"Schwarzer Valentinstag" - читать интересную книгу автора (Bentele Günther)MORD»Bist du sichert Kann man sich darauf verlassen?« Der Herr stampfte durch den Raum. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und kritzelte mit einem Stück Kreide auf einem Brett herum, das an der Wand befestigt war. Der kleine dickliche Mann vor ihm mit den runden Augen war sich seiner Sache sicher: »Er war es. Die Beschreibung stimmt genau: Schwarze buschige Haare, die er allerdings in der Zwischenzeit geschoren hat, was ich bestätigen kann. Dazu blaue Augen, was nicht häufig ist. Und: Er hat sich nicht wie ein Bettler benommen. Es war auffällig. Auch das kann ich bestätigen.« »Du hast ihn schon einmal laufen lassen!« »Ja, aber jetzt haben wir ihn.« »Und? – Haben wir ihn, haben wir ihn! Was ist mit ihm geschehen. Hat er ihn – « »Ja, mein Gewährsmann hat ihn erstochen und in die Ill gestoßen, nachts.« »Der Stelzenklaus?« »Nein, ein anderer, er ist zu mir gekommen – einige Bettler kennen mich.« »Und wo?« »Er wurde bei den gedeckten Brücken an einem Fischerpfahl angeschwemmt.« »Und wer bürgt mir für die Wahrheit?« »Ich, wenn der Herr meine Stimme – « »Richtig! Du bürgst, in jedem Sinne des Wortes. Das kann ich dir sagen! Wenn ich erfahre, dass der Kerl noch lebt… Und merk dir: Ich erwische dich überall. So weit kannst du gar nicht laufen, dass ich dich nicht erwische! Hast du das verstanden?« »Ja, Herr. Aber es ist so. Ich weiß es wirklich. Vor ein paar Wochen lag auch ein toter Bettler in der Ill.« »Gut.« »Und, wenn ich den Herrn bitten dürfte, das Geld! Es war Lohn ausgemacht. Ich habe ja auf des Herrn Befehl Geld ausgesetzt. Mein Gewährsmann will es von mir. Und ich habe auch Auslagen gehabt. Wenn ich also bitten dürfte – « »Wie viel?« »Sechs Gulden, wenn ich den Herrn erinnern darf, sechs Gulden, zwei für mich, drei für den Gewährsmann, einen für den Stelzenklaus, dass er schweigt.« »Zu viel!« »Es war so vereinbart – « »Vereinbart! Gesindel.« Der Kaufherr wischte mit einem Ruck das Gekritzel von der Tafel. »Herr, wenn ich bitten darf, ich muss den Gewährsmann bezahlen und ich hatte Auslagen.« »Gut, drei Gulden. Das ist mehr als genug für solches Pack, wie ihr es seid.« Ergriff in seine Geldtasche, die an seinem kostbaren Gürtel befestigt war, holte drei Gulden heraus und warf sie dem Mann vor die Füße: »Zwei für ihn und einen für dich. Das reicht! Dem Stelzenklaus drohst du. Und jetzt pack dich. Ich habe scharfe Hunde im Hof.« Ein Fischer hatte ihn gefunden. Früh am Morgen hing er angetrieben zwischen Netzen an einem Pfahl in der Ill. Philo erfuhr es von einem Bettler: »Schon der zweite diesen Sommer. Man ist seines Lebens nicht mehr sicher hier. Da brauchen wir nicht mehr auf die Pest zu warten.« Er bekreuzigte sich. »Wo?« »Drüben, ziemlich weit oberhalb des ersten Mühleneinlaufs, an einem Pfahl bei den Fischernetzen.« »Wieder ein Bettler?« »Ich habe ihn nicht gesehen.« »Ertrunken?« »Nein, sie sagen, von hinten erstochen und ins Wasser geschmissen.« Ein anderer Bettler kam hinzu: »Das war’s dann. Vorbei mit dem großen Geld.« »Das große Geld?«, fragte Philo verwundert. »Welches Geld denn?« »Welches Geld! Frag nicht so blöd. Die sechzig Gulden.« »Welche sechzig Gulden?« Philo und der erste Bettler sprachen gleichzeitig. »Das Geld für den gesuchten Mörder, den Jungen. Fragt nicht so blöd.« Philo krampfte die Hände zusammen: »Nicht sechzig – meinst du sechs Gulden?« »Sechzig oder sechs. Was macht das für einen Unterschied!« Es war ein trüber Morgen. Wie Rauch trieben Dunstschwaden über dem Fluss. »Wo ist er?« Philos Mund war trocken. »Sie haben ihn gleich weggebracht. Ich glaube nicht, dass sie ihn auf den Friedhof bringen – eher unter den Galgen oder auf den Schindanger.« »Wo hat man ihn denn genau gefunden?« Philo atmete hastig. Freilich – konnte man diesen Kerl ernst nehmen, der nicht einmal den Unterschied zwischen sechzig und sechs wusste? »Kannst du mir die Stelle zeigen?«, fragte er den ersten Bettler. Der Schweiß brach ihm aus. »Warum willst du denn das wissen? Dem kann niemand mehr helfen.« »Doch, seiner Seele. Ich will für ihn beten. Es ist sehr verdienstvoll. Vielleicht habe ich ihn gekannt.« Sein Herz schlug heftig. Die Ill stand ziemlich hoch, so schauten nur die Köpfe der Pfähle aus der glatt ziehenden schwarzen Fläche heraus. »Hier war es.« Der Bettler zeigte auf einen Pfahl in Ufernähe. Über einige Pfähle waren Bohlen gelegt, damit die Fischer an ihre Reusen herankamen. Netze hingen im Wasser. Einige Fischer standen am Uferweg und zeigten auf den Fluss hinaus. »Wo ist er wohl erstochen worden?« »Wolltest du nicht für ihn beten?« Der Bettler sah ihn von der Seite an. »Ja, aber ich glaube, das ist am wirkungsvollsten dort, wo er ums Leben gekommen ist.« »Das glaube ich auch. Aber war das nicht hier?« »Im Fluss? Auf einem Pfahl? Er muss irgendwo ins Wasser geworfen worden sein. Von dort muss die Ill ihn abwärts an den Pfahl getrieben haben.« Sie schauten flussaufwärts. Der Nebel lagerte dort dichter über dem Fluss. Aus den grauen Schwaden hob sich die dunkle Masse der Stadtmauer mit einigen hohen Türmen ab, die dort oben mit langen Brücken die Arme der Ill überquerte. Eine Krähe flog krächzend über die Gedeckten Brücken hinweg, wie man diese Befestigungen am Einlauf der Ill in die Stadt nannte. Die Arme, in die sich der Fluss vor den Mauern der Stadt teilte, bildeten zuerst einige baumbestandene Inseln und vereinigten sich gleich nach dem Einlauf zu einem kleinen See. Von einer der Inseln konnte der Tote nicht hergeschwemmt worden sein. Philo war es übel. Es konnte einfach nicht sein. Christoph war doch wohl behütet bei den Juden! Was wollte er nachts bei den Gedeckten Brücken? Er hätte es ihm gesagt. Er kannte ja sein Versteck ganz in der Nähe. Aber Philo wusste von keinem anderen Blutgeld, das so hoch war. Die Bettler redeten von nichts anderem – reich werden! Oder sollte es doch noch ein anderes Blutgeld geben? Er musste den Bettler zum Reden bringen, er musste sich die Beschreibung des Ermordeten sagen lassen. »He, betest du schon?