"Schwarzer Valentinstag" - читать интересную книгу автора (Bentele Günther)JUDENDie vier Männer, die Rat über ihn hielten, nahmen keine Rücksicht auf Christoph, der dasaß mit verkrallten Händen und einem trockenen Mund. Die beiden älteren erinnerten ihn an seinen Vater, nicht nur wegen der Kleidung. Ihre ganze Art war wie die seines Vaters. Sie redeten leise und meist bedächtig, die Stirne in Falten gelegt. Wenn sie eine Meinung gefasst hatten, konnten sie fast leidenschaftlich heftig werden. Es fiel kein böses Wort. Aber sie redeten hart und schonungslos – wie sein Vater. Manchmal fielen Sätze in einer gänzlich fremden Sprache. Er vermutete, dass es Hebräisch war. Die Männer kehrten aber immer schnell zum Deutschen zurück. Offenbar sollte Christoph alles verstehen. Auf der Straße hätte er keinen Unterschied zu den Christen gemerkt. Der alte Abraham trug einen weißen Bart. Die anderen waren glatt rasiert. Ihre Kleidung war schlicht, aber vornehm. Die Kleidung der Jüngeren, Elieser und Nachum, war bunt wie die der reichen Kaufleute in Stuttgart, der alte Abraham trug ein weites, dunkles Gewand wie reiche alte Leute aus der Bekanntschaft des Vaters. Nur an der Sprache der Auswanderer aus Aragon merkte man einen geringfügigen Unterschied. Die beiden jüngeren Männer, Elieser und Nachum, der kaum älter war als Christoph, sprachen zuerst und sie sprachen gegen ihn. »Gut, wir hatten ihm damals Hilfe versprochen, die wir wegen der Umstände nicht leisten konnten«, begann Elieser. »Aber da war die Lage eine andere als jetzt. Als wir ihn am Purimfest in einer Herberge aufnahmen, wussten wir nicht, wie gefährlich die Lage der Juden in Straßburg ist, dass es fast ist wie in Aragon. Wir wollten ihn nur sicher über den Rhein bringen, sonst nichts. Ich rate ab, ihn noch einmal aufzunehmen. Es ist gefährlich, einen Verfolgten aufzunehmen und den Verfolgern damit auch noch einen Vorwand mehr gegen uns zu geben. Einen Vorwand, den sie ebenso auf alle unsere Brüder anwenden werden. Wir dürfen die Väter und Brüder in Straßburg nicht noch zusätzlich gefährden.« Nachum nickte. »Es kann niemand von uns verlangen, dass wir uns in Not begeben, um gegen Not zu helfen. Und wir sind in sehr großer Not, und unsere Not wird größer, wenn wir ihn aufnehmen. Das andere habe ich schon gesagt«, fuhr Elieser fort. Und mit bedauerndem Gesicht zu Christoph: »Wir sind entschuldigt: Noch einmal, wir dürfen unsere Brüder nicht gefährden.« »Er ist ein Christ«, sagte Nachum, »ein Christ, den ihr aufgelesen habt. Deshalb müsst ihr entscheiden, da es euer Gast war. Und wir müssen eure Entscheidung annehmen. Aber wenn ihr mich fragt, so nehmen wir ihn nicht auf! Es ist schon fast alles gesagt. Aber wir müssen auch bedenken, dass er ein Christ ist. Wie oft haben sie unseren Leuten nicht schon einen Strick daraus gedreht, dass sie einen Christen im Hause aufgenommen haben. Sie lügen dann, wir hätten einen Christen entführt, und drehen alles herum. Es ist auch so, dass wir einem Christen nicht helfen müssen – würde denn uns ein Christ helfen?« Aufspringen, weggehen! Aber Christoph blieb wie gelähmt sitzen. Nachums Vater war Löb Baruch. Er war sicher über zehn Jahre älter als Elieser und trug das kostbarste Gewand. Er war ein schwerer, recht ernster Mann. Er sagte langsam mit einer steilen Falte auf der Stirn, die sich auch bei Nachum fand: »Das Gastrecht ist uns heilig, Nachum, und ich schicke nicht gerne einen Fremden fort, der bei mir Hilfe sucht. Obwohl ihr alle Recht habt. Aber wenn wir Christoph fortschicken – gesetzt, er wird getötet: Dann kommt sein Blut auf mein Haus. Es ist gefährlich; in so schlimmen Zeiten Blutschuld auf sein Haus zu laden. Ich weiß nicht, wie ich raten soll. Es wäre besser gewesen, wenn ihr ihn auf der Landstraße gelassen hättet.« Christoph saß bleich, zu keiner Regung fähig. Jetzt erhob sich der alte Abraham in seinem dunklen Gewand, er sprach fast feierlich: »Ich bin ein alter Mann, weither gereist auf der Flucht, um das Leben der Menschen zu schützen, die mir von Gott anvertraut sind. Ob ich es retten kann, mein Leben und ihr Leben, das weiß ich nicht, niemand weiß es. Gott weiß es.« In dem Raum war es still. »Das Leben ist wie ein bunter Ball, den einer wirft. Vielleicht wird er aufgefangen, vielleicht fällt er zu Boden und geht verloren im Schmutz und in der Nacht. Es gibt Menschen, die handeln so, als seien sie wie die Dunkelheit und wie der Schmutz. Sie besudeln alles. Sie fangen nur die Bälle, die ihnen gefallen, die anderen lassen sie verderben, und sie sagen, sie seien reich. Aber wie können sie sagen, sie seien reich? Ihr sagt, Christoph sei ein Christ, und Christen brauche man nicht zu helfen. Und ihr habt Recht: Christen helfen uns auch nicht, ja, sie bedrohen sogar unser Leben. Aber ich, der alte Abraham, sage euch: Wer auch nur ein Menschenleben rettet, der rettet die ganze Welt. Denn der bunte Ball der Welt muss gefangen werden von den Christen, von den Anhängern Mohammeds, von den Juden, jeden Tag, sonst geht die Welt verloren!« Es wurde nur noch wenig geredet. Einer nach dem anderen traten die Männer zu Christoph und legten ihre Wange an seine. Er hatte eine Kammer für sich in dem großen Haus. Er hatte gesehen, dass es eines der größten Häuser im Judenviertel war, als sie herzklopfend davor gestanden hatten. Es unterschied sich nicht von den Häusern der christlichen Bürger Straßburgs. Jetzt saß er hier in seiner Kammer dicht unter dem Dach und war ganz abhängig von dem Wohl und dem Wohlwollen anderer. Philo suchte und hörte sich weiter in der Stadt um, die für Christoph zu gefährlich war. Mit Philo und den Juden war es zuerst nicht einfach. Philo war ein Gaukler und durfte in einer Familie mit dem Bürgerrecht nicht verkehren. Christoph wusste, dass es wie mit dem Henker war. Aber ihn hatten sie aufgenommen – Nur abends, wenn es niemand sah, sollte Philo in das Haus gelassen werden. Es sei wegen der Gefahr, in der die Juden schwebten. Aber Philo kam dann in Verkleidungen, die weder nach Bettler noch nach Gaukler aussahen, und mit der Zeit konnte er dann kommen und gehen, wann er wollte. Auch die Juden wollten sich umhören. »Ich kenne viele Ratsherren sehr gut und will sie, so gut es sich machen lässt, aushorchen«, hatte Löb gesagt. »Aber die Zeiten sind nicht mehr wie noch vor ein paar Wochen. Ich weiß nicht, wie lange sie noch mit mir reden.