"Schwarzer Valentinstag" - читать интересную книгу автора (Bentele Günther)

Für Moritz Herrmann aus Freudental

und seine Familie

Ermordet am 19.05.1944

in Auschwitz

Er wollte nichts sein als

ein jüdischer schwäbischer Bauer


STRASSBURG

Am selben Vormittag ging er vorbei an den blutigen Tierhäuten, die vor dem Schlachthaus ausgebreitet waren, über die Schindbrücke hinüber in die Innenstadt von Straßburg.

Den Frosch hatte er nicht mehr gesehen.

Der Vater hatte ihm von der Stadt erzählt, wie sie da mächtig an der Ill lag, die von den Straßburgern auch Breusch genannt wurde, wie die Dächer vom Bau des Münsters überragt wurden, wie sie schon seit über hundertfünfzig Jahren an dem gewaltigen Bau arbeiteten, der noch lange nicht beendet war.

Zunächst ließ er sich von der Menge treiben. Aber er hatte Hunger, und das Stück Brot, das ihm die mitleidige Bauersfrau am Morgen gegeben hatte, würde nicht weit reichen. Er würde betteln müssen. Er hatte noch nie richtig gebettelt.

Zwischen der Ill und dem Münster kam er an stattlichen Häusern vorbei. Hier wohnen vielleicht meine Feinde! Die Menschen, die meinen Vater getötet haben und die auch mich töten wollen. Es war aber nichts Auffälliges zu sehen.

Verstohlen hielt er Ausschau nach den Juden, die ihm hatten helfen wollen. Und er schaute in dem Gewimmel nach den Gauklern Philo, der dicken Regine und dem breiten Balthas mit seinem großen Bart, aber er sah niemand, den er kannte.

Das Münster wuchs vor ihm auf wie ein Gebirge. Er sah das riesige Auge der Rosette, von der ihm der Vater erzählt hatte. Was war die Stiftskirche in Stuttgart neben diesem halb fertigen, rötlichen Riesenfelsen, der seinen gewaltigen Schatten über Häuser und Gassen legte! Er sah die beiden Turmstümpfe, die viel höher waren als die Türme der Stiftskirche, die doch bereits ihre Spitze hatten. Schwindel erregende Gerüste kletterten an ihnen hoch. Er konnte aber nicht erkennen, dass gearbeitet wurde, als er durch eines der Portale hineinging.

Lange stand er stumm im farbigen Dämmerlicht der Glasfenster. Es war, als hätten in dem gewaltigen Raum Engel die schwarzen Mauern in glühend buntes Licht verwandelt, als könne man durch die Wände hindurch in eine andere Welt sehen.

Auf der Südseite des Münsters bei den Gerichtsschranken fielen ihm links und rechts im Portal zwei große Steinfiguren auf. Es waren zwei Frauengestalten, von denen sich die eine hoch aufreckte und ein hageres, hochmütiges Gesicht hatte. Sie hielt ein Kreuz in der Hand, an dem eine Fahne befestigt war, und schaute herausfordernd wartend, fast schadenfroh zu der anderen hinüber.

Die andere war zur Seite geneigt wie abgeknickt und hielt einen zerbrochenen Speer in der Hand, der die Biegungen ihres Körpers nachzeichnete. Aus der anderen Hand schienen ihr zwei Steintafeln zu gleiten. Der Steinmetz hatte den Körper unter dem Gewand so dargestellt, dass es aussah, als sei sie jeder Kälte und allen Blicken schutzlos ausgeliefert. Es war ein schlankes, biegsames Mädchen mit sehr traurigem Gesicht, das sein Unglück, was es auch immer war, offenbar mit großer Anmut trug.

Ihr war ein Tuch um die Augen gebunden, als würde sie zur Hinrichtung geführt, aber die Augäpfel zeichneten sich unter dem Tuch so natürlich ab, dass man glauben konnte, sie schaue einen an.

Endloses gellendes Geschrei: Die Stufen der Kirche waren belagert von Bettlern. Da gab es Krüppel aller Art, ohne Arme, ohne Beine, schief gewachsene Männer oder Frauen, deren Körper grotesk verdreht waren. Ein Mann hatte einen so unförmigen Kopf, dass man immer wieder hinschauen musste. Zwei oder drei trugen die Brandmale verurteilter Verbrecher im Gesicht. Allerlei ekelhafte Geschwüre gab es, die offen zur Schau gestellt wurden. Christoph begriff, dass diese Missbildungen die einzige Möglichkeit für diese Menschen waren, zu überleben. Sein Vater hätte als Kaufmann gesagt, dass diese Scheußlichkeiten das Kapital der Menschen waren, das sie einsetzten, um Gewinn zu erzielen, nämlich Mitleid zu wecken.

Er blickte an sich hinunter, um sein Kapital zu ermitteln. Aber da gab es wenig, das man einsetzen konnte. Er war sehr dünn und er war sehr bleich, das wusste er. Aber das waren viele hier auf der Kirchentreppe. Dass er der Einzige war, der von Mördern bedroht wurde, und dass man seinen Vater zu Tode gehetzt hatte, sah man ihm nicht an.

Er sah einen mit einem entsetzlich krummen Bein, der nur noch ein Auge hatte. Immer wenn er einen reichen Mann oder eine reiche Frau im Blick hatte und ihnen etwas vorjammerte, liefen ihm die Tränen herab, und er erhielt sehr viel Geld in sehr kurzer Zeit.

Das ist sein Kapital!, dachte Christoph. Der eine kann seiltanzen oder Feuer schlucken, der andere kann weinen, wann er will. Was kann ich? –

Und wie sie schrien: einer erbärmlicher als der andere. Ein Wettkampf des Schreiens und Heulens um Mitleid und Barmherzigkeit! Er hatte einmal zugesehen, wie Vögel ihre Jungen fütterten. Das Junge, das am lautesten schrie, bekam am meisten zu fressen.

Da war wieder dieses erstickende Gefühl der Hilflosigkeit.