« »Das Blutgeld. Wie sah denn der Tote aus?« »Das weiß doch jeder. Mist, dass man es sich jetzt nicht mehr verdienen kann, glaubst du, der Stelzenklaus weiß davon?« »Was weiß ich. Weißt du, ich glaube, beim Beten für einen Toten muss man sich den Verstorbenen genau vorstellen und dann sein Vaterunser für ihn sprechen.« »Wenn du ihn doch gekannt hast. Was fragst du dann, wie er ausgesehen hat?« »Vielleicht habe ich ihn gekannt, vielleicht auch nicht. Weißt du nicht, dass es nichts Verdienstvolleres gibt als ein Gebet für einen Verstorbenen, den man nicht gekannt hat? Vor allem für Ermordete, die ja ohne Reue gestorben sind und für lange, lange Zeit in das Fegefeuer kommen.« Der Bettler war hartnäckig: »Aber jeder kennt die Beschreibung.« »Du bist ein Blödmann, wie kann ich mir die Beschreibung vorsagen und gleichzeitig beten?« »Und du meinst, wir sollen dorthin gehen, wo er in das Wasser geworfen worden ist?« »Es muss an der Gedeckten Brücke gewesen sein. Zwischen der Befestigung und dem Pfahl, an dem er hängen geblieben ist, gibt es nur glattes Wasser, kein Hindernis, und die Strömung kommt von dort.« »Du bist sehr gescheit«, sagte der Bettler und schaute ihn bewundernd an. »Komm, vielleicht finden wir noch Spuren.« Unter dem Dach der Gedeckten Brücken war es dunkel. Unter ihnen zog schwarz der Fluss, der hier sehr breit war. Vom Fluss herauf roch es nach Wasser, Teer und Rauch. Ihre Schritte klangen hohl. Über ihnen im Gebälk hingen in Büscheln Fledermäuse. Hier im Wehrgang stank es nach Moder und Kot. Taubendreck, vermischt mit dem Dreck der Fledermäuse, knirschte unter ihren Füßen. Philo beobachtete scharf das Holzgeländer, an dem sie auf der Innenseite des Wehrgangs entlanggingen. Er klammerte sich mit fiebrigen Händen an den Brüstungsbalken und versuchte abzuschätzen, von wo aus die Leiche an den Pfahl getrieben werden müsste. Er las einige Strohhalme vom Boden auf, die aus einem Vogelnest gefallen waren, und warf sie in den Fluss: Wo trieben sie hin? – Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Und wenn er nun auf einem Boot ermordet worden war? – »Und warum meinst du, dass er nicht dort ermordet worden ist, wo man ihn gefunden hat?« »Ich habe es schon einmal gesagt – im Fluss, an einem Pfahl.« »Stimmt. Du bist wirklich sehr schlau.« Dort drüben, zehn, fünfzehn Schritte weiter könnte es sein, und da: Diese dunklen Flecken – jawohl, das war Blut! Philo steckte einen Finger in den Mund und rieb mit dem nassen Finger über den dunklen Fleck, der sich über die Brüstung ausbreitete: Der Finger färbte sich rot. Er hielt ihn dem Bettler vor die Nase: »Blut! Hier war es. Hier wollen wir beten.« Der andere hatte die Augen weit aufgerissen: »Woher weißt du das alles? Oder warst du – « »Wir haben doch gemeinsam nachgedacht. Wir haben doch die Stelle gemeinsam gefunden. Du warst doch dabei.« Der Brüstungsbalken war voller Staub, bei den Blutflecken war kein Staub. Der andere hatte sich niedergekniet. Jetzt sah Philo die Flecken auch auf den Bohlen, auf denen sie standen. Hier war der Staub weggescharrt. Es gab keinen Zweifel. »Vater unser«, begann der andere. »Das gilt nicht«, fiel ihm Philo ins Wort, »ich hatte den Einfall und ohne mich hätten wir die Stelle nicht gefunden, obwohl du eine große Hilfe warst. Aber ich darf zuerst beten, das ist noch verdienstvoller. Und du sagst langsam, während ich bete, wie der Tote ausgesehen hat.« Philo kniete und sagte laut das Vaterunser. »Er war ziemlich groß für sein Alter, etwa vierzehn Jahre alt, mager wie ein Bettler, hatte aber gute Schuhe an, und er hatte buschige schwarze Haare und blaue Augen.« Das Dach der Gedeckten Brücken senkte sich herab. »Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm.« Philo brachte die vertrauten Worte kaum heraus. Er hatte die Hände zusammengepresst und betete im Stillen ganz anders. Aber sein Gebet hätte der Bettler nicht verstanden. Der Bettler verdiente während der ganzen nächsten Woche viel Geld, indem er Menschen zu den Blutflecken führte und mit beiden Händen erzählte, wie er sie gefunden hatte. Schon nach einem Tag kam Philo in der Erzählung nicht mehr vor. Es war ja leicht festzustellen, ob Christoph noch lebte. Aber das Viertel der Juden war weit weg, genau am anderen Ende der Stadt, hinter dem Münster. Er hätte hinrennen können, aber in der Zwischenzeit gingen hier vielleicht wichtige Spuren verloren. Und – es konnte nicht Christoph sein! Je mehr er nach dem ersten Schreck nachdachte, desto sicherer wurde er. Aber was bedeutete das alles? Und wenn er es doch war? Stadtsoldaten kamen wie vor einigen Wochen in einer Kette die Ill herauf. Sie stocherten mit ihren Spießen in der Böschung zwischen Mädesüß und Blutweiderich und scheuchten die Ratten in wimmelnden Schwärmen auf. »Wo ist der Tote? Kann man ihn sehen?« Philo sah jetzt nicht mehr wie ein Bettler aus. Er war in seinem Gewölbe gewesen und sah aus wie der Sohn eines kleinen Handwerkers, eines der vielen Flickschuster, die illabwärts wohnten. »Weshalb?« Der dicke Stadtsoldat stieß mit seinem Spieß einen Stein in den Fluss. Philo schluchzte herzzerbrechend, dicke Tränen liefen ihm über die Backen: »Es ist vielleicht mein großer Bruder. Er war betrunken und er ist seit gestern nicht mehr nach Hause gekommen. Wir suchen ihn alle.