« Aus dem Fenster sah Christoph hinaus auf eine Dächerlandschaft. Die Häuser waren hoch, so hoch wie die höchsten in Stuttgart. Fast alle waren mit Ziegeln gedeckt. In Stuttgart sah man viel mehr Häuser, die mit Stroh gedeckt waren, als in Straßburg. Das Judenviertel, nicht weit vom Münster entfernt, war sehr groß. Es mussten sehr viele Juden in Straßburg wohnen. Es gab auch viele kleinere Häuser, aber sie waren in anderen Gassen. Ob es in allen Judenhäusern so sauber ist wie hier? – Was weiß ich schon über die Juden? Die Türe öffnete sich und herein kam ein Mädchen. Sie hatte lange schwarze Haare, die sie in eigenartiger Weise in ein Tuch aus Seide verschlungen hatte. Sie war schön, ein schlankes, biegsames Mädchen. »Du bist Christoph, Schalom.« »Schalom?« »Schalom heißt Friede in unserer Sprache. Es soll also Friede sein mit dir.« »Den kann ich brauchen.« Dann besann er sich auf die Höflichkeit: »Friede sei auch mit dir.« Sie lächelte und sah noch schöner aus: »Ich kann den Frieden auch brauchen. Ich glaube, alle Juden können ihn jetzt brauchen.« Er schaute auf den Boden. Das Mädchen nestelte an seinen Haaren herum: »Ich heiße Esther wie meine Großtante aus Spanien, die du ja schon kennst.« Dann machte sie eine Pause und sagte leise: »Du brauchst dich nicht zu schämen. Ich halte dich für sehr mutig. Du hast sehr viel Unglück gehabt und du solltest das Geschwätz meines lieben Bruders Nachum nicht allzu ernst nehmen.« »Warum habe ich dich unten noch nicht gesehen?« Er blickte wieder auf. Sie war wohl etwas jünger als er. Sie hatte eine sehr feine Haut, wie er sie noch nie gesehen hatte, und die ihn, obwohl von einem eigenartig hellen Braun, an Elfenbein erinnerte. Ihre Augen waren groß und dunkel. Man sah ihr an, dass sie gerne lachte. Sie redete ganz unbekümmert. »Weil ich nicht da war. Ich war mit Rebekka, meiner Freundin, bei einer Nachbarin. Sie hat ein krankes Kind und ist selbst krank, da haben wir geholfen. Meine Mutter ist schon seit einigen Jahren tot.« Meine auch, dachte Christoph. »Wir sehen uns ja noch oft, ich freue mich.« Philo hatte das Haus bei den Gerbern und den Mühlen verlassen und hatte das Steingewölbe am Ufer der Ill bezogen. Er fühlte sich einsam ohne seine Zieheltern. Man kannte in Straßburg ihre Gauklertruppe. Er wusste, dass es Menschen gab, die auf sie warteten: auf ihre Künste auf dem Seil, das sie über die Straße spannten, auf das Feuerschlucken und Wahrsagen, auf das Radschlagen und Zaubern, auf das Feuerlaufen, auf die Gaukler, die den Leuten Münzen aus der Nase und den Ohren ziehen konnten und den Kindern bunte Fähnchen aus den offenen Mündern fischten, auf den Jongleur mit den vielen bunten Bällen, nämlich auf ihn, Philo. Allein wollte er das alles nicht. Das meiste konnte er sowieso nicht ohne Balthas und Regine. Andere Jongleure kamen und Philo schaute ihnen kritisch zu. Aber sie waren schwach – keiner konnte wie er mit acht Bällen jonglieren. Keiner konnte wie er beim Jonglieren mit der einen Hand die Bälle fangen und mit der anderen die Bewegungen der Bälle so geschickt über ihnen begleiten, dass es aussah, als zöge er sie an unsichtbaren Schnüren in die Höhe. Keiner konnte gleichzeitig zwei Bälle mit zwei Händen hochwerfen und dabei einen dritten zwischen beiden Händen hin- und herspielen, als wäre es nichts. Nur er allein konnte das alles. Er lebte vom Betteln. Darin war er ja ebenfalls Meister. Er hatte einige neue Masken ausprobiert und damit großen Erfolg gehabt. Das Wichtigste war, dass er sich schnell in jemand anderen verwandeln konnte. So konnte er blitzschnell verschwinden, wenn es darauf ankam, und niemand erkannte ihn wieder, wenn er sich mit unschuldiger Miene wieder zu den Leuten stellte, denen er gerade entwischt war. »Fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn«, murmelte Löb. Die drei Zahlen waren auch in der großen Stube von Löb ein Rätsel. »Die Zahlenfolge kommt in der Kabbala nicht vor. Es dürfte sich um keine Zauberei handeln.« »Das haben wir auch so gesehen«, sagte Hannah. »Aber was ist es dann?« »Was ist es dann? Was wissen wir?« Löb sprach fast mit monotoner Stimme. »Ich habe viele alte Juden befragt. Ärzte, Händler, Krämer. Ich habe auch den Rabbiner David Walch gefragt. Fast alle meinten, sie hätten die Zahlen so noch nie gehört: fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn. Aber ein Arzt sagte, er hätte die Zahlen schon gehört, wenn auch in anderer Reihenfolge.« Christoph hielt den Atem an. »Kann die Reihenfolge wichtig sein?«, fragte der alte Abraham, der in einem sehr kostbar geschnitzten Sessel saß. »Der Arzt hat gesagt, dass er nicht glaube, dass es wichtig sei. Die Zahlen könnten etwas mit der Herstellung zu tun haben. Er meint, dass die Zahlen Mengen bezeichnen, so wie er es von seinen Rezepturen her kenne. Er nimmt also drei verschiedene Stoffe an, die miteinander nach Maßgabe der Zahlen vermengt werden müssen.« »Und was ergibt sich dann?« »Er meint, es habe mit Feuer zu tun. Es gebe ein besonders schnelles und helles Feuer, wenn man diesen Stoff anzünde. Aber er wisse nicht, was man mischen müsse.« Christoph wurde es heiß – Balthas! »Der Ziehvater von Philo hat auch gesagt, dass es um Feuer geht. Aber mehr wusste er auch nicht, auch Philo nicht.« »Warum sollte man deshalb Menschen verfolgen, verleumden und umbringen, wenn es ein Arzt weiß und sogar ein Gaukler?