223; der Richter sein Amtszimmer und f#252;hrte seinen Hund am Nilufer aus. Sollte er sich in diesen winzigen Vorgang verbei#223;en, den er doch ablegen konnte, indem er sein Siegel daruntersetzte? Sich einem unbedeutenden Verwaltungsakt in den Weg zu stellen, hatte kaum einen Sinn. Aber war er tats#228;chlich unbedeutend? Ein Mensch vom Lande, in st#228;ndiger Ber#252;hrung mit der Natur und den Tieren, entwickelt ein feines Gesp#252;r; Paser empfand ein so eigenartiges, beinahe besorgniserregendes Gef#252;hl, da#223; er eine, wenn auch nur kurze, Untersuchung durchf#252;hren wollte, um f#252;r diese Versetzung ohne Gewissensbisse einstehen zu k#246;nnen. Brav war verspielt, doch er mochte Wasser nicht. Er trottete in geh#246;rigem Abstand vom Flu#223; entfernt, auf dem Lastschiffe, schlanke Segler und kleine Nachen vor#252;berglitten. Die einen waren auf Lust-, die anderen auf Lieferfahrt, andere wiederum auf gro#223;er Reise. Der Nil n#228;hrte #196;gypten nicht allein, er schenkte dem Land auch noch einen bequemen und schnellen Verkehrsweg, bei dem sich Winde und Str#246;mungen auf wundersame Weise erg#228;nzten. Gro#223;e Schiffe mit erfahrenen Mannschaften verlie#223;en Memphis in Richtung Meer; manche w#252;rden lange Entdeckungsfahrten zu fernen L#228;ndern unternehmen. Paser beneidete sie nicht darum; ihr Los erschien ihm grausam, da es sie weit von einem Land entfernte, von welchem er jede Flur, jeden H#252;gel, jede W#252;stenstra#223;e, jedes Dorf liebte. Alle #196;gypter f#252;rchteten sich davor, in der Fremde zu sterben; das Gesetz wollte, da#223; man den Leib des Ungl#252;cklichen in die Heimat #252;berf#252;hrte, damit er seine Ewigkeit nahe bei seinen Ahnen, unter dem Schutz der G#246;tter, verleben m#246;ge.
Brav stie#223; eine Art Quieken aus; ein kleiner, gr#252;ner Affe, so flink wie der Nordwind, hatte ihm soeben das Hinterteil mit Flu#223;wasser bespritzt. Tief gekr#228;nkt und ver#228;rgert fletschte der Hund die Z#228;hne und sch#252;ttelte sich; erschrocken sprang der Spa#223;macher in die Arme seiner Herrin, einer jungen Frau von ungef#228;hr zwanzig Jahren.
»Er ist nicht b#246;sartig«, behauptete Paser, »aber er verabscheut es, na#223; gemacht zu werden.«
»Meine #196;ffin hat ihren Namen wahrlich verdient: Schelmin mu#223; andauernd Streiche spielen, vor allem Hunden. Ich versuche ohne Erfolg, sie zur Vernunft zu bringen.« Die Stimme war so lieblich, da#223; sie Brav beruhigte und er gleich begann, das Bein der Besitzerin des #196;ffchens zu beschnuppern und abzulecken. »Brav!«
»La#223;t ihn; ich glaube, er hat mich angenommen, und das freut mich sehr.«
»Wird Schelmin meine Freundschaft zulassen?«
»Um das herauszufinden, m#252;#223;t Ihr n#228;her kommen.« Paser jedoch war wie erstarrt: Er wagte keinen Schritt vor. Im Dorf hatten einige M#228;dchen ihm sch#246;ne Augen gemacht, ohne da#223; er sich darum gek#252;mmert hatte; mit seinen Studien und dem Erlernen seines Berufs leidenschaftlich besch#228;ftigt, hatte er Liebeleien und Gef#252;hle vernachl#228;ssigt. Die Handhabung des Gesetzes hatte ihn fr#252;hzeitig reifen lassen, doch dieser Frau gegen#252;ber f#252;hlte er sich hilflos. Sie war sch#246;n.