« Er merkte, dass er nun wirklich weinte. »Wir haben ihn nicht gesehen, sie haben ihn weggebracht.« Dem Soldaten war Philo sichtlich lästig. »Wir müssen hier nach Spuren suchen.« Er schaute kaum auf. »Aber wir haben eine Beschreibung von ihm: Er ist groß, dünn und hat schwarze buschige Haare und blaue Augen. Das sieht man nicht oft. Na, ist er es?«, fragte er gleichgültig – »Weißt du genau, dass der Tote so aussieht?« Der Soldat fuhr hoch: »Na, du musst doch wissen, wie dein Bruder aussieht. Ist er es oder ist er es nicht?« So kam er nicht weiter. Er musste den Fischer suchen, der den Toten gefunden hatte. Am besten stellte man sich dumm. Die Fragerei, das merkte er, konnte gefährlich werden. Er musste wieder auf die andere Seite der Ill und weit hinunter an das Ende der Stadt in den Fischerstaden. Unterwegs überlegte er fieberhaft: Wenn es sich bei dem Toten um Christoph handelte – besser nicht daran denken. Wenn er es aber nicht war, weshalb gaben dann alle dem Ermordeten Christophs Beschreibung? – Wer hatte denn ein Interesse zu verbreiten, dass Christoph tot war? – Seine Verfolger doch am allerwenigsten! Sie wollten ja, dass man ihn fand, deshalb hatten sie ja das Blutgeld ausgesetzt! Vielleicht war er es doch – Er rannte über die kleinen Stege zwischen den Mühlen und dem Viertel der Gerber. Dort drüben, er sah es aus den Augenwinkeln, neigte sich krumm und grau ihre erste Behausung über das Wasser – der erste Ermordete war unmittelbar in ihrer Nähe gefunden worden. Der erste Mord bekam ein ganz anderes Gesicht. Panik stieg in ihm hoch, er erstickte fast – er rannte und rannte. In das Judenviertel! Vorbei an der Thomaskirche, vorbei am Münster, die Spießgasse hoch – Eine Magd, die er nicht kannte, öffnete. Er dürfe nicht hereinkommen, sagte sie und wirkte verlegen. Philo hielt sich keuchend am Türpfosten fest. »Und Christoph, kann er herauskommen?« »Nicht da – « Sie schaute an ihm vorbei. Er drückte sie auf die Seite und rannte hinein. »Weißt du, dass du heute Nacht ermordet worden bist?« Es war Christoph, er war es wirklich und leibhaftig und wie immer. Nachum kam, Esther schaute aus ihrem Zimmer und riss die Augen weit auf, als Philo alles berichtete. »Zwei Tote in den letzten vier Wochen, beide in die Ill geworfen! Beide nicht weit von unserer ersten Behausung«, schloss Philo mit ungewöhnlich leiser Stimme. »Zufall oder kein Zufall?«, fragte Christoph. »Es gibt keinen Zufall, nicht einmal bei euch Christen«, sagte Nachum mit Nachdruck. »Darum geht es nicht«, erwiderte Christoph. »Es geht darum, ob zwischen den beiden Morden ein Zusammenhang besteht.« Philo hielt seine Bälle in der Hand. »Man müsste wissen, wer den Leuten die falsche Beschreibung des Toten gegeben hat. Bis jetzt hatte ich noch keine Möglichkeit, das herauszufinden.« »Die Wahrheit liegt im Fischerviertel und du wirst hinmüssen. Schade, dass ich nicht mitkann.« »Du kannst nicht, denn du siehst noch genauso aus wie vor deiner Ermordung«, grinste Philo schon wieder. »Deshalb musst du hier bleiben«, sagte Esther mit fast bittender Stimme, »aber wir könnten doch mit, sechs Augen sehen mehr als zwei.« »Und ein einziges Hirn weiß, dass heute Sabbat ist und wir nicht so weit gehen dürfen, aber wer weiß, ob du überhaupt ein Hirn hast!« Jetzt war das seltsame Verhalten der Magd geklärt. Sabbat – Juden durften nicht arbeiten, sogar die Anzahl der Schritte war festgelegt. Die Magd war Christin, sie kochte das Essen an diesem Tag und sie war verlegen, da sie immer öfter beschimpft wurde, weil sie bei Juden arbeitete. Philo ging wieder das Illufer aufwärts. Zuerst wollte er noch einmal zu der Stelle, an der dieser geheimnisvolle Tote gefunden worden war. Dort konnte er am ehesten einen Zeugen finden. Erst fühlte er sich wie neugeboren. Dann sagte er sich, dass es keinen Grund gab, sich übermäßig zu freuen. Die Morde hingen gefährlich eng mit Christoph zusammen – so rätselhaft dieser Zusammenhang auch war. Morde waren selten in Straßburg. Zwar gab es gelegentlich Tote bei Schlägereien, gerade unter Bettlern. Aber das geschah fast immer in aller Öffentlichkeit. Natürlich fand man hin und wieder Tote in den Gassen der Stadt. Aber konnte es Zufall sein, dass innerhalb weniger Wochen gleich zwei Ermordete in ihrer Nähe in der Ill schwammen? – Und einer der beiden wurde so beschrieben wie Christoph! Er ging langsamer. Der Stelzenklaus! Wenn der Stelzenklaus einen Bettler umgebracht hätte – es wäre ja nicht der erste – und sich das Blutgeld für Christoph holen wollte, dann müsste er das Opfer wie Christoph beschreiben! Und die Bettler konnte er leicht unter Druck setzen. Nun, für Christoph wäre diese Entwicklung sehr gut. Den Verfolgern gälte er damit als tot! Philo war stehen geblieben und ließ seine Bälle in der Luft tanzen. Stelzenklaus war der Mörder – es konnte gar kein anderer sein. Es gab einen Sinn. Es war alles klar. Viele Männer, den hohen Stiefeln nach Fischer, standen mit den Händen fuchtelnd am Ufer bei dem Pfahl, an dem der Tote angeschwemmt worden war. Auch einige Jungen jeden Alters standen dabei. Philo stellte sich dazu. »Es ist eine Sauerei, Menschen umbringen und ins Wasser werfen.« »Erwischen sollte man den Kerl und an den Galgen mit ihm.« »Ersäufen im Käfig an der Schindbrücke!« »Das sind diese Bettler.« »Eine Landplage. Das ganze Ufer der Ill ist voller Bettler. Sie sind auch nachts da.« »Die hocken herum wie Ungeziefer!« »Neulich hat doch tatsächlich einer an meinen Netzen herumgemacht.« »Sie gehen an die Reusen und stehlen die Aale.« »Sie geben zu viele Bettelbriefe aus. Der Rat ist zu gutmütig mit dem Gesindel. Man müsste viel härter durchgreifen.« »Rausschmeißen das Pack, gleich ob mit oder ohne Bettelbrief!