«, sagte Elieser. »Das ergibt keinen Sinn.« »Wir wissen ja noch nichts«, sagte Abraham, »wir wissen nur, dass wegen dieser Zahlen ein Mensch umgebracht wurde und ein anderer verfolgt wird. Daraus ergibt sich der Sinn, nicht aus dem, was der Arzt und Balthas gesagt haben. Diesen Sinn müssen wir finden.« »Es geht um Geld oder um Macht. Das ist der Sinn!«, sagte Löb entschieden. »Oder um beides«, warf Hannah ein. »Das hat mein Vater auch gesagt.« »Es lässt sich schwer ein anderer Grund denken«, überlegte Elieser. »Außer ein religiöser: Wenn die Kirche hinter allem stünde – « Nachum schaute Christoph an. »Die Kirche nimmt es mit dem Leben der Menschen nicht immer genau, wenn es um den Glauben geht.« Die alte Esther blickte auch auf Christoph: »In diesem Fall – « »In diesem Fall«, redete Löb weiter, »ist es nicht die Kirche. Die würde es öffentlich machen. Sie hat es nicht nötig, ihre Anklagen heimlich zu erheben. Sie muss keine Gewichte heimlich vertauschen.« »Sie muss nicht und sie will nicht«, bestätigte Abraham mit Nachdruck, »die Kirche stellt fest, was sie für falsch hält, und verurteilt einen Ketzer öffentlich. Einmal, um die rechte Lehre zu bekräftigen, zum andern, um jeden abzuschrecken, der Zweifel haben sollte.« »Du hast gesagt, dass es sich um Kaufleute handeln müsse«, fuhr Löb zu Christoph gewandt fort. »Mein Vater hat es gesagt. Er hat sogar die Namen gewusst. Er wusste nicht, worum es ging. Aber er wusste die Namen der Männer, die ihn verfolgt haben. Er sprach von drei, fünf Kaufleuten. Er meinte, es seien drei aus Straßburg und zwei aus Stuttgart. Er wusste aber noch nicht, wie er einen Beweis finden sollte.« »Ich habe mir überlegt, welche Gruppen es in Straßburg gibt. Du musst wissen, dass es in den letzten Jahren zu harten Kämpfen um die Macht in der Stadt gekommen ist zwischen den Kaufleuten und den Handwerkern. Seitdem sitzen auch die Handwerker mit im Rat und damit im Zentrum der Macht. Es heißt, die Kaufleute wollten sich rächen. Die einflussreichste Gruppe im Rat sind drei Kaufleute, die oft zusammenstecken: Herr Dopfschütz, Herr Eisenhut und Herr Kröpfgans.« Christoph musste wegen des letzten Namens lachen, obwohl er kaum Luft bekam vor Spannung. »Aber diese Gruppe scheidet für mich sofort aus: Herr Dopfschütz ist der große Beschützer der Juden in Straßburg. Übrigens ist er ein Geschäftsfreund von mir. Ich kenne ihn gut. Seine Frau ist vor etwa vier Jahren gestorben. Er hat sich nicht mehr verheiratet. Er hat das Geschäft erst spät von seinem Vater übernommen, der ihn wohl sehr unterdrückt hat. Anfangs hatte er große Schwierigkeiten und stand mehrmals kurz vor dem Bankrott. Dann gelangen ihm ein paar geschickt eingefädelte Geschäfte und er wurde immer erfolgreicher. Er ist ehrgeizig, schlau und diplomatisch, auch hängt er seinen Mantel manchmal etwas nach dem Wind – wer tut das nicht? Aber ein Mörder ist er nicht. Ich bringe zurzeit in seinem Auftrag eine riesige Geldsumme zusammen, worüber er offen spricht. Ich habe keine Bedenken. Er ist mir immer für die Rückzahlung gut.« »Und wozu braucht er das Geld?« »Kein Kaufmann wird darüber sprechen. Er wird Ware dafür kaufen.« »Und die anderen beiden?« »Herr Eisenhut ist etwas trocken. Er ist spindeldürr, völlig phantasielos und gilt als geizig. Er ist ebenfalls sehr reich. Ein Mord passt überhaupt nicht zu ihm.« »Und Herr Kropfgans?« »Der Reichste. Ein fetter, etwas weichlicher und schwammiger Mensch, ohne eigene Ideen, der sich gerne an andere anhängt. Er ist unverheiratet und lebte bis vor einem Jahr noch bei seiner Mutter, obwohl er bald fünfzig sein muss. Die Mutter hatte wohl bis zu ihrem Tod im Geschäft die Fäden in der Hand. Ich glaube, im Grunde ist er zu gutmütig und zu feige, um ein guter Kaufmann zu sein. Seinen sehr großen Reichtum hat er von seinem Vater geerbt. Auch ihn kann man sich unmöglich als Mörder vorstellen. Ebenso wenig Herrn Schwarber und Herrn Twinger, ein Verwandter des Herrn Schwarber, beide sind auf der Seite der Juden. Herr Schwarber hat sehr großen Einfluss. Ein aufrechter, angenehmer Mensch mit schmalem Gesicht, nicht sehr groß. Alles keine Mörder.« »Und andere?« »Den Bäckermeister Wangenbaum könnte ich mir eher als Mörder vorstellen, ein breitschultriger, roher, intriganter Mensch. Sein Vater war noch ein kleiner Bäckermeister. Der Sohn hat es dann mit Intrigen in der Zunft bis zum Ratsherrn gebracht und ist heute der größte Bäcker in Straßburg. Aber ich glaube, er ist nicht mehr oft in der Backstube: Er hetzt in allen Gassen gegen die Juden. Er ist fast der Schlimmste, auf einen Toten kommt es dem nicht an.« Christoph erinnerte sich an den Bäcker mit dem mehligen Gesicht, der vom Brunnenvergiften gesprochen hatte. »Es gibt zwei, drei Kaufleute, mit denen er unter einer Decke steckt. Da ist vor allem der Herr Mühlendamm, eigentlich ein Konkurrent von ihm, auch ein Bäcker. Sie haben sich bekämpft bis aufs Messer. Aber seit einiger Zeit sind sie im Rat ein Herz und eine Seele – Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Ein dritter heißt Lobsack, ein Gerber, soviel ich weiß, von dem man wenig hört. Er ist immer derselben Meinung wie Herr Wangenbaum.« Löb seufzte. »Es gibt noch einige Gruppen im Rat, die nicht ganz so viel zu sagen haben, aber hier müssen wir ansetzen. Für Herrn Schwarber und Herrn Dopfschütz lege ich die Hand ins Feuer.