Sch#246;n wie die Morgenr#246;te des Fr#252;hlings, wie ein erbl#252;hender Lotos, wie eine glitzernde Welle mitten auf dem Nil. Ein wenig gr#246;#223;er als er, das Haar ins Blonde spielend, das Gesicht makellos, mit zarten Z#252;gen; sie hatte einen offenen, geraden Blick und Augen von sommerlichem Blau. An ihrem schlanken Hals hing eine Kette aus Lapislazuli; an ihren Hand- und Fu#223;gelenken B#228;nder aus Karneol. Ihr leinenes Kleid lie#223; ihre festen und hoch angesetzten Br#252;ste, zur Vollkommenheit geformte H#252;ften ohne starke Rundungen und lange, schlanke Beine erahnen. Ihre F#252;#223;e und ihre H#228;nde entz#252;ckten das Auge durch ihre Zartheit und Anmut. »Habt Ihr Angst?« fragte sie verunsichert. »Nein … selbstverst#228;ndlich nicht.« Auf sie zuzugehen h#228;tte gehei#223;en, sie von nahem zu betrachten, ihren Duft einzuatmen, sie beinahe zu ber#252;hren … Er hatte nicht den Mut dazu. Da sie begriff, da#223; er sich nicht r#252;hren w#252;rde, tat sie drei Schritte in seine Richtung und hielt ihm die kleine, gr#252;ne #196;ffin hin. Mit zitternder Hand streichelte er ihr die Stirn. Und Schelmin kratzte ihn mit flinkem Finger an der Nase. »Das ist ihre Art, einen Freund zu erkennen.« Brav muckte nicht auf; zwischen dem Hund und der #196;ffin war Waffenstillstand geschlossen. »Ich habe sie auf einem Markt gekauft, auf dem man Waren aus Nubien feilbot; sie schien so ungl#252;cklich, so verloren, da#223; ich nicht widerstehen konnte.« An ihrem linken Handgelenk entdeckte er einen merkw#252;rdigen Gegenstand.
»Befremdet Euch meine tragbare Uhr[23]? Sie ist mir unerl#228;#223;lich, um meinen Beruf auszu#252;ben. Mein Name ist Neferet; ich bin #196;rztin.« Neferet, »die Sch#246;ne, die Vollkommene, die Vollendete« … Welch anderen Namen h#228;tte sie tragen k#246;nnen? Ihre goldene Haut schien unwirklich; jedes Wort, das sie aussprach, war wie einer der verzaubernden Ges#228;nge, die man bei Sonnenuntergang auf dem Land vernahm.
»D#252;rfte ich Euch nach Eurem Namen fragen?« Es war unentschuldbar. Er hatte sich nicht einmal vorgestellt und also eine str#228;fliche Unh#246;flichkeit begangen.
»Paser … Ich bin einer der Richter des Gaus.«
»Seid Ihr hier geboren?«
»Nein, in der Gegend von Theben. Ich bin gerade erst nach Memphis gekommen.«
»Auch ich bin dort geboren!« Sie l#228;chelte verz#252;ckt. »Hat Euer Hund seinen Auslauf beendet?«
»Nein, nein! Er bekommt nie genug.«
»Gehen wir ein wenig, ja? Ich mu#223; Luft schnappen; die Woche, die gerade verstrichen ist, war erm#252;dend.«
»#220;bt Ihr Euren Beruf bereits aus?«
»Noch nicht; ich beende mein f#252;nftes Lehrjahr. Ich habe zun#228;chst die Arzneikunde und die Zubereitung der Heilmittel erlernt, dann habe ich im Tempel von Dendera als Tierkundige gedient. Man hat mich gelehrt, die Reinheit des Blutes der Opfertiere zu untersuchen und alle Arten von Tieren, von der Katze bis zum Stier, zu pflegen. Fehler wurden hart bestraft – mit dem Stock, wie bei den Knaben!« Paser litt bei der Vorstellung, da#223; diesem bezaubernden K#246;rper Marter zugef#252;gt wurden.