« »Wer hat den Toten denn gesehen?«, meldete sich jetzt Philo zu Wort. Vielleicht konnte man vom Opfer auf den Täter schließen und den Stelzenklaus überführen. Die Männer redeten durcheinander. Ein Junge, etwas jünger als Philo, sagte mit krächzender Stimme: »Ich habe ihn gesehen.« An ihn wandte sich Philo: »Wie sah er denn aus, hast du ihn wirklich gesehen?« »Wie eine Leiche eben aussieht, die du aus dem Wasser ziehst. Patschnass – kein schöner Anblick, kann ich dir sagen.« »Ich meine, wie sah er aus? Ich meine, als er noch gelebt hat. Du hast ihn doch gesehen.« »Ich habe ihn nicht gesehen, als er noch gelebt hat.« »Ja, aber der Tote – was hatte er denn zum Beispiel für Haare? Wie alt war er?« »Meinst du, ich hätte ihn fragen können, wie alt er ist? – Du fragst blödes Zeug. Wozu willst du das überhaupt wissen?« »Warum will ich das wissen! Weil man wissen muss, wer der Ermordete ist, wenn man den Mörder finden will.« Ein anderer Junge redete dazwischen: »Das weiß doch jeder, wie er ausgesehen hat: Schwarze buschige Haare und blaue Augen hat er gehabt. Es war ein Junge. Ziemlich groß.« »Hast du ihn gesehen?« »Nein, aber jeder kann dir das sagen, er war ein Mörder und ein Preis war auf seinen Kopf ausgesetzt.« »Dann bekommt also einer jetzt das Blutgeld?«, sagte Philo. Oder er hat es schon bekommen, dachte er, der Stelzenklaus würde das nicht an die große Glocke hängen. Jetzt mischte sich ein Mann ein, ein ernster Fischer mit einem weißen Bart: »Es war kein Junge, er hatte auch keine schwarzen Haare, sondern graue. Es war ein alter Mann, groß, dürr, mit einer weißen Narbe im Gesicht.« Der krumme Bettler, der uns verfolgt hat!, dachte Philo überrascht. Es passte – der Stelzenklaus! »Bist du sicher, hast du ihn gesehen?« »Gesehen habe ich ihn nicht, aber der Fischerhans hat es gesagt, und der hat es vom Fischeranton, der ihn gefunden hat. Er war dürr und sehr lang. Sie haben ihn herausgezogen und umgedreht, da haben sie den Einstich gesehen. Der Lump hat ihn von hinten erstochen.« »Wo ist denn der Fischeranton, kann man mit ihm reden?« »Ja, der ist nicht da. Den haben die Soldaten mitgenommen. Er muss auf der Pfalz aussagen, wie er ihn gefunden hat.« Pfalz nannten die Straßburger ihr Rathaus. »Und du bist sicher, dass es kein Junge, sondern ein Mann mit grauen Haaren war?« »Ein alter versoffener Bettler, um den ist es nicht schade. Und Blutgeld gibt es für den auch keines.« Er musste mit dem Fischeranton reden. Der hatte den Toten ja wirklich gesehen. Er hatte zuerst auch die richtige Beschreibung von ihm gegeben, als er einem anderen Fischer berichtet hatte. Aber dann kam die falsche Beschreibung in Umlauf – offenbar konnte der Stelzenklaus auch die Fischer unter Druck setzen! Aber dennoch: Da Christoph tatsächlich lebte, war die Beschreibung, wie sie verbreitet wurde, der beste Schutz für ihn! Der Sonntag kam mit Dunst und Nebel in der Frühe und dann stach die Sonne durch weiße Schleier noch drückender als am Vortag. Philo wurde ein Bettler: Vielleicht verrät sich der Stelzenklaus! Vor dem Münsterportal war Lärm: »Zwei Tote, und was haben wir davon? Sie bringen den um, der uns reich machen konnte, und das ohne uns!« Aus dem Münster hörte man Gesang. Der Stelzenklaus saß an seinem gewohnten Platz mit mürrischem Gesicht. Wenn er der Mörder war und das Geld bekommen hatte, war er jedenfalls ein guter Schauspieler! Aber wer sollte es sonst getan haben? »Er war da, schon vor vielen, vielen Wochen. Sogar hier auf der Münstertreppe, er hat gebettelt. Aber damals wusste ich von keinem Blutgeld. Schade!« Philo, der hier jeden Bettler kannte, wusste, dass es stimmte, was die dicke Trine sagte. »Und ich sage, sie haben ihn erwischt und jetzt wollen sie das Blutgeld nicht bezahlen, deshalb haben sie ihn ermordet und in die Ill geschmissen.« Eine seltsame Meinung, fand Philo. »Unsinn, es war gar nicht der Gesuchte. Es war ein ganz anderer. Ich habe gehört, wie es ein Fischer gesagt hat. Es war ein alter Mann und kein Junge. Leider habe ich nicht mehr gehört, wie er weiter aussah. Der Gesuchte ist schon lange tot, niemand hat ihn gesehen, so gut kann man sich gar nicht verstecken. Also – « Das sagte ein Bettler nahe beim Stelzenklaus ganz unbekümmert und so laut, dass es dieser hören musste. Und der sah überrascht und eher ungläubig aus. Philo war enttäuscht: Der Stelzenklaus war es nicht! Der erhob sich jetzt, er stützte sich mühsam auf zwei Krücken. Er hatte keinen Zahn im Mund und sein Bart war fleckig und gelblich. Er sprach mit dröhnender Bassstimme, die man trotz des Straßenlärms und des Lärms der Bettler bestimmt einige Gassen weiter hörte: »Das waren die Juden!« Philo stockte der Atem. Es wurde still. »Ich weiß es!« »Hör mal, warst du dabei?« Der riesenhafte Bettler war jetzt ganz aufgerichtet vor dem Münsterportal. Sicher war es nur Philo, der bemerkte, dass der Gelähmte ganz frei, ohne Krücken stand. Er hatte die Arme erhoben, die Krücken lehnten an seinem gewaltigen Bauch und schienen ihn wie einen Baum zu stützen. »Es waren die Juden! Sie haben unseren Herrn Jesus ans Kreuz geschlagen. Sie arbeiten nicht wie wir, sie treiben Wucher. Wer hat schon einen Juden als Bauern gesehen oder als Handwerker? Niemand. Sie können es nicht. Es ist ihnen nicht gegeben. Gott hat sie damit bestraft.« Er spuckte aus. »Sie haben den Jungen umgebracht, sie haben das Geld kassiert. Und sie haben noch einen weiteren Mord begangen, damit es nicht herauskommt. Und das Blut der ermordeten Christen haben sie gesoffen, wie sie es immer machen.