« Dieses Gefühl der Ohnmacht stieg wieder auf, das Christoph in einen hilflosen Zorn versetzte. Aber er konnte nur im Hause herumlungern, wie er das bei sich nannte. Freilich, er half Löb im Kontor, er konnte Schriftstücke abschreiben oder ordnen. Er konnte selbstverständlich nicht wirklich in die Geschäfte hineinsehen, wie er das bei seinem Vater soeben begonnen hatte. Er wusste gut, dass seine Arbeit nichts wert war. Er war geduldet, er war geborgen und er fügte sich manchmal in diese Geborgenheit wie in eine Decke, in die man sich einhüllt, aber meist fühlte er sich unzufrieden und abhängig. Nur nachts konnte Christoph das Haus verlassen. Löb sah es nicht gerne, wenn ihn Philo abends abholte und die beiden durch die nächtliche Stadt streiften. Nachum wäre gerne mitgegangen, erhielt aber keine Erlaubnis. Abraham hatte durchgesetzt, dass Christoph gehen durfte. Er sollte wenigstens das Gefühl haben, dass er etwas dazu beitrug, seine Lage zu verbessern. »Es gibt Dinge, die sind wichtiger als Sicherheit.« Christoph begriff erstaunt, dass er nur hier sein konnte, weil Abraham so dachte. Die Stadt, das war ein Riesenkörper mit einem Gewirr von schmalen Gassen, über denen die schwarze Masse des Münsters hockte. Manchmal war die obere Zone des Münsters grell beleuchtet vom Mond, während unten die Nacht saß und Ratten über die Stufen huschten. Die schweren Portale waren auch nachts nicht verschlossen, und so schlichen sie sich ab und zu in den riesigen Raum, in dem sich die Säulen in die Dunkelheit hinauf verloren, von unten flackernd vom Licht unzähliger Kerzen beschienen. Auf den Altären schimmerten die goldenen Reliquienschreine. Im vorderen Querschiff gab es eine Säule, an der steinerne Propheten standen und Erzengel zum Jüngsten Gericht bliesen. Philo holte irgendwann im Münster seine Bälle hervor und ließ sie wirbeln: »Weißt du, das Jonglieren gefällt vielleicht dem lieben Gott auch. Wann bekommt er so etwas schon zu sehen? Und schließlich habe ich diese Gabe ja von ihm, und da darf er ruhig sehen, dass ich etwas daraus gemacht habe.« Manchmal, wenn es Mitternacht geschlagen hatte, hörten sie Mönchsgesänge hinter Klostermauern und hörten lange zu. Einmal sahen sie im Mondlicht wie durch einen Ausschnitt das schiefe Haus, aus dem sie der narbige Bettler vertrieben hatte. Der Giebel mit seiner düsteren Brettergalerie neigte sich in der Nacht noch gefährlicher dem Wasserspiegel zu, in dem die Leiche des Alten gefunden worden war. Am Ufer der Ill saßen in warmen Nächten oft noch Bettler und tranken. Sie waren misstrauisch, denn sie kannten Philo nur in seiner Maske als Bettler. Philo hatte aber Christoph völlig verkleidet. Er ging in Lumpen und hatte einen blutigen Verband um den Kopf gewickelt. Ein Pflaster klebte über einem Auge. »Jetzt würde dich nicht einmal deine Mutter erkennen.« Die Bettler wärmten sich unter den Brücken an kleinen Feuerchen. Junge und Alte, verwitterte Gesichter, struppige Bärte, verhungerte Gestalten. Hölzerne Schnapsflaschen kreisten. Dass es viel weniger Blinde, Krumme und Lahme gab als vor dem Münster, wunderte Christoph nicht mehr. Aber er sah Männer, denen die Wangen durchstochen oder gebrandmarkt waren. Er sah einen, der hatte die rechte Hand und das linke Bein nicht mehr. Das war ein Dieb und Wegelagerer, den sie bestraft hatten. Auch sah er einen, dem sie die Ohren abgeschnitten hatten. Christoph musste sich noch immer sehr überwinden sich zu diesen dreckigen, nach Schnaps stinkenden Menschen zu setzen. Geredet wurde über den Tod des Alten. Philo verfolgte das Thema hartnäckig. »Ich habe ihn gut gekannt. Es war ein versoffenes Schwein, aber sonst ganz in Ordnung.« Es war ein junger, sehr zerlumpter Bettler, der das sagte. Er schielte so grässlich, dass man nicht wusste, ob er einen anschaute oder nicht. »Er war selbst schuld. So besoffen, dass er in die Ill geflogen ist. Aber das passt zu ihm.« Das sagte der Dieb, dem sie die Hand und den Fuß abgehackt hatten. Auch er war halb betrunken. »Du, mach dich nicht mausig«, sagte der Schieler, »du bist in letzter Zeit ein wenig vorlaut. Du redest gefälligst, wenn du gefragt wirst.« Die anderen nickten. »Jeder weiß, dass er erstochen worden ist«, sagte ein Bettler, der offenbar nur noch einen einzigen Zahn hatte, dass man ihn kaum verstand, »und sie haben nicht herausbekommen, wer es war.« »Es ist ihnen gleichgültig. Wäre es ein Ritter oder Kaufherr gewesen, hätten sie die Folter gebraucht und den Täter schnell gehabt.« Christoph wollte etwas sagen, aber er sah den Blick von Philo und schwieg. Jetzt redete ein verwitterter alter Bettler, der einigermaßen nüchtern schien und dem die anderen Platz machten: »Er war anders an diesem Abend. Er war sehr aufgeregt. Er hatte es wichtig. Ganz anders als sonst. Er hat sich an jedem Abend in aller Stille voll laufen lassen. An diesem Abend war er anders. Wie soll ich es beschreiben? Er war wie ein Kind an Weihnachten. Er hatte etwas vor.« »Mich hat das auch gewundert, dass er mitten in der Nacht noch fortgegangen ist. Er hat gemurmelt und vor sich hin gebrabbelt, aber das hat er immer gemacht«, sagte der Dieb. »Wen interessiert, was dich wundert!« »Ist er allein gegangen oder war noch jemand bei ihm?«, fragte Philo. Der alte Bettler antwortete: »Er ging allein. Aber er kann sich weiter oben mit jemand getroffen haben, das konnte ich nicht sehen.« »Hat er etwas mitgenommen?«, fragte Christoph. »Vielleicht seine Schnapsflasche, ohne die ist er eigentlich nie gegangen«, antwortete der Alte und nahm selbst einen Schluck. »Er hatte sie ja noch in der Hand.« »War aber leer.« Ein Einäugiger zeigte seine letzten beiden Zähne. »Den Schnaps hat wohl die Ill ausgesoffen.« Die anderen grölten. Christoph sah auf einmal seinen Vater vor sich, den stolzen Mann, der zu Pferde gesessen war wie ein Ritter. Wenn er noch leben würde – der Atem stockte –, dann wäre er jetzt ein Bettler wie die! Man konnte es sich nicht vorstellen: Der Vater an einem Feuer unter einer Brücke an der Ill mit einer Schnapsflasche in der Hand, halb betrunken – »Was macht die Sache mit dem Blutgeld, mit den sechs Gulden?«, hörte er Philo sagen. »Die würde ich mir gerne verdienen. Könnt ihr mir nichts sagen?« »Du spinnst wohl! Die will sich jeder verdienen. Das ist ein Haufen Geld.