Hölzern stellte er sich hin, fremd war seine Stimme, als er die Erste anrief, die vorbeiging. Es war eine Frau mit einem kostbaren Pelz um die Schultern. Wie sie schrien um ihn herum! Wie sie die Arme reckten! Die Dame verzögerte beim Eintritt in das Münster einen winzigen Augenblick ihren Schritt, griff an ihren Gürtel, wobei sie das Gesicht verächtlich verzog – wer würde ihre Münze bekommen? –, und warf einige Münzen unter die schreienden, heulenden, mit Armen und Krücken fuchtelnden Bettler. Dann blieb sie kurz stehen und sah hochmütig zu, wie sich vier, fünf Bettler um ihre Gabe schlugen.

Christoph machte nicht mit bei der Prügelei. Er wäre der Stärkere gewesen. Aber er konnte es nicht.

Kaum war der Zank hässlich und grob zu Ende, da fuhren die Gesichter zu ihm herum: »Was machst du auf diesem Platz? Der gehört dem Stelzenklaus.«

»Hau ab!«

»An den besten Platz, als wenn es nichts ist.«

Christoph war zu Tode erschrocken. Er hatte nicht gedacht, dass die Plätze im Besitz bestimmter Bettler waren.

Er wusste, dass er sich jetzt hätte behaupten müssen: seine Ellbogen einsetzen! Mit roher Gewalt hätte er sich einen Platz erkämpfen können. Er wäre stärker gewesen als die meisten Krüppel hier.

Aber er konnte es nicht. Er fühlte sich wie damals, als ihm der Henker die Hand auf die Schulter gelegt hatte.

»Du bist fremd hier. Versuch es doch erst mal an der Schindbrücke auf der Außenseite, da lassen sie dich eher hin«, eine mitleidige Bettlerin war ihm nachgegangen, »hier benehmen sich manche wie Tiere. Und – lege dich nicht mit dem Stelzenklaus an.«

Hinter sich hörte er bereits wieder das Jammern und Schreien um den nächsten Reichen, der in die Kirche ging.

»Was jetzt?«, sagte hinter ihm eine unangenehme Stimme und er fühlte eine Hand auf seiner Schulter.

Christoph fuhr herum.

»Na, na, wer wird denn gleich so erschrecken. Was haben wir denn ausgefressen?«

»Nichts«, stotterte Christoph, »was willst du?«

Es war der einäugige Bettler mit dem krummen Bein. Eine üble Kappe hatte er auf und vor das böse Auge gezogen.

Sie blieben stehen.

»Du interessierst mich.«

»Weshalb?«

»Du bist ein komischer Vogel. Du hast noch nie gebettelt.«

»Woher willst du denn das wissen?«

»Man muss dich nur anschauen: Du stellst dich an den besten Platz, als wärst du der Bettelkönig, und wenn sie dich beschimpfen, wehrst du dich nicht.«

»Was geht es dich an?«

»So ungeschickt hat sich noch kein Anfänger benommen. Scher dich dahin, wo du hingehörst.«

Er hat ja Recht, dachte Christoph.

»Was willst du von mir?«

»Du bettelst – und weißt nicht, wie. Du willst ein Straßburger Bettler sein – und deine Sprache ist nicht von hier. Du hast Hunger, das sieht man dir an – und du trägst Schuhe, von denen du viele Wochen leben könntest, wenn du sie zu Geld machen würdest.«

Christoph war bestürzt. An die Schuhe hatte er nicht mehr gedacht. Sie waren so selbstverständlich –

Der Einäugige flüsterte plötzlich: »Ich weiß, dass dein Leben in Gefahr ist.«

Christoph zuckte zusammen.

»Du kannst mir nichts vormachen.«

Christophs Gedanken überschlugen sich. Was wusste der? War er einer von denen? – Wollte der ihn aushorchen?

»Wart, ich werde die Karten aufdecken.« Er zog den widerstrebenden Christoph in einen kleinen Winkel unten am Fluss.

»So, dann fangen wir erst damit an.«

Sein krummes Bein war plötzlich gerade, der ganze Kerl war größer. Er bückte sich und nahm Wasser aus einer Pfütze, machte einen Lappen nass, den er aus der Tasche zog, und rieb damit heftig das geschlossene Auge. Da war es plötzlich offen. Er zog die Mütze herunter, und da war es Philo, der ihn mit vertrautem Gesicht angrinste und mit wohl bekannter Stimme sprach.

Christoph war es, als ginge plötzlich die Sonne auf.

»Gut, was? Verbesserung der Geschäftsbedingungen. Man muss sich etwas einfallen lassen im Geschäftsleben, das weißt du doch besser als andere.« Er schlug ein Rad und klatschte in die Hände.

»Ich könnte dir viele Lahme in Straßburg zeigen, die gehen, und viele Blinde, die sehen können. Wie heißt es in der Bibel? Da werden Lahme gehen und Blinde sehen.« Da hatte er seine Bälle in der Hand.

Christoph hätte am liebsten einen Sprung in die Luft gemacht.

»Philo – «

»Du kannst es ruhig zugeben. Dafür lade ich dich zum Essen ein. Dann verkaufen wir deine Schuhe, sie sind zu auffällig.«

Sie betraten eine Garküche und Philo zog eine ganze Hand voll Münzen heraus: »Alles heute. Du siehst, Betteln ist ein einträgliches Geschäft, wenn man es kann. Du kannst es nicht oder du müsstest viel lernen.«

Ich kann auch nicht seiltanzen, Feuer schlucken, jonglieren, den Leuten Münzen aus der Nase ziehen, dachte Christoph.

Die Suppe in einer tiefen Holzschale war heiß, fett und dampfte, große Fleischbrocken schwammen darin. Dazu gab es ein riesiges Stück Brot und einen Holzbecher mit Wasser.

Christoph aß heißhungrig und Philo bestellte ihm gleich eine zweite Schale: »Lieber einen vollen Bauch als einen leeren Magen! Ich soll dich von Regine und Balthas grüßen. Es ist fraglich, ob sie dieses Jahr nach Straßburg kommen.«

»Und weshalb bist du –?«

»Ach, weil ich hier bin.«

Christoph erzählte alles, was er seit der Trennung erlebt hatte, auch die Flucht weg von den Juden.