« Das war dumm, fand Philo, dumm und gefährlich, wie jede Dummheit gefährlich ist! Man hätte lachen können, so dumm war es. Du ärgerst dich über das entgangene Geld, Stelzenklaus, und die Juden sollen es büßen! Man sollte dir deine Stelzen in das fette Gesicht schlagen. Die Sonne hatte den Nebel längst aufgelöst, die Gassen, die zur Ill hinunterführten, lagen im Sonnenlicht. Aber sie stach immer unerträglicher. Es wird wohl ein Gewitter geben, dachte Philo. Er musste endlich mit dem Mann reden, der den Toten an dem Fischerpfahl gefunden hatte. Aber als er am Fischerstaden nach dem Haus des Fischeranton fragte, bekam er keine richtigen Antworten. Was ihn der Fischeranton angehe? Was er von ihm wolle? Der sei nicht zu sprechen, für niemand. Die Häuser hier unten am Auslauf der Ill aus der Stadt waren niedrig, aus Holz und Lehm und mit Stroh gedeckt. Eines sah aus wie das andere. Die Sonne war grell, Stechmücken flogen Angriffe auf Philos Augen. Das Ufer war bedeckt von Fischabfällen, in denen immer wieder eine Ratte huschte, und es stank hier fast schlimmer als im Viertel der Gerber. In einem Busch vollführten Spatzen einen Höllenlärm. Es war unangenehm, hier zu stehen und nicht zu wissen, wie es weitergehen sollte. Die weißen Schleier am Himmel hatten sich wie ein Geschwür zusammengezogen, langsam stieg eine dunkle Wand gegen die Sonne auf. Weshalb wurde der Tote beschrieben wie Christoph? Und von wem? »He du, was hast du hier zu suchen?« Eine Frau hatte die Arme in die Seite gestemmt. »Ich suche das Haus des Fischeranton. Ich muss ihm etwas bestellen. Es ist sehr eilig und sehr wichtig. Wo wohnt er denn?« Er zermarterte sich das Gehirn, was er Wichtiges mitteilen könne, als er von der Frau zu dem Haus geführt wurde. »Was ist denn? Ist es wieder von der Stadt? Oder ist es von den Halunken, die ihn verprügelt haben?« Ihre Stimme war drohend geworden. Philo hielt mit einem Ruck an: »Verprügelt haben?« »Weißt du das nicht – jeder weiß es!« »Wer hat ihn denn verprügelt?« »Das weiß ich nicht.« »Wann war es? – Wo war es?« »Er ist gestern von den Stadtsoldaten mitgenommen worden. So. Und als er wieder nach Hause ging, da oben bei den halb fertigen Schiffen, da ist ein dichtes Gestrüpp, da haben sie ihn verprügelt. Sein rechtes Auge sieht schlimm aus. Hoffentlich bleibt da nichts. Oder war es das linke? Hier sind wir. Ich glaube, es war doch das rechte.« »Es ist besser, ich sage es ihm allein«, sagte Philo schnell und schob einfach den Holzriegel auf. Was sage ich ihm eigentlich? Hinter der Türe, die mit einem unangenehmen Knarren aufging, hing etwas wie ein Sack. Philo musste die Augen erst an das trübe Licht gewöhnen. Ein Fischernetz hing da, aber der Stuhl vor dem Tisch war leer und das Strohbett war leer. Das Stübchen war winzig. Ein kleiner Herd qualmte. Fischerstiefel und viele Geräte, die er nicht kannte, standen daneben. Draußen war die Sonne verschwunden. Einige Kinder sprangen um die Ecke und starrten ihn an, als er aus der Türe trat. Sie waren noch klein, vielleicht drei, manche fünf. »Was machst du da? Du wohnst hier gar nicht, hier wohnt doch der Fischeranton«, fragte der älteste Junge mit großen Augen. »Ich suche den Fischeranton, wisst ihr, wo ich ihn finden kann?« »Das dürfen wir nicht sagen, unser Vater hat es verboten.« »Warum dürft ihr das nicht sagen?« »Wir dürfen gar nicht mit dir reden!« »Auch nicht für einen Dreier?« »Du hast ja gar keinen Dreier.« »Ich nicht, aber ich sehe, dass du einen in der Nase hast.« »Einen Dreier in der Nase?« »In der Nase!« »Du spinnst.« Philo ging lächelnd auf den Jungen zu, der nicht zurückwich, dann fasste er ihm mit einem raschen Griff an die Nase und zeigte den Kindern den Dreier, den er in der Hand hielt. Der Junge sprang zurück und fasste sich an die Nase. »Da, du darfst ihn behalten.« Auch die anderen Kinder griffen nach ihrer Nase: »Holst du mir auch einen Dreier aus der Nase?« »Ich glaube nicht, dass ihr welche dabeihabt. Aber ich kann für euch etwas herbeizaubern, bunte Kugeln.« »Das kannst du nicht.« Endlich wieder einmal richtig Gaukler sein! Schon lief er auf den Händen in den Fischabfällen herum. Dabei machte er mit dem Mund die Fanfare einer Trompete nach. Die Sonne schälte sich wieder aus der Wolke. Die Kinder klatschten in die Hände. »Noch mehr, mach noch mehr!« Hoffentlich sieht mich niemand. Die Bälle tanzten. Die Kinder schauten mit offenen Mündern zu. »Ich kann noch mehr. Aber ich mache es bloß, wenn ihr mir sagt, wo ich den Fischeranton finden kann.« »Das dürfen wir nicht.« Die Bälle verschwanden in der Tasche. »Auch nicht, wenn ich jedem eine bunte Kugel herbeizaubere?« »Dann vielleicht schon.« »Abgemacht: Ihr zeigt mir zuerst, wo ich den Fischeranton finde, dann bekommt ihr die Kugeln.« Der Junge hatte alle Finger im Mund. Ein kleines Mädchen sagte: »Sag’s ihm doch, Felix. Es ist doch gar nicht weit.« »Ja, sag’s ihm doch«, riefen die anderen Kinder. Felix fasste ihn an der Hand: »Komm mit.« Es war nicht weit. Ein kleiner Schuppen stand am Ufer der Ill. Er hatte ein großes Tor zum Wasser. »Da drin!« Philo lachte und ging auf den Händen im Kreis herum. Dabei prasselte aus seiner Tasche ein Regen von kleinen, bunten Tonkugeln: »Die dürft ihr einsammeln und mitnehmen, sie gehören euch.« Bevor er das Tor aufdrückte, schaute er sich noch einmal um. Die Kinder standen schon wieder und sahen ihm mit weiten Augen nach. »Wer ist da?«, hörte er eine zittrige Stimme. In der Schiffshütte roch es nach Teer. Ein Mann kauerte auf einem Haufen von Fischernetzen neben einem schwarzen Fischerboot, er hatte eine speckige Filzdecke um sich geschlagen. Es war ein Greis, der sich ein nasses Tuch auf ein Auge drückte. Das Gesicht war verschwollen und hatte blaurote Beulen, die Lippen waren verkrustet von Blut. »Was gibt es denn?