»Die Strenge unserer alten Meister ist die beste aller Ausbildungen«, befand sie. »Wenn das Ohr des R#252;ckens offen ist, vergi#223;t es die Unterrichtung nie mehr. Anschlie#223;end bin ich in der Schule der Heilkunde von Sais aufgenommen worden, wo ich den Titel einer ›Zust#228;ndigen der Leidenden‹ erhielt, nachdem ich verschiedene Fachgebiete studiert und mich darin ge#252;bt habe: Heilkunde der Augen, des Bauches, des Anus, des Kopfes, der verborgenen Organe, der in den S#228;ften gel#246;sten Fl#252;ssigkeiten und der Chirurgie.«
»Was verlangt man noch von Euch?«
»Ich k#246;nnte bereits Fachheilkundige sein, doch das ist der niedrigste Rang; ich werde mich damit begn#252;gen, falls ich nicht imstande bin, #196;rztin der allgemeinen Heilkunde zu werden. Der Fachheilkundige sieht blo#223; einen Ausdruck der Krankheit, ein begrenztes Bild der Wahrheit. Ein Schmerz an einer bestimmten Stelle bedeutet nicht, da#223; man den Ursprung des #220;bels kennt. Ein Fachheilkundiger vermag nur einen Teilbefund zu erstellen. Arzt der allgemeinen Heilkunde zu werden, ist das wahre Ziel jedes Heilkundigen; doch die zu bestehende Pr#252;fung ist derart schwierig, da#223; die meisten davon Abstand nehmen.«
Sie durchschritten ein Beet Kornblumen, in dem Brav sogleich herumtollte, und lie#223;en sich im Schatten einer Purpurweide nieder.
»Ich habe viel geredet«, beklagte sie, »das entspricht nicht meinen Gewohnheiten. Solltet Ihr Bekenntnisse anlocken?«
»Sie geh#246;ren zu meinem Beruf. Diebst#228;hle, r#252;ckst#228;ndige Zahlungen, Kaufvertr#228;ge, Familienstreitigkeiten, Ehebr#252;che, Gewalttaten, ungerechte Abgaben, Verleumdungen und tausend andere Verst#246;#223;e, das ist der Alltag, der mich erwartet. Mir f#228;llt es zu, Ermittlungen zu leiten, Aussagen nachzupr#252;fen, Tatsachen und Herg#228;nge zu erschlie#223;en und Urteile zu f#228;llen.«
»Das ist m#252;hselig.«
»Euer Beruf ist es nicht minder. Euch liegt das Heilen am Herzen, mir, da#223; Recht gesprochen werde; mit unseren Anstrengungen zu haushalten w#228;re Verrat.«
»Ich verabscheue es, die Umst#228;nde auszunutzen, aber …«
»Sprecht, ich bitte Euch.«
»Einer meiner Lieferanten von Heilkr#228;utern ist verschwunden. Er ist ein barscher, doch rechtschaffener und sachkundiger Mann; gemeinsam mit einigen Berufsgenossen haben wir k#252;rzlich Anzeige eingereicht. Vielleicht k#246;nntet Ihr die Nachforschungen beschleunigen?«
»Ich werde mich daf#252;r verwenden; wie ist sein Name?«
»Kani.«
»Kani!«
»Kennt Ihr ihn etwa?«
»Er ist vom Verwalter des Anwesens eines gewissen Qadasch mit Gewalt ausgehoben worden. Heute ist er wieder ein freier und unbescholtener Mann.«
»Dank Euch?«
»Ich habe ermittelt und Gericht gehalten.« Sie k#252;#223;te ihn auf beide Wangen. Paser, der von seinem Wesen her kein Tr#228;umer war, glaubte sich in eines jener den Gerechten vorbehaltenen Gefilde der Gl#252;ckseligkeit versetzt. »Qadasch … der allseits bekannte Zahnheilkundler.«
»Er selbst.«
»Er war ein guter Praktiker, so sagt man, doch er h#228;tte seit langem in den Ruhestand treten sollen.« Die gr#252;ne #196;ffin g#228;hnte und sank auf Neferets Schulter zusammen.
»Ich mu#223; aufbrechen; es hat mich sehr gefreut, mit Euch zu plaudern. Ohne Zweifel werden wir Gelegenheit haben, uns wiederzusehen; ich danke Euch von ganzem Herzen, Kani gerettet zu haben.«
Sie ging nicht, sie tanzte; ihr Schritt war leicht, ihre Erscheinung strahlend.
Paser verharrte lange unter der Purpurweide, um sich die kleinste ihrer Gesten, den zartesten ihrer Blicke, die Farbe ihrer Stimme einzupr#228;gen.
Brav legte seine rechte Pfote auf den Scho#223; seines Herrn. »Du hast es begriffen … Ich bin hoffnungslos verliebt.«