»Das waren sehr nette Leute. Schade, dass ich da weggehen musste.«

»Die Juden haben es hier auch schwer. Und es wird noch schlimmer.«

Christoph war ein zunehmender Gestank aufgefallen, der ihm bekannt vorkam. »Es riecht wie in Stuttgart am Nesenbach.«

»Das sind die Gerber an der Ill. Wir sind ganz in der Nähe der Ill. Hier gibt es ein ganzes Viertel von Gerbern.«

Der Gestank wurde immer unerträglicher, je näher sie den Gerberhäusern kamen.

»Sie hängen die Tierhäute an ihren Häusern entlang der Ill auf und auch über den Straßen. Niemand will hier gerne wohnen.«

»Das kann ich mir denken.«

»Aber auch die Ill stinkt, weil sie allen Dreck und Unrat hineinwerfen. Jeder schimpft, man müsse die Ill sauber halten, aber keiner hält sich daran.«

»Das ist in Stuttgart dasselbe.«

»Das Schlimmste sind die vielen Ratten. Am widerlichsten sind die schwarzen Ratten in den Häusern.«

Sie waren jetzt in ein ganzes Gewirr von Gässchen getreten. Hier gab es nicht so viele Menschen wie in der Mitte der Stadt.

»Wenn es geregnet hat, kommst du hier kaum durch. Es ist ekelhaft. Die reichen Ratsherren kommen nie hierher, um die Zustände zu verbessern.«

Christoph schaute an den aus Holz gebauten Häusern hinauf. Es gab viele jämmerliche Hütten. Die meisten Häuser waren hier mit Stroh gedeckt, obwohl er rund um das Münster fast nur Ziegeldächer gesehen hatte. Jedes Haus hatte im Dach Gauben oder sonstige Öffnungen, in denen überall tropfende Tierhäute hingen. Die größeren Häuser hatten breite Balkone in den Giebeln, auch hier hingen überall die Tierhäute herab. Oft wurde es dunkel in der Gasse, in der sie gingen, weil Stangen von Haus zu Haus über die Gasse gelegt waren, an denen ebenfalls Tierhäute hingen, aus denen eine stinkende Brühe rann.

Es gab hier viele kleine Holzbrücken über die verzweigten Arme der Ill, von denen aus sie die Gerber und ihre Gesellen bis zu den Hüften in schmutzig gelbem Wasser stehen sahen, das sich langsam durch Abfälle schob. An Pfählen dümpelten kleine Boote.

»Im Sommer, wenn es heiß ist, kannst du es hier nicht aushalten.«

Ein stampfendes Geräusch kam vom anderen Ufer.

»Das sind die Mühlen, ein ganzes Viertel wie das der Gerber. Dort stinkt es nicht mehr so entsetzlich, dafür hält man den Lärm kaum aus. Dort drüben in der Richtung der Türme siehst du Fischernetze und Pfähle mit Reusen. Die Fischer wohnen weit flussabwärts am Auslauf der Ill aus der Stadt. Wir müssen zurück, denn wir wollen ja deine Schuhe verkaufen.«

Wie groß diese Stadt war! Christoph konnte nur staunen. Aber sein Vater hatte ihm einmal gesagt, Straßburg sei gar nichts gegen Paris, Mailand oder London, selbst Augsburg und Nürnberg seien größer.

»So, hier sind wir jetzt richtig.«

Am Rande der Gerbereien gab es sehr viele Schuhmacher. Christoph sah ihre Schilder auf die Gasse heraushängen oder an Ketten von langen Stangen schwanken.

Sie blieben vor den Läden stehen, die an Ketten vor die Fenster heruntergeklappt waren.

Die Schuhe konnten sie dann leicht verkaufen. Sie mussten nicht einmal in eine der Werkstätten hinein.

Philo hielt nur die Schuhe in der Hand hoch: »Wer will sehr gute Schuhe kaufen?«

Da kamen auch schon die Gebote. Christoph musste lachen: Von so einem Verkauf konnte ein Kaufmann nur träumen – die Leute schlugen sich beinahe um die Schuhe. Jeder bot noch höher.

»Sie wissen nicht einmal, ob sie ihnen passen.« Er schüttelte den Kopf.

»Die Angst vor der Pest. Es ist, als wollten sie das Leben selbst kaufen.«

Christoph klimperte mit dem Geld in seinem Säckchen, als sie zurückgingen.

»Ich glaube, das ist mehr, als sie gekostet haben.«

»Nun, sie sind beste Arbeit und feinstes Leder. Ich habe noch nie solche Schuhe in der Hand gehabt. Ein schlechtes Gewissen müssen wir nicht haben. Sie werden uns ein paar Wochen prächtig schmecken.«

Das Barfußlaufen war für Christoph sehr ungewohnt. Er erinnerte sich an die kühlen Steinfliesen in ihrem Hause, wenn es Sommer war, oder an die warmen Holzdielen im Winter. Aber er war noch nie auf der Straße barfuß gelaufen, das gehörte sich nicht.

Aber er wusste, dass die meisten Menschen im Sommer barfuß gingen.

»Heute ist es nicht kalt. Warte, bis es Frost gibt und Schnee und Eis, das zwickt dann ganz schön. Und pass auf, dass du in nichts Scharfes oder Spitziges trittst. Wenn sich die Wunde entzündet, kann das sehr unangenehm werden. Du wärst nicht der Erste, dem sie einen Fuß oder ein Bein abschneiden müssen. Für einen Bettler übrigens gar keine schlechten Aussichten.«

»Ich danke.«

»Jetzt bist du ein richtiger Bettler. Einen Bettler in Schuhen, das gibt es einfach nicht! Bald hast du Hornhäute an den Füßen, dann ist alles nicht mehr so schlimm. Ich habe noch nie Schuhe angehabt.«

Christoph sah an Philo auf, dem langen, dürren Kerl, der neben ihm ging und der noch nie Schuhe an den Füßen gehabt hatte.