« Die Stimme klang weinerlich. »Die haben dich ja böse zugerichtet!«, sagte Philo rasch. »Wenn ich die Lumpen erwische, einen alten Mann so schlagen!« »Eine Schande, ja! Und du bist ganz allein?« Die Stimme klang wieder weinerlich: »Bruno ist fortgegangen. Bruno ist mein Sohn. Er hat gesagt, ich soll mich hier verstecken. Alle haben es gesagt.« »Warum verstecken?« »Na, die haben mich doch verprügelt.« »Tut es sehr weh?« »Was denkst du! Was willst du überhaupt? – Wie bist du hereingekommen? Woher weißt du, wo ich bin?« Die Stimme des Alten wurde schrill, er hielt sich an den Netzen fest. Philo plapperte drauflos: »Ich will dir helfen. Ich bin gestern am Schiffleutstaden vorbeigekommen und da habe ich einige sehr verdächtige Geräusche in einem kleinen Ufergehölz gehört, da war es mir nicht geheuer. Erst wollte ich hingehen, aber dann bekam ich Angst und habe mich nicht hineingetraut. Später haben sie mir gesagt, dass du dort verprügelt worden bist. Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich dir nicht geholfen habe.« Das war doch gar nicht schlecht, dachte er befriedigt. »Was kannst du mir jetzt noch helfen? Jetzt ist es zu spät. Ja, wenn du gleich da gewesen wärst.« »Wie viele waren es denn? – Waren es viele oder war es nur einer?« »Einer? – Hör mal! Einen hätte ich zerquetscht wie eine Laus!«, behauptete die weinerliche Stimme. Philo unterdrückte ein Lächeln. »Es waren also viele. Wie viele waren es denn?« »Na gut sieben.« »Sieben! Bist du sicher? Die wären sich ja schön im Weg gestanden.« »Es war auf jeden Fall nicht bloß einer und es waren auch nicht nur zwei.« »Also drei.« Philo musste nun wirklich lachen. »Kannst du mir genau sagen, wie es war, als du den Toten gefunden hast?« »Also, ich bin am Morgen zur Reuse gegangen. Da habe ich an dem Pfahl etwas hängen sehen. Ich habe genauer hingeschaut, und da war es ein Mensch. Geh weg!, habe ich zu ihm gesagt, aber er war tot. Das hat Bruno gesagt – Bruno ist mein Sohn –, habe ich das schon gesagt? Wir haben ihn herausgezogen und umgedreht – « »Und wer hat dich verprügelt?« »Nicht alle haben geprügelt. Einer hat nur zugeschaut, der hatte mir am Morgen Geld gegeben, das Schwein.« Philo wurde es heiß. »Geld gegeben! Geld für den Töten?« »Nein, für die richtige Beschreibung. Er hat mir und Bruno jedem drei Silberstücke gegeben, dann hat er uns genau gesagt, wie er ausgesehen hat, weil man sonst den Mörder nicht findet.« »Da hat er zwar Recht, aber ihr habt den Toten doch selbst gesehen.« »Nicht so deutlich, er war ja nass und voller Flecken. Aber er war von hinten erstochen, das hat mir Bruno gezeigt. Bruno ist – « »Und dann war die Leiche weg?« »Sie war zuerst zugedeckt, dann haben die Soldaten sie mitgenommen.« »Er sah aber anders aus, als ihr ihn beschreiben solltet.« »Bruno hat gesagt, dass es ein alter Bettler gewesen ist, aber er hat gleich gesagt, dass wir uns an die andere Beschreibung halten müssen. Aber ich habe dem Fischerklaus später gesagt, dass es ein alter Bettler war, den wir aus der Ill gezogen haben.« »Und hat das jemand hören können?« »Es standen Leute dabei.« »Und dann hat der vom Morgen dich verprügeln lassen?« »Er war auf einmal da, der Lump, mit anderen. Bei den Schiffern. Für mein gutes Gedächtnis, hat er gesagt, der Lump.« »Was genau hat er denn gesagt?« »Er hat gesagt, ich muss das sagen, was er mir jetzt noch einmal sagt. Der Mann, den ich an dem Pfahl gefunden habe, war kein Mann, es war ein Junge und hatte schwarze buschige Haare und blaue Augen. Aber das stimmt nicht, wenn er mir und Bruno auch Geld gegeben hat. Es war ein alter Mann, angezogen wie ein Bettler, mit einer Narbe im Gesicht, Bruno hat das auch gesagt, aber er hat gesagt, wir müssen – « »Wann haben sie dich verprügelt? Bevor du auf das Rathaus gegangen bist oder nachher?« »Vorher. Ich wollte gerade zur Schindbrücke gehen – « »Haben dich nicht die Soldaten mitgenommen?« »Nein, sie wollten mich mitnehmen. Aber ich musste mich ja erst waschen und das gute Zeug anziehen. Und so sind die Soldaten vorausgegangen, sie wollten noch ein Schlückchen trinken. Und da ist es dann passiert am Schiffleutstaden.« Jetzt kam die wichtigste Frage, Philos Stimme zitterte ein wenig: »Wie sah denn der aus, der dich nicht verprügelt hat?« Vor der Türe waren Schritte zu hören. Nur jetzt nicht! Jetzt darf keiner hereinkommen, betete Philo, die Schritte gingen vorüber. »Der war dick, gut angezogen, aber es war kein Herr, das konnte man sehen.« Philo klopfte das Herz im Hals: »Ist dir sonst etwas an ihm aufgefallen? Wie groß war er?« »Nicht groß. Aber dick, das Schwein. Er hatte so komische Knopfaugen. Bruno wird ihn verhauen, dass es kracht.« Der Frosch! Aber jetzt ergab die falsche Beschreibung erst recht keinen Sinn: Gerade der Frosch musste doch das allergrößte Interesse haben, dass Christoph gefunden wurde. Nun galt er bereits als tot. Der Himmel hatte eine bedrohliche Farbe angenommen, das Grummeln und Rumoren in den Wolken kam näher. Eine gewaltige schwarze Wand sah Philo vom Schiffleutstaden aus, sie hatte ganz oben, fast genau über seinem Kopf, einen grellen, blendend weißen Rand. Böen stoben ihm den Staub in die Augen. Erste dicke Tropfen fielen, als er über die Neue Brücke ging. Die Gassen hinauf zum Münster waren plötzlich wie leer gefegt. Es war beinahe Nacht geworden. Er hockte sich auf einen Pflock unter dem hölzernen Vordach eines Krämerladens, als das Gewitter mit fürchterlicher Wucht losbrach, Gießbäche trommelten auf das Vordach herunter. Die Blitze zuckten grell, der Donner schmetterte irgendwo über den Dächern und rollte in allen Richtungen über die Stadt. Es roch nach Staub und Regen. Windböen jagten Regenschwaden die Gassen hinunter. Vom Münster herab hörte man die Wetterglocke läuten. Philo zuckte zusammen, als neben ihm jemand anfing zu reden. Er hatte nicht bemerkt, dass in einer seitlichen Nische noch jemand unter dem Vordach war. »Wenn es nur nicht einschlägt.