« »Wenn ich ihn gesehen habe – « Sofort war es totenstill. Philo hob die Hand: »Wenn ich ihn sehe, wo hole ich dann das Blutgeld?« Der Alte erhob sich mühsam: »Der Stelzenklaus, du musst es dem Stelzenklaus sagen.« »Und wenn ich nicht teilen will?« Eisiges Schweigen. »Hör gut zu«, sagte der Einäugige gefährlich leise, »wenn du nicht teilen willst – « Er fuhr sich mit der Hand über die Kehle. »Der viele Schnaps – «, sagte Christoph angeekelt, als sie weiterzogen. »Bankrotteure, Krüppel, Verbrecher – die meisten brauchen ihn, sonst kommen die Erinnerungen. Wir Gaukler saufen nie, sonst fallen wir vom Seil und verlieren die Bälle.« Einmal kamen sie am Ende einer schwarzen Gasse, die sich platzartig erweiterte, an ein sehr hohes steinernes Haus, in dem sämtliche Fenster von innen hell leuchteten wie zu einem Fest. Selbst die Fenster im Giebel waren hell. Doch alles war tot: Keine Musik erklang, keine Stimme war zu hören. Das Haus war sehr stattlich, wie das Haus eines großen Kaufherrn. Auch waren die Fenster aus Glas. In den Giebelgeschossen standen die Holzläden offen. Philo zog sich an einem Gesimse hoch. »Was siehst du?« »Du glaubst es nicht. Das musst du dir anschauen, komm herauf.« Christoph zog sich ebenfalls an dem Gitter hoch, was viel länger dauerte als bei Philo. Schließlich kauerte er neben ihm auf einem Steingesimse und hielt mühsam das Gleichgewicht. »Mensch!« Sie sahen in einen prächtigen hohen Saal, hell wie in einer Kirche. Es gab fast keine Möbel in dem Raum, aber Kerzen, Kerzen, Kerzen standen dicht an dicht auf jeder ebenen Fläche, auf dem steinernen Fußboden, auf den Gesimsen und auf jeder Stufe einer Steintreppe im Hintergrund des Saales. Alle brannten lautlos. Niemand war zu sehen. Beide starrten auf die Flammen, die unbewegt, fast starr brannten. Es war wie Zauberei. Es war wie im Märchen. »Wir sollten hineingehen«, flüsterte Philo. »Dort hinten ist eine Türe«, antwortete Christoph mit gepresstem Atem. Das Hoftor war nur angelehnt und quietschte etwas. Sie hielten den Atem an, aber alles blieb still. Vorsichtig schlüpften sie durch die rückwärtige Türe in den großen Saal. Die Kerzen flackerten, als sie die Türe hinter sich zuzogen, beruhigten sich aber wieder und brannten still wie zuvor. Sie sprachen kein Wort. Aber als hätten sie es ausgemacht, strebten sie beide der steinernen Treppe zu, die nach oben führte. Schon die kleine Strecke zwischen Türe und Treppe war schwer zu überwinden, ohne eine der unzähligen Kerzen zu berühren, von denen der Boden und die Stufen fast bedeckt waren, Licht bei Licht. Philo hielt den Finger an die Lippen, als er auf einen schmalen Zwischenraum deutete, der einen engen Pfad auf den Stufen freiließ, und machte ein bedenkliches Gesicht. Dann hielt er den Mund an Christophs Ohr: »Oben ist jemand!« Die Kerzen heizten. Im Schacht der Wendeltreppe war ein Sog heißer Luft, der die Flammen sanft neigte, aber nicht zum Flackern brachte. Langsam, ganz langsam stiegen die beiden höher. Immer wieder blieben sie stehen und horchten, aber nichts war zu hören. Auf der Wendeltreppe konnten sie jederzeit jemand in die Arme laufen. Hier im Inneren der steinernen Schnecke waren jetzt endlich keine Kerzen mehr. Eine offene Türe führte zu einem weiteren Saal: Auch hier war alles voll brennender Kerzen, der Fußboden war bedeckt von ihnen, die Gesimse, einige Tische und Bänke, aber niemand war zu sehen, und überall die Hitze und diese große Stille. Auch im Eingang zur Wendeltreppe, die noch höher führte, wohl hinauf auf den Dachboden, ließen die Kerzen wieder einen schmalen Pfad frei. Als sie die Türe aufgemacht hatten, begannen die Flammen dreier Kerzen, welche die Treppe wohl in ihrem Inneren ausleuchten sollten, unruhig zu flackern, ein Luftstrom schien die Treppe herabzufließen. Sie betrachteten die Kerzen nachdenklich, als plötzlich die Kerzen im Saal unmittelbar bei der Türe ebenfalls wild zu flackern begannen. Da hatte Philo Christoph schon am Arm gepackt und zog ihn die Treppe hinab. So rasch ging das, dass sie ins Stolpern kamen und sich an den Wänden Hände und Ellbogen aufschürften. »Oben muss jemand eine Türe aufgemacht haben, dass ein Durchzug entstanden ist«, flüsterte Philo hastig, während sie treppab rannten. »Wenn wir unten das Flackern bemerken, so sehen sie es oben genauso, wenn unten jemand die Türe öffnet.« »Weiß ich auch! Wirf keine Kerze um!« Hörte man von oben nicht Schritte? Sie rannten vorbei an der Türe zum unteren Saal und hinaus. Hinter sich hörten sie jetzt deutlich Poltern und dumpfe Rufe. Da waren sie schon im Hof und zur Hoftüre hinaus. Sie rannten auf der Straße weiter. Dann bog Philo in einen kleinen Hof und sie hockten sich hinter ein Steingewände. Aber es war wie verhext. Alles blieb still – niemand kam. »Wem gehört das Haus?«, fragte Christoph. Philo wusste es nicht. Abends erzählte man Geschichten. Abraham redete vom Juden Isaak, der am Hofe Karls des Großen gelebt hatte: »Als Karl der Große, der die Juden sehr schätzte, eine Gesandtschaft zu Kalif Harun al-Raschid nach Bagdad schickte, um sein Kaisertum vom mächtigsten Mann des Orients bestätigen zu lassen, war auch ein Jude dabei. Er hieß Isaak und der Kaiser hatte ihn wohl vor allem seiner Gelehrsamkeit wegen mitgeschickt. Er konnte Arabisch und Persisch, Sprachen, die auch heute fast niemand im Abendland beherrscht.« »Mein Vater konnte ein paar Brocken Arabisch«, sagte Christoph. »Unterbrich Abraham nicht, das gehört sich nicht für einen Jungen«, sagte Nachum. »Es heißt auch: Sei zu Gästen so höflich wie zu einem König«, sagte die alte Esther und strich Christoph und Nachum über das Haar. »Er ist wohl auch mitgeschickt worden, weil er unterwegs viele Leute kannte. Wir Juden haben viele Verwandte auf der ganzen Welt. Der kluge Kaiser machte sich auch das zunutze. Die Gesandtschaft brach auf, sie fuhr mit Schiffen, sie wanderte mit Karawanen, sie durchquerte Meere und Wüsten. Dann war sie in Bagdad. Das ist eine herrliche Stadt mit großen Moscheen, prächtigen Kirchen, berühmten Synagogen.