»Im Winter helfen auch Lappen.«

»Wer bist du eigentlich? Ich weiß gar nichts über dich. Bist du aus Straßburg?«

»Das ist vollkommen unwichtig. Da gibt es nichts zu erzählen.« Er warf einen Ball hoch und fing ihn auf.

»Und Philo – was ist denn das für ein Name? So heißt doch niemand.«

»Doch, ich.«

»Du müsstest Filou heißen. Das ist französisch und heißt Spitzbube. Meine Mutter hat manchmal so zu mir gesagt. Oder noch besser Philosoph.« Philo lächelte.

Wieder drückten sie sich durch die Menschen.

»Wichtiger ist es jetzt, dass wir irgendwo ein stilles Plätzchen finden, wo wir in aller Ruhe über das reden können, was jetzt zu tun ist. Pass übrigens gut auf das Beutelchen auf, das da an deinem Gürtel hängt. Es klimpert so verlockend – nicht dass es dir jemand abschneidet.«

Vor ihnen erhob sich eine große Kirche mit einem ungeschlachten Stumpf als Turm.

»Die Kirche des heiligen Thomas. Da gehen wir jetzt hinein.«

Das Dunkel der Kirche umfing sie wie ein Mantel.

Philo pfiff leise durch die Zähne: »Wenn Balthas kommt, dann wird es erst schön. Dann bauen wir das Seil auf. Du wirst schauen, wie gut wir dich brauchen können.«

Christoph sagte nichts.

»Vielleicht kommt er gar nicht hierher und wir gehen nach Schlettstadt, Colmar oder Mühlhausen. Das Elsass ist reich. Wir können dann auch weitergehen nach Freiburg, Basel, Konstanz, oder Zürich oder rheinabwärts nach Speyer, Worms, Mainz – wir Gaukler sind beweglich. Und in den anderen Städten bist du sicher.«

»Du willst bloß, dass ich aufgebe.«

Philo fasste ihn am Arm: »Auch Balthas und Regine sagen es. Es ist unvernünftig weiterzumachen. Es ist nicht nur gefährlich, es ist tödlich.«

Philo schien Christoph wie verwandelt.

Tödlich! Er musste es sich ja selbst sagen, aber dann sah er den Vater vor sich, wie er mit schmerzverzerrtem Gesicht und diesem eigenartig steifen Gang über das Gebirge geschritten war.

»Sei ehrlich zu dir selbst.«

»Ich kann nicht anders, ich muss.« Aufgeben, das hieß, das kleine Hämmlein Hoffnung, das immer noch in ihm flackerte, auslöschen. Und nach einigem Zögern: »Dann musst du mich eben allein lassen und zu Regine und Balthas zurückgehen.«

Philo schwieg lange. »Hör zu, ein Mann hatte ein Pferd gekauft. Aber es war ein lahmes Pferd. Es ging nicht recht vorwärts mit diesem Pferd. Ich will es schon hinkriegen, das Pferd, es soll so wollen, wie ich will, dachte der Mann. Aber wenn er sich auf das Pferd setzte, so stolperte es nur so dahin. Noch schlimmer war es, wenn er das Pferd vor einen Wagen spannte – das Pferd machte ein paar Stolperschritte, dann blieb es stehen, die Leute lachten. Das werden wir bald haben, dachte der Mann und hob dem Pferd den Huf und packte das kranke Bein und wollte es gewaltsam verbiegen und gerade machen, damit das Pferd nicht mehr lahmte. Aber das Pferd holte aus und schlug dem Mann an den Kopf, dass er tot war.«

»Das kann mir nicht passieren. Was hat deine Geschichte mit mir zu tun?«

Philo schwieg.

»Du hast schon bessere Geschichten erzählt. Pass auf, ich erzähle dir auch eine – die hat mir mein Vater erzählt.«

Philo schaute auf den Boden.

»Einem Seidenhändler brachte ein Jude einen Sack mit Gold, den er auf einer Reise in den Osten vermehren sollte. Dort verlor der Kaufmann einen großen Teil seines eigenen Geldes durch einen Diebstahl. Er hatte aber noch Hoffnung, den Schaden durch hohe Gewinne wieder wettzumachen. Doch wenig später fiel er Räubern in die Hände, den Sack des Juden hatte er vorher noch verstecken können. Die Räuber, in ihrer Enttäuschung über die geringe Beute, wollten ihn auf sieben Jahre als Sklaven verkaufen. Da zeigte der Kaufmann, der ein gutes Leben gewohnt war, den Räubern das Gold des Juden und wurde freigelassen. Als er nun mit leeren Händen heimkam, verklagte ihn der Jude und bekam Recht. Der Kaufherr musste sein Hab und Gut verkaufen und wurde ein armer Mann, da fielen die Leute über den Juden her und beschimpften ihn. Aber mein Vater nicht: Der Jude hat Recht, sagte er: Man darf sein Kapital nie aufgeben! Ein Kaufmann ohne Hoffnung ist kein Kaufmann.«

»Ja, wenn er noch Kapital in den Händen hat!«, Philo schrie es fast.

»Mein Vater ist halb lahm über den Schwarzwald gegangen. Kannst du mir sagen, was das Kapital meines gefolterten Vaters war, der vor Schmerzen kaum mehr Luft bekam?«

Er ist ja auch tot, dachte Philo. Aber er sagte es nicht, sondern drückte Christoph die Hand und nickte.

Ein Mönch in schwarzweißer Kutte trat durch die Menge und stellte sich auf die Treppe zwischen die Gerichtsschranken am Münster mitten unter die Bettler. Seine Stimme reichte bis zum letzten Winkel des Platzes; von allen Seiten liefen Menschen herbei.

Christoph begriff zuerst nicht recht, worum es ging. Da war von der Kirche die Rede, dann vom Münster, das so jämmerlich dastehe, ohne die beiden Türme, welche der Baumeister vorgesehen habe. Nur Stümpfe seien es geworden. Die Kirche aber führe die Menschen zum ewigen Leben, Christus sei der Schutz und der Erlöser der Menschheit.