« »Du wirst schon nicht vom Blitz erschlagen werden.« Philo wollte nachdenken und nicht gestört werden. »Man kann auch anders umkommen. Weißt du schon, dass sie gestern in aller Herrgottsfrühe einen Toten gefunden haben – erstochen. Das ist jetzt schon der zweite Ermordete in vier Wochen. Das nimmt kein Ende. Und ich weiß auch, wer das macht und wer das Opfer ist.« Philo war plötzlich hellwach: »Ich weiß gar nichts. Schon wieder einer ermordet? Das gibt’s doch nicht.« »Wie kannst du das nicht wissen! Die ganze Stadt weiß es! Alle sagen es. Die Juden sind es.« Bläuliches Licht und ein schmetternder Krach. »Bist du sicher?« »Das hat eingeschlagen.« Der andere, ein mageres Männlein, der Kleidung nach ein Tagelöhner, vielleicht unten im Hafen, war heftig zusammengezuckt: »Wenn es nur nicht brennt.« Der Regen donnerte weiter auf das Vordach, die Luft war kühl und füllte sich mit feinem Wasserstaub. Ein brauner Bach, der allerlei Unrat mit sich riss, schoss die Gasse hinunter zur Ill. »Die Juden, sagst du?« »Alle sagen es.« »Und wer ist ermordet worden?« »Ein armer Christenjunge. Ich weiß sogar, wie er aussah. Er hatte schwarze Haare und blaue Augen. Das gibt es nicht oft. Sie ermorden Christenkinder, um damit zu zaubern.« »War es ein Kind?« »Sicher war es ein Kind.« »Wie alt?« »Ich weiß nicht, vielleicht vier.« »Wie kann man damit zaubern?« »Sie zaubern mit dem Blut, das sie ihnen abzapfen. Damit machen sie die Pest – « Der Regen hatte aufgehört. Philo ging weiter. Es war sinnlos, hier zu reden. Die Leute glaubten das, was sie glauben wollten. Die Sonne stach schon wieder. Das Gewitter hatte keine wirkliche Abkühlung gebracht. Die Luft war so schwer, dass man kaum atmen konnte. Immer noch schoss das Wasser gelb und gurgelnd die Gassen hinab. Über den Boden trieben weißliche Schwaden. Schwärme von Ungeziefer überfielen ihn. Dicke Bremsen setzten sich auf jede bloße Stelle des Körpers, auf die Hände, das Gesicht, die Handgelenke, die Fußknöchel. Man klatschte sie tot, dass sie blutige Spuren hinterließen, da kamen schon neue, die träge sitzen blieben und ihren Stachel in das Fleisch bohrten. Auch das Denken fiel schwer in dieser feuchten Hitze. Zwei Tote in Straßburg. Beide standen im Zusammenhang mit Christoph. Drei Morde, denn auch Christophs Vater gehörte dazu. »Vater, bitte, wir kommen nicht weiter.« »Liebes Kind, ich habe zu tun. Ich muss noch so viele Schriftstücke aufsetzen.« »Ist es so wichtig?« »Alles, was man tut, ist wichtig.« »Aber manches ist wichtiger als das andere. Bitte, es geht um Christoph.« Löb drückte Esther an sich: »Ja, und da ist alles wichtig, ich weiß, Esther. Wir werden auch darüber einmal reden müssen.« »Sie sitzen alle bei Christoph in der Kammer. Christoph, Nachum und Philo, er hat viel zu berichten.« »Also gut, dann hol sie herunter.« Philo schloss seinen Bericht und zog seine Bälle heraus: »Der Frosch steckt dahinter. Er verbreitet, dass das Mordopfer aussieht wie du, Christoph. Zuerst dachte ich deshalb, der Stelzenklaus sei der Mörder. Das hätte viel mehr Sinn. Aber er kann es nicht sein – wir müssen nicht weiter darüber nachdenken.« Löb schwieg lange: »Ist der Frosch deshalb ein Mörder? Wir wissen wenig, sicher ist nur, dass der Frosch, wie ihr ihn nennt, mit dem Mord zu tun hat. Aber damit wissen wir weder, was er tatsächlich damit zu tun hat, noch welche Absichten er verfolgt. Die falsche Beschreibung, die er verbreitet, scheint Christoph zu schützen, und das kann ja nicht sein. Lasst uns zusammenfassen und ordnen, was wir bereits wissen, keine Vermutungen, nur Tatsachen. Und ich glaube, das kann niemand besser als Philo.« Philo runzelte die Stirn: »Das Erste ist der Mord vor über vier Wochen: Nachts wird in der Nähe unserer Bretterhütte ein von hinten erstochener Bettler in die Ill geworfen. Ein alter, glatzköpfiger, meist besoffener Bettler.« Christoph nickte. »Über ihn haben wir erfahren, dass er am Abend wie ein Kind vor Weihnachten gewesen sei, bevor der Müller am Morgen seine Leiche gefunden hat. Er hat weit unten an der Ill seinen Schlafplatz gehabt, ist aber in unserer unmittelbaren Nähe gefunden und sicher auch umgebracht worden.« »Richtig.« »Vor zwei Tagen war der zweite Mord. Das Opfer ist ebenfalls ein Bettler mit grauen Haaren, nicht ganz so alt, lang, dürr, etwas krumm, aber kräftig, mit einer weißen Narbe im Gesicht. Er ist ebenfalls von hinten erstochen worden. Wir kennen ihn, nicht wahr, Christoph, letztlich sind wir wegen ihm aus unserer Bretterburg ausgezogen und Christoph ist zu euch gekommen. In der Öffentlichkeit wird aber die Beschreibung Christophs für das zweite Opfer verbreitet. Und daran wiederum hat der Frosch ein Interesse, denn er hat dem alten Fischer, der den Toten gefunden hat, Geld dafür gegeben und ihn noch zusätzlich verprügeln lassen. Für mich ist dies das größte Rätsel. Ich glaube, das ist alles.« »Dass sie in der ganzen Stadt verbreiten, die Straßburger Juden hätten den Mord begangen, ist das für dich nicht wichtig?«, fragte Nachum und warf den Kopf zurück. »Doch, sehr wichtig, aber ob es uns viel helfen kann, die Sache aufzudecken?« »Was wichtig oder unwichtig ist, können wir jetzt noch kaum erkennen.« Löb hatte auf einer Schiefertafel mit Kreide Notizen gemacht, hielt sie auf Armeslänge vor sich und betrachtete sie kritisch. »Es war bestimmt zweimal derselbe Täter, er ersticht seine Opfer von hinten mit dem Dolch!«, sagte Nachum. »Jeder kann einen Dolch auftreiben.