« »Kirchen?«, warf Christoph ein. »Kirchen bei den Ungläubigen?« »Es ist nicht überall so wie in Straßburg – «, begann Nachum. »Kalif Harun al-Raschid war ein vernünftiger Mann, Nachum, so vernünftig wie Kaiser Karl der Große.« Abrahams Stimme wurde warm: »Christen, Muslime und Juden waren gleichermaßen angesehen bei ihm. Wichtig war für ihn, was jemand für das Gemeinwesen leistete, nicht die Religion. Dabei war er ein strenggläubiger Muslime. Ich glaube, der Prophet selbst hat nicht gewollt, dass sich die Religionen gegenseitig bekämpfen. Ich glaube auch nicht, dass Jesus Christus das gewollt hätte.« Abraham schaute in die Ferne. »Nun gut – die Gesandtschaft wurde prächtig empfangen, Feste wurden gefeiert, Geschenke wurden ausgetauscht, es wurden Gespräche geführt und Isaak hat alles richtig übersetzt und nach einigen Wochen des schönsten Lebens machten sich die Gesandten daran zurückzukehren. Reich beladen waren sie. Nie war eine Karawane so reich wie die des Kaisers, als sie von Bagdad aufbrach. Das Großartigste, was sie mitbekamen, war ein weißer Elefant.« »Ein weißer Elefant?« »Der Elefant war ein Geschenk des Kaisers von Indien an den Kalifen. Ein richtiges Geschenk für einen Kaiser, denn weiße Elefanten sind das Zeichen der Herrschaft über die Welt. Er war sehr kostbar und dabei so empfindlich, dass er niemand auf sich reiten ließ. So musste er an einem Seil mitgeführt werden. Aber wie es so geht, die überaus reichen Geschenke, welche die Karawane mit sich führte, lockten Gesindel an. Die ersten Überfälle konnten von den Soldaten abgewehrt werden, die der Kalif ihnen mitgegeben hatte. Aber als man an die Grenze kam, kehrten die Soldaten um. Es kam zu Kämpfen, es gab Tote, Gesandte wurden gefangen genommen und mussten gegen kostbare Geschenke ausgetauscht werden. Die Karawane musste Futter für die Tiere kaufen. Ihr glaubt nicht, welchen ungeheuren Berg Heu allein Abulabas jeden Tag zu fressen bekommen musste.« »Abulabas?« »So hieß der weiße Elefant. Ich glaube, er war sehr verwöhnt; er ließ ja auch niemand auf sich reiten. Der Kalif wird ihn gerne losgeworden sein. Es heißt, Abulabas habe einmal aus lauter Übermut die berühmten und herrlichen Gärten des Kalifen verwüstet. Die Karawane wurde immer kleiner, die Kostbarkeiten des Kalifen schwanden wie der Schnee in der Sonne.« »Und Isaak?« »Allein der Jude Isaak wandelte unbeirrt seiner Straße. Er ging unbeachtet in einiger Entfernung hinter der Karawane und er hatte die kostbaren seidenen Gewänder und goldenen Ketten, die ihm der Kalif geschenkt hatte, nicht angezogen, sondern einen alten speckigen Kaftan. Manchmal ritt er auf einem dreckigen kleinen Esel. Er schlief auch nicht in den großen Karawansereien, wo die Räuber nach Beute Ausschau hielten, sondern er fand immer Unterkunft bei den jüdischen Brüdern am Wege. Denn wir Juden müssen einander helfen, hier und auf der ganzen Welt, sonst gehen wir zugrunde. Vor ihm zog unter Paukenschlägen, Trompeten und Schellenklang die blitzende und funkelnde Karawane auf herrlichen Araberhengsten, weißen Kamelen und edelsten Maultieren, angeschirrt mit Gold, Silber und Juwelen. Sie verlor freilich immer mehr an Glanz, so wie der Mond, wenn er voll ist, mehr und mehr schwindet, bis er zum Schluss nicht mehr zu sehen ist. Die Karawane schwand und schwand und eines Tages war Isaak allein mit Abulabas.« »Wollten die Räuber Abulabas nicht? Sie hätten ihn doch sicher teuer verkaufen können.« »Nein, Christoph. Ich denke mir, dass Abulabas nicht wollte. Und wenn ein Elefant etwas nicht will, so kann man ihn schwer dazu zwingen – und dazu noch einen weißen und so verwöhnten Elefanten wie Abulabas! Vielleicht wollten ihn aber auch die Räuber nicht haben, weil er ja sehr viel fraß, was übrigens für Isaak kein kleines Problem war. Aber die Juden halfen ihm auch hier und veranstalteten Sammlungen für Abulabas: So konnte Isaak sich und Abulabas durchfüttern den ganzen weiten Weg. Und ab und zu hat er geredet mit dem weißen Elefanten, und Abulabas hat wohl auch geredet mit ihm, und es ist anzunehmen, dass sie sich verstanden haben, die beiden.« »Und er ist nie auf ihm geritten?« »Nein, Nachum, da er sich von niemand besteigen ließ, konnte auch Isaak nicht auf ihm reiten. Er ging immer neben ihm im Staub der Straße, im Schlamm, im Dreck. Er begegnete unzähligen Völkern. Und wenn sie den Juden gesehen hätten in seinem Schmutz und seiner Niedrigkeit, hätten sie gelacht und mit Steinen nach ihm geworfen. Aber sie sahen nur den weißen Elefanten. Und wenn einer doch den Juden sah: Man wirft nicht mit Steinen auf einen, mit dem ein weißer Elefant geht.« »Ist er nicht mehr mit dem Schiff gefahren?« »Vielleicht – nein, Esther, ich glaube, das konnte er nicht – eben wegen Abulabas. Kein Schiffer hätte Abulabas auf sein Schiff genommen. Vielleicht hätte aber auch Abulabas nicht gewollt.« »Und die anderen Gesandten?« »Vergangen wie die Schönheit des Mondes! Erschlagen von Räubern und Gesindel, gestorben an Krankheiten und Seuchen, gefangen und in der Wüste verirrt und jämmerlich verdurstet oder verhungert, als Sklaven verkauft oder ausgeraubt und verzweifelt und bettelnd irgendwo umgekommen. Nicht einer von den großmächtigen, reichen, prächtigen Herren hat sein Heimatland je wieder gesehen. Nur Isaak ist zurückgekommen. Angetan mit seinem entsetzlich dreckigen schwarzen Kaftan, einen riesigen, schmierigen Lederbeutel auf dem Rücken, der so gestunken hat, dass man Isaak nicht einmal in die schmutzigste Herberge lassen wollte.