Das verstand Christoph und er betete insgeheim um Hilfe.

Während er sich bekreuzigte, änderte sich der Tonfall des Predigers: »Liebe Brüder und Schwestern«, rief er, »ist es nicht eine Schande, dass wir die Kirche nicht fertig bauen, sondern in unseren Sünden verharren? Ist es nicht eine besonders große Sünde, dass wir unter uns die Juden dulden, die unsern Herrn und Erlöser Jesus Christus ans Kreuz geschlagen haben?« Seine Stimme wurde immer lauter und hallte von den Häusern ringsum wider: »Ist es nicht eine Sünde, dass wir mit den Mördern des Heilands zusammenleben, als wären sie Menschen wie wir, teilhaftig der Erlösung? – Ist es nicht eine Sünde, dass wir Geschäfte mit ihnen machen, als wären sie unseresgleichen?«

Der Mönch hob die Hand: »Ihr wisst alle, dass uns schreckliche Plagen drohen. Die Pest steht schon wie eine riesenhafte Wetterwolke über uns. Seht hier diese Figuren aus Stein. O möge doch ihr Anblick euere verhärteten Herzen zum Schmelzen bringen. Seht hier, wie der Meister unsere Mutterkirche aus Stein gebildet hat, triumphierend, die Fahne Christi, die Fahne des Sieges in der Hand. Und hier, wie jämmerlich und erbärmlich steht sie da, die Verliererin, die jüdische Synagoge mit ihrem zerbrochenen Speer! Seht, wie er ihr die Augen verbunden hat, um damit zu zeigen, wie verblendet die Juden sind!«

Er breitete die Arme aus.

»Ich sage euch, wenn die Steine dieser unvollendeten Kirche weinen könnten, dann würden sie weinen über euch, weinen über euch, wie einst Jeremias geweint hat über den Fall Jerusalems, dass ihr euch nicht trennt von denen, die euch verderben, nicht trennen wollt von der Pest, die schon hoch über euch steht!

Ich sage euch ein Gleichnis: Wenn der Sämann über den Acker geht und sieht, wie darauf das Unkraut wächst – was wird der Sämann tun, der gute Sämann?«

Unter den Zuhörern, Bettlern, aber besonders vielen Handwerkern, entstand Bewegung, Rufe wurden laut: »Ausreißen das Unkraut, herausziehen mit den Wurzeln das Unkraut! Mit Stumpf und Stiel!«

Christoph stand stumm, eine Hand hielt er vor den Mund.

Sie schliefen zuerst unter den Brücken. Eingehüllt in dicke Pferdedecken war es trocken und warm. Ohnehin waren die Nächte in der ganzen ersten Zeit warm und tagsüber schien die Sonne jetzt Ende April von einem so strahlend blauen Himmel, als gebe es keinen drohenden Tod über der Stadt.

Philo ging zu den Bettlern, um herumzuhorchen: »Die Bettler wissen mehr, als man denkt.«

Aber viel brachte er nicht heraus. »Vielleicht ist das wichtig: Es tobt ein stiller Machtkampf zwischen den Handwerkern, mit ihnen hat sich der Bischof verbündet, und den Kaufleuten, die es mit dem Kaiser halten. Es gibt mehr Kaufleute im Rat als Zunftmitglieder, sie sind auch Richter – aber was nützt uns das? Bei den Ratsherren müssen die Verbrecher sein. Aber wer sieht’s ihnen an?«

Eine große Unruhe war über die Bettler in Straßburg gekommen. Geld sollte es geben, viel Geld, mehr Geld als alle zusammen jemals gesehen hätten, so hieß es. Man müsse einen Jungen suchen, einen Verbrecher mit schwarzem, buschigem Haar und blauen Augen. Man dürfe ihn umbringen, er sei vogelfrei – dafür gebe es Geld. Viel mehr Geld gebe es, wenn man ihn anzeige, man solle es dem Stelzenklaus sagen, wo man den Verbrecher finden könne.

Das Blutgeld, das man bekomme, sei so hoch, dass es das ganze Leben für Schnaps reiche.

Wer der Auftraggeber des Stelzenklaus sei, wollte Philo wissen.

Aber das wisse nur der Stelzenklaus.

Der Stelzenklaus war der ungekrönte König der Bettler in Straßburg, ein hünenhafter, überaus dicker Mann, der sich angeblich nur mit Krücken fortbewegen konnte. Philo wusste, dass der Stelzenklaus so gesund war wie sein eigenes zugeklebtes Auge. Er war sehr reich, aber gleichzeitig einer der rücksichtslosesten Bettler von ganz Straßburg. Es hieß, er sei vor Jahren ein Raubritter gewesen, dem sie die Burg verbrannt hätten. Andere sagten, er sei in seiner Jugend sehr verwöhnt gewesen, aber sein Vater sei wegen einer Betrügerei aus irgendeiner Stadt in Oberschwaben gewiesen worden, deshalb sei er zum Bettler geworden.

Philo kannte ihn: »Mit dem können wir nicht reden – er ist viel zu gefährlich, ein durchtriebener, bösartiger Kerl, der Angst um sich herum verbreitet. Er wird das Blutgeld alleine einstreichen und dem, der dich anzeigt, nur ein paar Heller geben.«

Es hieß, der Stelzenklaus habe schon Bettler mit seinen Krücken totgeschlagen, wenn sie sich zum Beispiel nicht an den Ort gestellt hätten, den er ihnen zugewiesen habe. Dem Stelzenklaus sei nie etwas geschehen, weil ihn keiner der Bettler in Straßburg verraten habe.

Christoph hatte ihm einmal den Platz weggenommen. Aber davon wusste der Stelzenklaus nichts.

Ein nasser Wind kam auf, es begann zu regnen. Ihr neues Versteck war ein leer stehendes Haus.

In der Nähe hatte Philo Christoph ein Gewölbe am Ufer der Ill gezeigt, das er schon seit Jahren als Versteck genutzt hatte. Er wusste, dass vor einem halben Jahrhundert hier die Stadtmauer gewesen war mit der Ill als Grenze. Man hatte die alten Mauern und Türme abgerissen und weit jenseits der Ill wieder aufgebaut; so war die ganze Ill entlang von den Mühlen bis zu dem Viertel der Fischer hinab ein neues Stadtviertel entstanden. Das Gewölbe musste ein Rest der alten Befestigungen sein. Es war weit in den Hang hineingetrieben und hatte rückwärtig einen Abzug, den Philo noch nicht gefunden hatte, er spürte aber den Luftzug. So konnte er sogar Feuer in der Höhle machen, ohne dass es von außen zu sehen war. Vor dem Eingang stand ein breiter Strauch mit winzigen weißlichen Blüten.

Das Haus, das sie bezogen, war eigentlich nur noch eine Fachwerk- und Bretterhütte, die sich mit dem Giebel bedenklich auf die Seite eines Arms der Ill neigte, der mit schwarzgelbem Wasser entlang einem schmalen Weglein dem Sog des nächsten Einlaufs am Rechen einer Mühle folgte. Das Dach war eingesunken, das Stroh waren faulige Fetzen. Am krummen Giebel hing eine hölzerne Brettergalerie Schwindel erregend über dem Wasser. Das Haus war der Rest einer Gruppe von Gebäuden, die offenbar alle ein Hochwasser der Ill weggerissen hatte, man sah noch Mauerreste und Balken.

»Uns sollte es noch aushalten. Letztes Jahr war freilich noch mehr da«, sagte Philo.

Christoph schaute trübselig auf die herabgebrochene Treppe, auf die es aus dem Dach tropfte: »Alles verrottet.«

»Nur du wirst immer wertvoller: Der Preis auf deinen Kopf ist gestiegen. Es sind jetzt sechs Gulden. Respekt.«

Ein Müller fand im Morgengrauen, am Rechen seiner Mühle, einen angetriebenen Körper, den man zwischen Treibholz und Unrat kaum sehen konnte. Der Mann war tot, nach der Kleidung zu schließen ein Bettler. Die linke Hand umklammerte noch eine leere hölzerne Schnapsflasche ohne Stöpsel.

Philo stand in der Traube von Menschen am Einlauf des Mühlkanals. Er sah das weiße Gesicht des Mannes und er sah die schwarze Einstichwunde im Rücken, über den sich das Hemd verschoben hatte.

»Sie haben heute Morgen einen Bettler aus der Ill gefischt«, sagte er zu Christoph, »er war schon steif. Ich habe ihn mir angesehen.«

Christoph wehrte sich gegen eine aufsteigende Übelkeit: »Und?«

»Ich kannte ihn seit Jahren. Er hat Schnaps gesoffen wie ein Loch. Ich glaube nicht, dass er viel gegessen hat. Er hat alles versoffen.«

»Also ist er besoffen in die Ill gestolpert. Er wird es kaum gemerkt haben.« Christoph bekreuzigte sich.

Philo schaute Christoph an: »Du fragst gar nicht, wieso ich ihn gesehen habe.«

»Wer fragt schon, wo du dich überall herumtreibst.«

»Solltest du aber. Der Bettler muss an unserem Arm der Ill ins Wasser gekommen sein, denn er lag am Rechen unserer Mühle angeschwemmt, ganz nah.«

»Gekommen sein?«

»Er hatte eine Stichwunde im Rücken. Also ist er ermordet und in unseren Mühlkanal geworfen worden.«

»Und wo ist er ermordet worden?«

»Nicht weit von der Fundstelle, denn wer schleppt schon einen Toten herum? Oberhalb des Rechens, das heißt dicht bei unserem Bretterpalast.«

Der Mord war das Gespräch des Tages unter den Bettlern. Am Nachmittag kamen Stadtsoldaten und scheuchten Schwärme von Ratten auf, als sie mit ihren Spießen nachlässig in der Uferböschung der Ill stocherten. Die Bettler standen dabei und gaben Ratschläge, die niemand hören wollte. Die beiden Jungen sahen und hörten es von der morschen Brettergalerie aus.

Man konnte sie betreten, wenn man vorsichtig war und über dem Balkengerüst blieb, über das die Bretter genagelt waren. Aber so ganz sicher war das auch nicht.

Am Abend rückte eine Abteilung Soldaten die Ill entlang und trieb alle Bettler, die keinen Bettelbrief hatten, aus der Stadt.

Es waren bange Minuten, als Philo seinen Bettelbrief zeigte und der Soldat fragte: »Sonst noch jemand in deinem Loch?«

»Nein«, hatte Philo geantwortet, »das hält ja kaum mich aus.«

Der Soldat hatte keine Lust gezeigt, sich das Innere der Behausung anzuschauen.

»Wenn sie den Mörder erwischen, wird er aufgehängt oder gerädert«, sagte Philo. »Ja, da machen sie keinen Unterschied?«, Philo schüttelte den Kopf, »aber wie wollen sie ihn finden? Doch nicht von dem bisschen Herumstochern. Da wollte ich einmal sehen, wie sie den Mörder eines Ratsherrn suchen würden.«

»Das ist ja auch ein gewaltiger Unterschied?«, warf Christoph ein.

»Meinst du?«

Christoph war plötzlich still.

Dann sagte er: »Vielleicht haben sie den Mörder mit hinausgejagt.«

»Dann kommt er wieder. Alle kommen wieder, so ist das nun einmal. Sie treiben die Bettler alle paar Wochen hinaus, aber alle kommen wieder. Wer lässt sich schon von der Futterkrippe vertreiben?«

Nach wenigen Tagen hatte Philo die jüdische Familie ausfindig gemacht, die Verwandte aus Spanien aufgenommen hatte.

»Wer wohnt denn da noch bei dir im Haus?« Der krumme Bettler hatte ein Gesicht, das vor Stoppeln beinahe schwarz war, eine große weiße Narbe, verschwollene, blutunterlaufene Augen und nur noch zwei, drei schwarze Zähne. Er stank so sehr nach Schnaps, dass man kaum Luft bekam. »Wo zwei wohnen, haben auch drei Platz«, fuhr er fort. »Ihr könntet mich ruhig bei euch wohnen lassen.«

Seine Stimme war unangenehm heiser.