« Esther lachte und hielt sich zum Spaß die Nase zu. »Und so ist er gekommen vom Zweistromland nach Ingelheim am Rhein, den Beutel auf dem Rücken. Und unter dem Staunen des ganzen kaiserlichen Hofes ist er, den weißen Elefanten Abulabas an einem Seil hinter sich führend, auf dem Kaiserhof eingezogen.« Esther klatschte in die Hände. »Und er ist hingetreten vor den großmächtigen Kaiser des Abendlandes. Der hat zuerst Abulabas angeschaut und dann Isaak. Dann kam Abulabas in die kaiserlichen Ställe und ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Den Isaak aber hat der Kaiser gefragt: ›Isaak, wo ist meine Gesandtschaft?‹ ›Tot‹, hat Isaak gesagt. ›Und was ist mit dem Kalifen Harun al-Raschid?‹ Da hat Isaak seinen schmierigen, dreckigen Beutel aufgemacht und hat Edelsteine, Gold, Perlen und viele andere Kostbarkeiten ausgepackt, wie man sie weder am Rhein noch sonst irgendwo im Abendland jemals gesehen hatte.« »Eine sehr schöne Geschichte hast du uns erzählt und ich weiß, dass sie wahr ist«, sagte Hannah. Esther drehte sich unter der Türe noch einmal um: »Ich glaube, ich träume heute Nacht von einem weißen Elefanten.« Elieser war weggereist: Er musste in der kaiserlichen Kanzlei in Prag das Bürgerrecht für sich und seine Familie kaufen. Nachum sagte zornig, dass es für einen Juden zwanzigmal so teuer sei wie für einen Christen. »Blutgeld!«, sagte er mit der steilen Falte auf der Stirn. »Blutgeld?«, mischte sich Löb ein. »Was soll das jetzt?« »Sie lassen uns zahlen, wo sie nur können«, sagte Nachum, »das Blut ihrer Kinder saufen wir, sagen sie, wir fangen ihre Kinder, schlachten sie, sagen sie, sammeln ihr Blut und trinken es und kochen unsere Speisen damit, sagen sie und bestrafen uns dafür. Dabei dürfen wir nicht einmal Fleisch in der Milch der Tiere kochen. So ist das. Wir dürfen nach unserem Gesetz gar kein Blut essen – ihr esst und trinkt Blut!« Für Christoph war es neu, dass Fleisch nicht in Milch gekocht werden durfte: »Da ist doch nichts dabei.« Löb erklärte es ihm: »Für uns Juden ist das Leben etwas Heiliges.« Christoph erinnerte sich an das Wort des alten Abraham, das ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hatte: Wer ein Menschenleben rettet, der rettet die ganze Welt. Es war zwar sehr schön für ihn, aber so recht verstanden hatte er es nicht. Löb fuhr fort: »Es ist schlimm, dass wir Tiere töten müssen, damit wir leben können. Du musst bedenken, dass unsere Väter in der Wüste jeden Tag bei ihnen waren. Sie halfen den Tiermüttern bei der Geburt des jungen Viehs, sie führten die Tiere von einem Weidegrund zum anderen, sie gaben ihnen das kostbare Wasser. Dafür geben uns die Tiere fast alles, was man zum Leben braucht: Milch und Eier, Wolle und Leder, Felle, Horn und Knochen. Die Milch ist aber ursprünglich nicht für uns bestimmt, sondern für die jungen Tiere, die Kälber und die Lämmer. Wir aber nehmen die Milch und schlachten die Lämmer und die Kälber und essen ihr Fleisch. Würdest du es nun für richtig halten, wenn man die Milch, die doch von Gott für das Leben der jungen Tiere bestimmt ist, mit ihrem Fleisch zusammen kocht, isst oder trinkt?« Christoph staunte, so hatte er das nicht gesehen. »Wir essen auch kein Blut. Es liegt kein Segen auf dem Blut als Nahrung: Die Speisen verderben schnell, die Blut enthalten, sie sind auch nicht so bekömmlich. Es ist das Leben selbst, das auf besondere Weise geschützt wird. So denken wir Juden.« Christoph spürte, was der Jude nicht sagte: Und so retten wir dir das Leben, obwohl du uns in große Gefahr bringst. Und er war ihm dankbar, dass er es nicht sagte. Als Christoph unwillkürlich seine Hand fasste und küsste, ließ es Löb zum ersten Mal geschehen. Ein kleiner Garten war hinter dem Haus. Jetzt im Sommer war er unter einem Ausschnitt des blauen Himmels eine umgrenzte Welt von Blumen zwischen Mauern und Dächern. Alles blühte durcheinander, Hummeln, Bienen, Schmetterlinge und Vögel flogen darüber hin. Christoph sah Esther, wie sie sich über eine Blüte beugte. Wie schön sie war. »Die Blume bei den Blumen.« Er fand diesen Anfang gut. »Und der Elefant im Garten!« Lachend richtete sie sich auf. »Elefant? Dann wenigstens ein weißer – « »Na, findest du das besonders gut – die Blume bei den Blumen?« Christoph wusste nicht recht, was er sagen sollte. Er hatte immer wenig Umgang mit Mädchen gehabt und fühlte sich befangen, wenn er mit einem Mädchen reden sollte. Seine Schwester war gestorben, als sie noch sehr klein war. Auch seine Mutter war gestorben. Er blickte vor sich auf den Boden. »Woran denkst du?« Esther hatte eine Blume gepflückt und betrachtete sie kritisch. »Ob die dir wohl steht?« Es war eine Mohnblume, so groß und von so dunklem Rot, wie er es noch nie gesehen hatte. Esther kam ganz nah, Christoph spürte ihren Atem und den Duft ihrer Hände, als sie versuchte die Blume in seinen Haaren festzumachen. Er war verlegen, aber er hielt ganz still. Ihre Hand berührte seine Wange. Ganz nah war ihr Gesicht. Er fühlte, wie sie in seinen Haaren herumfuhrwerkte. »Der weiße Elefant, er soll doch geschmückt werden.« Ihre schwarzen Augen waren sehr groß. »So buschige Haare, fast wie Draht«, sagte sie und lachte wieder, »ein weißer Elefant mit schwarzen Haaren – « »Und wo soll mein Rüssel sein?« »Da«, sagte sie lachend und fuhr ihm mit dem kleinen Finger die Nase abwärts. Wenn sie lachte, stand helles Wasser in ihren Augen. Seine Hände zitterten etwas, als er ihre Hand fing und sie festhielt. »Jetzt müsste der weiße Elefant nur noch ein goldenes Glöckchen haben.« »Meine Mutter hatte eines«, sagte er und fühlte sich eingehüllt wie in eine Wolke. »Als ich noch ganz klein war, durfte ich damit spielen. Es klang sehr hell, als wäre es aus Silber. Wir spielten das Feenspiel.« »Feenspiel?« Er strich sacht über ihren Handrücken: »Wenn das Glöckchen läutet, dann wird man verwandelt, in eine Blume, in ein Eichhörnchen, in einen Löwen – « »In einen weißen Elefanten. Du, die Blume fällt gleich herunter.« Sie fing sie auf: »Mit meiner Mutter war ich immer im Land des goldenen Regens.« »Land des goldenen Regens?« »Ja. Wenn es sanft regnet und du hörst genau zu, klingt es immer wieder, als fielen einzelne Goldstücke zwischen den Regentropfen. Der Regen kommt aus dem Meer, hat meine Mutter gesagt, aber der Regen, der wie Gold klingt, kommt aus dem Land des goldenen Regens. Und er bringt den Segen.« »Regnet es dort Gold?« »Nein. Das Land des goldenen Regens liegt in der Wüste. Ringsum ist alles unfruchtbar, Sand, Steine, Staub, alles verbrannt und trocken. Wo vielleicht einmal ein Fluss war, ist nur heißer Kies. Nirgendwo ist der Staub so durstig wie in dieser Wüste. Aber es regnet nie, nicht einmal in hundert Jahren.« »Und das Gold?« »Mitten in dieser Wüste liegt das Land des goldenen Regens. Kannst du dir vorstellen, wie kostbar dort der Regen ist, wo die Sonne hundertfach scheint? Aber er bringt auch viel mehr Segen. Weißt du übrigens, dass Baruch gesegnet heißt?« Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne. »Die Bäume blühen länger als hier in Straßburg, das Gras ist fetter und grüner und die Kühe geben zehnmal mehr Milch als hier. In den Wiesen wachsen Blumen, die so groß sind, dass man in ihrem Schatten gehen kann, und sie verblühen nie. Wenn eine Blüte doch welkt, so blüht daneben sogleich eine neue auf. Um eine Traube zu tragen, wie sie dort wachsen, braucht man zwei Männer. Die Früchte der Bäume sind süß, süßer als Honig. Alle haben genug, so gibt es keinen Streit. Es ist wie im Traum. Und das Wichtigste: Einmal in hundert Jahren wächst auf einem Baum, den niemand weiß, eine Frucht aus purem Gold.« »Und wer sie findet, ist hundert Jahre König im Land des Goldenen Regens und wird nie sterben«, lächelte Christoph. »Er kann sie aber nicht allein finden.« »Ein Mädchen muss ihm dabei helfen, das wird seine Königin, sie wird auch nie sterben.« Esther legte ihren Kopf an Christophs Schulter und lachte zu ihm auf. »Sonst sieht er die Frucht nicht.« »Und hält sie für einen Apfel oder eine Birne – « »Oder eine Pflaume.« »Ja, und er würde einfach weitergehen.« Esther schwieg und hielt Christoph an beiden Händen: »Meine Mutter ist schon lange tot.« »Meine auch. Ich war elf. Ich war viel allein – « Esther legte den Arm um Christoph und schaute ihm gerade in die Augen: »Jetzt bist du nicht mehr allein. Du bist mein weißer Elefant und niemand darf dir etwas tun.« Esther und Nachum gingen mit Christoph durch das Judenviertel. Zuerst hatten sie ihm am Türpfosten ihres Hauses und an anderen Türpfosten eine schmale Metallkapsel gezeigt, die darin eingefügt war. »Man nennt es Mesusa, darin ist ein Pergamentstreifen für das Haus und seine Bewohner eingelassen.« »Also auch für dich«, fügte Esther hinzu. »Es ist in hebräischer Sprache und in hebräischer Schrift«, sagte Nachum. Esther ergänzte: »Du sollst den Herrn deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.« Sie sahen die Synagoge mit dem Anbau für die Frauen, die von den Männern getrennt waren. »Bei uns ist das genauso«, sagte Christoph, »eine Seite in der Kirche ist für die Männer, die andere für die Frauen.« »Früher waren die Synagogen die höchsten Gebäude in der Stadt, heute müssen das die Kirchen sein.« Nachum verzog den Mund. Warum sollen es nicht die Kirchen sein? Wir sind doch mehr, dachte Christoph. Aber er war beeindruckt, wie sauber hier alles war. Viele Häuser waren aus Stein und alle waren mit Ziegeln gedeckt. Sie zeigten ihm in der Synagoge den kunstvollen Thoraschrein. »Dahinter ist die Thorarolle. Sie ist so heilig, dass ihre Schrift nicht mehr mit der Hand berührt werden darf, sobald sie fertig geschrieben ist. Sie ist mit zwei schönen Kronen verschlossen. Du solltest einmal sehen, wie kunstvoll die sind?«, sagte Esther. »Ein jüdischer Goldschmied hat sie gemacht«, sagte Nachum bitter, »vor über zweihundert Jahren. Heute darf kein Jude mehr ein Handwerk ausüben oder Bauer sein – der Papst hat es verboten.« Das hatte Christoph nicht gewusst. Sie zeigten ihm die Schule: »Sie heißt Cheder. Jeder Jude kann lesen und schreiben. Bei euch können das nur die Mönche«, sagte Nachum stolz, »schon als kleines Kind wird man vom Vater hineingetragen.« Esther lachte: »Er hat erzählt, wie du dabei gebrüllt hast. Weißt du«, sagte sie zu Christoph, »man bekommt eine Schiefertafel, die mit Honig bestrichen ist, zum Ablecken. Aber die konnte ihn auch nicht beruhigen.« Nachum knurrte etwas Unverständliches. Es gab ein Gemeindebackhaus für die ungesäuerten Brote, die man am Passahfest aß: »Gleichzeitig mit dem Osterfest der Christen.« Christoph wunderte sich, dass am Brunnen mitten im Viertel der Juden eine Wache stand. »Damit keine kleinen Kinder hineinfallen«, erklärte Esther. Und Nachum ergänzte: »Damit kein Dreck hineingeschmissen wird wie bei euch!« Drei Bäder gab es. Zwei Warmbäder, eines für Männer, das er schon kannte und in dem er schon mehrmals gewesen war, und eines für Frauen, und dazu die Mikwe, die tief in die Erde gegraben ist. »Wo tief unter den Häusern und Menschen das klarste Wasser fließt, das Gott den Menschen schenkt«, erklärte Esther. »Warum verschiedene Bäder? Man wird doch in einem sauber?« »Sauber und rein ist eben nicht dasselbe«, warf Nachum verächtlich hin, »ihr Christen geht zweimal, viermal, manche auch viel öfter im Jahr in das Badehaus, wo ihr in einem Bottich sitzt und das Wasser verdreckt, in dem ihr sauber werden wollt. Dann seid ihr vielleicht gewaschen, aber nicht einmal sauber.« Er hatte die Mundwinkel nach unten gezogen. Esther hatte ihrem Bruder die Hand auf den Arm gelegt: »In der Mikwe wird man nicht sauber, dort tief unten im Kristall des Erdgrundes wird man rein.« »Sauber? Rein?« Christoph war verwirrt. »Sauber ist man vor den Menschen«, sagte Esther, »und rein ist man vor Gott.« |
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