Über der Ill stand ein Wolkenturm, die Sonne stach. Die beiden standen in einem Schwarm von Stechfliegen.

Christoph stand hinter der Türe. Schon vor ein paar Tagen hatte ein Bettler nach ihm gefragt.

»Warum sieht man ihn denn nie? – Ist er krank? Oder«, die blutunterlaufenen Augen des Bettlers kniffen sich zusammen, als würde er in sehr helles Licht schauen, »oder muss er sich verstecken?«

»Krank ist er, ansteckend krank, den Grind hat er am Kopf, schon fast keine Haare mehr und voller Flecken. Bald sieht er aus wie du mit deinem versoffenen Glatzkopf. Und er hat ein verschwollenes Gesicht, blau und rot – so wie ich dir eines hinhaue, damit du nicht mehr aus den Augen glotzen kannst, wenn du nicht bald verschwindest!«

Am anderen Morgen stand er wieder mit einem lauernden Blick vor dem Haus, krumm, sehr groß, hager, mit seiner Narbe und einer hölzernen Schnapsflasche in der Hand. Man konnte sein Alter kaum schätzen, er sah kräftig aus. Christoph und Philo beobachteten ihn von der halsbrecherischen Galerie herab. Er stand lange, wie einer, der sich nicht zu verstecken braucht, der seiner Sache ganz sicher ist. Er kaute auf einem Fingernagel und nahm ab und zu einen Schluck aus der Schnapsflasche. Sie saßen mit Herzklopfen oben, umkreist von Stechmücken, gegen die sie sich nicht wehren durften.

Der Bettler hatte viel Zeit. Wie bei einer Belagerung ist es, dachte Christoph, aber die Belagerten dürfen sich hier nicht wehren! Er schaute durch die Bretter zu dem weißen Ausschnitt des Himmels.

So ging es viele Uhrenschläge lang, während sich Philo im Nacken kratzte, dann unter den Achseln, dann am Kopf. Es war schwül. Philo versuchte sogar durch die Zähne zu pfeifen. Zum Glück setzte da der Lärm von den Mühlen ein. Ein Schwarm Krähen, der in allernächster Nähe auf ein paar schrägen Stangen halb im Wasser gehockt hatte, flog auf. Zwei glänzend schwarze Ratten balgten sich zu den Füßen des Narbigen, der mit den bloßen Zehen nach ihnen stieß. Am Ufer wälzte sich eine Hündin und streckte dabei ihren kahlen Bauch mit geschwollenen weißlichen Zitzen nach oben.

Dann schien ein Ruck durch den Mann zu gehen und er lief schnell und entschieden fort, so wie einer geht, der genau weiß, was er will.

»Geht er zum Stelzenklaus oder zu dem Hintermann? Oder wartet er, bis er mich alleine erwischt?«

»Ich glaube nicht, dass er zum Stelzenklaus geht, sonst hätte er nicht den ganzen Morgen hier gestanden. Wie auch immer, wir müssen fort.«

»Wohin?«

»Ein anderes Quartier suchen. Dieses hier ist schon zu verdächtig. Sonst bleiben nur noch die Juden, aber für die wird es auch immer schlechter.«

Christoph trug einige alte Lumpen, als sie gegen Abend aufbrachen. Ein dickes, unglaublich schmutziges Wolltuch hatte ihm Philo um den Kopf gewickelt. Darunter wurde ein blutiger Verband sichtbar. Über einem Auge hatte er eine Augenklappe, das andere hielt er halb geschlossen. Selbstverständlich war er barfuß.

Philo führte ihn – ein Gesunder führt einen Kranken. Philo ging derzeit nicht als Bettler: »Wir müssen in ein ganz anderes Stadtviertel, weg von der Ill, sonst haben sie uns gleich wieder.«

Wie immer in den letzten Wochen waren viele Leute auf den Straßen. An manchen Stellen waren Auflaufe: »Der schwarze Tod ist schon in der Schweiz und in Frankreich!« Das sagte ein dicker runder Mann mit mehligem Gesicht, offenbar ein Bäcker. Sie blieben stehen.

»Jesus, hilf! Was kann man denn tun?«

»In der Schweiz tun sie was. Auch in Frankreich tun sie was«, fuhr der Bäcker fort.

»Was denn, um Himmels willen?«

»Sie bestrafen die Juden! Aber unsere Oberen tun nichts. Sie schlafen!«

Christoph und Philo stellten sich zu der Gruppe, die ständig wuchs.

»Ja, die Juden haben unseren Herrn Jesus ans Kreuz geschlagen. Damit hat es angefangen.«

Er sprach leise, die hinteren drängten nach vorne: »Jeder weiß, dass die Juden den Christen feindlich sind. Hätten sie sonst unseren Herrn und Heiland an das Kreuz geschlagen?«

Alle bekreuzigten sich.

Philo und Christoph drängten sich nach vorne.

»Sie wollen nichts anderes als die Herrschaft über die Welt. Jetzt hört gut zu: Es gibt ein Gift, das kommt von den Heiden, den Söhnen Mohammeds aus Afrika. Das sind auch unsere Feinde. Wer es isst oder trinkt, der bekommt die Pest und stirbt. Dagegen ist kein Kraut gewachsen.«

Irgendwo hinter einem Fenster weinte ein Kind.

Der Bäcker machte eine Pause und unterstrich seine Worte mit den Händen: »Mit diesem Gift vergiften die Juden die Christen. Zum Schluss gehört ihnen die ganze Welt.«

»Und wie – «

»Was und wie? Sie tun es in die Brunnen. Alle müssen trinken, also trinken alle die Pest! So einfach ist das!«

Christoph zuckte plötzlich zusammen. »Dort drüben«, flüsterte er und zog Philo am Arm. »Komm!«

Auf der anderen Seite des kleinen Platzes stand der krumme Bettler mit der Narbe. War er ihnen etwa gefolgt? Hatte er sie gesehen?

»In der Menge bleiben«, zischte Philo, »nicht hinsehen.«

Sie gingen langsam weiter. »Hat er uns gesehen?«

»Wissen wir nicht«, flüsterte Philo, »aber gleich werden wir es wissen.«

Da! Er war wieder hinter ihnen. Er folgte in immer gleichem Abstand, seine lange hagere Gestalt ragte über die Köpfe des Gewimmels in der Gasse heraus. Manchmal konnten sie die Narbe in dem schwärzlichen Gesicht erkennen. Er war zäh, hielt Schritt und war offenbar entschlossen die Verfolgung unerbittlich fortzusetzen.

Christoph hatte das Gefühl, als gingen sie durch halb Straßburg. Einmal, als er sich umschaute und die Gasse hinter ihnen anstieg, erschien der Bettler oben, als wandle ihnen ein Turm nach.

»Wir könnten doch zu deiner Höhle rennen, ihn abschütteln und darin verschwinden. Wir sind schneller als er. Heute Nacht suchen wir dann ein neues Quartier.«

»Das ist eine gute Idee – zu meiner Höhle. Der wird schauen! Aber lass dir Zeit.« Philo griff nach Christophs Arm und ging betont langsamer.

Auch die Gestalt hinter ihnen verzögerte den Schritt.

Philo ging noch langsamer.

»Was soll das?«, flüsterte Christoph erregt. »Du kannst ihm ja gleich eine Einladung zu meiner Ermordung schicken.«

»Wart’s ab!«

Da war das abendliche Illufer, der abschüssige Hang mit den Sträuchern, die Steine und der Unrat, umspült von Wellen, das Ufer auf der anderen Seite erschien bereits schwarz unter dem gelblichen Himmel. Da war der Strauch mit den weißlichen Blüten vor Philos Höhle. Christoph duckte sich und zog Philo am Arm hinunter.

»Wart noch – er soll uns sehen! Jetzt, jetzt sieht er uns – schnell hinein!«

Die Schwärze und Nässe der Höhle umfing sie.

Philo hatte Christoph nach hinten gezogen: »So, erst mal Licht. Willkommen in der Unterwelt.«

Christoph war schon öfter hier gewesen, aber nie gerne. Die Luft war erfüllt von Moder und Verwesung. Die regelmäßigen Steinquader an den Wänden schimmerten grün, als Philo an einem eisernen Kasten, in dem er Glut aufbewahrte, einen Kienspan anzündete.

Algen und Wurzeln hingen in Schlieren vom Gewölbe. Überall tropfte es.

»Für den Kerl da draußen sitzen wir jetzt in der Falle!«

Einen Bretterverschlag hatte sich Philo gebastelt und abgedichtet, der einigermaßen trocken war. Hier konnte er zur Not schlafen, hier hatte er seine Kleider für verschiedene Tätigkeiten, wie er sagte, aufbewahrt, bevor er sie in das schiefe Haus gebracht hatte: »Hier schimmeln sie so schnell!«

»Hierher bringe ich sie vorläufig auch wieder zurück. So, nun beachte bitte den Rauch meines Kienspans.« Philo deutete in das Gewölbe hinein. »Bitte zu folgen – der Weg in die Sicherheit. Er ist nie angenehm.«

»Wenn du nur nicht immer in Rätseln sprechen würdest.« Christoph war es nicht wohl in dieser feuchten Dunkelheit.

»Zu den Juden!«

»Was heißt das?«

»Dass dieses hässliche Gewölbe einen zweiten Ausgang hat, der Rauch, der nach hinten abzieht, beweist es. Der krumme Kerl draußen mag warten, bis er verschimmelt oder durchgerostet ist. Du musst zu den Juden, weil er dich in Straßburg überall aufspüren wird. Vielleicht nehmen sie dich ein zweites Mal auf.«

Es roch brandig und faulig. Der Gewölbegang war viel länger, als man vermuten konnte, er krümmte sich etwas – war es ein Fluchtweg gewesen? Manchmal stolperten sie über einzelne heruntergebrochene Steine. Einmal huschte ein Schatten über sie hinweg – eine Fledermaus? Trippeln und Scharren zu ihren Füßen – Ratten!

Zu den Juden. Christoph dachte an die Predigt des schwarzweißen Mönchs – war es eine Sünde, zu den Juden zu gehen? Aber Elieser, Abraham und Esther: Wo sollte da eine Sünde sein? –

Eine halbrunde Rückwand, bedeckt von Moos, bildete das Ende des Gewölbes. Ein Gitter lag darüber, aus dem grünliches Licht sickerte, ein großer Haufen aus faulem Laub lag darunter.

Philo kletterte Christoph auf die Schultern und rüttelte an dem Gitter. Zum Glück ließ es sich anheben. Dennoch war es nicht einfach, zur Erdoberfläche zurückzukehren.

Sie standen in einem düsteren Baumgarten, dahinter ragten dunkle Gebäude auf. Christoph sah zuerst überall die lange Gestalt des krummen Bettlers hinter den Bäumen – aber kein Mensch war zu sehen.

»Hast du gewusst, dass sich das Gitter heben lässt?« Christoph erkannte die Stiftsgebäude der Thomaskirche.

»Nein.«

Christoph schaute Philo von der Seite an.

»Und wenn uns jemand gesehen hätte – «

Philo zuckte die Schultern.

Vom nahen Turm der Thomaskirche tönte der Stundenschlag durch die Dämmerung, aber Christoph war so aufgeregt, dass er nicht mitzählte.

Als sie durch die dunkelnde Stadt gingen, blieb er mit einem Ruck stehen: »Ist es sinnvoll, zu den Juden zu gehen, wenn die auch verfolgt werden?«

»So schlimm die Wahrheit auch ist, im Augenblick gibt es in ganz Straßburg keinen sichereren Ort für dich als bei den Juden. Freilich«, Philo warf einen Ball in die Luft und fing ihn auf, »wenn sie dich aufnehmen, ist ihr Schicksal dein Schicksal.«