« Christoph sah den Frosch mit dem Dolch in der Hand nächtlich vor der Strohschütte stehen. »Es ist aber schon eine Überlegung wert, Christoph«, sagte Philo. »Noch etwas ist wichtig«, sagte Esther, »ich glaube, wir dürfen das Blutgeld nicht vergessen, das auf Christoph ausgesetzt ist.« »Sehr wichtig«, sagte Löb. »Dadurch bin ich ja zuerst auf den Stelzenklaus gekommen! Aber er war es nicht, das steht fest.« Philo schüttelte den Kopf. »Warum soll der Mörder denn zwei Bettler erstechen, für die er gar kein Blutgeld erhält?« »Eben, Nachum, ohne Blutgeld haben wir keinen richtigen Grund für die Tat.« »Aber es kann ja einen anderen geben.« »Dennoch, Nachum, für die Bettler muss das Blutgeld ein ungeheures Vermögen sein. Es sieht für mich ein wenig so aus, als handle es sich um einen Streit unter Bettlern um das Geld. Ich weiß aber nicht, wie das gehen soll.« »Das hat eine Menge für sich, Christoph, vor allem der erste Mord sieht danach aus.« »Was heißt Streit unter Bettlern?«, sagte Nachum. »Wenn die beiden Morde womöglich gar nichts mit dem Blutgeld zu tun haben!« »Vielleicht doch. Er war ja bei uns gleich um die Ecke. Könnte es nicht so gewesen sein? Der erste Bettler, der alte Glatzkopf, sieht dich, Christoph. Mir ist, als hätte mich ein paar Tage vor dem Mord an der Türe ein alter Bettler nach deinen Haaren gefragt – er könnte es gewesen sein. Übrigens, einige Bettler haben dich gesehen, als du deine Laufbahn als Bettler begonnen hast. Ich habe es gehört.« Christoph brummte etwas. »Gut, allein will und kann dich der alte Glatzkopf nicht packen«, fuhr Philo fort, »vielleicht ist er sich auch nicht sicher. Halt – vielleicht will er es nicht dem Stelzenklaus sagen, jeder kennt den Stelzenklaus! Jedenfalls weiht er einen Zweiten ein, er will sich in der Nacht mit ihm treffen und freut sich auf das Blutgeld – « »Wie ein Kind vor Weihnachten«, ergänzte Christoph. Nachum brummte. Löb kritzelte auf seiner Schiefertafel und blickte auf: »Einen Jüngeren und Stärkeren weiht er ein, von dem er weiß, dass der den Hintermann kennt und nicht den Stelzenklaus dazwischenschalten muss. Es gibt sicher einige, die den Frosch kennen, das lässt sich wohl nicht vermeiden.« Christoph nickte: »Oder einen, der ihm gegen den Stelzenklaus helfen kann.« »Dieser andere ist zwar auch nicht mehr der Jüngste, aber stärker und nicht immer voll Schnaps, und er bringt den Alten um, als der ihm in der Nacht eure Holzruine gezeigt hat, denn dieser Zweite will nicht teilen, mit wem auch immer. Das wäre eine gute Erklärung und würde passen.« »Der Bettler mit der weißen Narbe!« »Ja, und dazu würde passen, dass er am anderen Tag vor unserer Bretterhöhle auftaucht und uns hartnäckig und siegessicher verfolgt. Nicht wahr, Christoph?« »Von dem Mühlkanal aus kann man das Bretterdomizil gut sehen, ich habe es nachgeprüft. Wenn es eine Mondnacht war – « »Das kann ich nachprüfen«, rief Esther und rannte hinaus. »Blöde Ziege«, rief Nachum, »wie willst du denn das nachprüfen? Du weißt ja nicht einmal genau, wann es war. Und warum soll er dann noch einen Zweiten erstechen?« »Der zweite Bettler«, sagte Löb und winkte ungeduldig ab, »der zweite Bettler also ersticht den ersten von hinten und wirft ihn in den Mühlkanal. Wie müsste es nun folgerichtig weitergehen?« »Das ist doch ganz einfach, er steht am anderen Tag vor unserem Bretterloch: Der zweite Bettler will sich, so schnell es geht, das Blutgeld verdienen!« Philo war jetzt Feuer und Flamme. »Aber dazu muss er erst sicher sein, dass ich wirklich in dem Brettergehäuse wohne, das ihm der Alte in der Nacht gezeigt hatte, und er muss eine Gelegenheit herausfinden, wie er mich umbringen kann. Er verfolgt uns sogar in die Stadt, weil er Angst bekommt, dass wir uns ein neues Domizil suchen könnten.« Esther kam kleinlaut zurück: »Übermorgen ist Vollmond, aber ich weiß ja nicht genau, wann es war.« »Und du weißt auch nicht, ob es damals in der Nacht nicht geregnet hat.« Nachum streckte ihr die Zunge heraus. »Lass das, Nachum«, verwies es ihm Löb, »es ist trotzdem wichtig. Es ist wichtig, dass es so gewesen sein könnte. Der erste Mord war vor etwa vier Wochen. Es kann also nicht Neumond gewesen sein. Wenn es nicht geregnet hat, war es sogar recht mondhell. Auch wenn da Wolken waren, konnte man etwas erkennen. Wäre Neumond gewesen, wäre unsere Vermutung mit Sicherheit falsch.« »Jedenfalls bis jetzt passt alles genau zusammen. Es kann alles so geschehen sein.« Christoph war aufgestanden und ging in der Stube auf und ab. »Und nun zum zweiten Mord.« Auch Löb litt es nicht mehr auf seinem Stuhl. »Das zweite Opfer kennen wir. Wenn wir Recht haben, muss es der Mörder des ersten Opfers sein.« »Weshalb kennen wir es? Wenn es vielleicht zwei Täter waren? Oder doch einer?«, fragte Nachum gereizt. »Wegen der Beschreibung«, sagte Philo und zappelte mit den Beinen, »der zweite Tote sieht genauso aus wie der Narbige, der vor unserer Holzruine gewartet hat und der uns in der Stadt bis zu der Höhle gefolgt ist. Wenn er der Mörder des ersten Opfers war, kann er nicht auch der zweite Täter sein, außer er hätte sich selbst erstochen! Von hinten!« »Das weiß ich auch!« Nachum war rot geworden. Löb zwang sich zur Ruhe: »Wir denken das jetzt einfach zu Ende, dann sehen wir weiter. Was kommt jetzt? – Was hat der Mörder gemacht, als ihr beiden Vögel plötzlich in einer Höhle mitten in der Stadt geheimnisvoll verschwunden wart?« Christoph wanderte um den Tisch herum, Philo bohrte in der Nase, Esther hatte die Hände gefaltet und schaute Christoph nach, Löb saß mit strenger und abweisender Miene am Tisch und studierte seine Schiefertafel. Nachum hatte die steile Falte auf der Stirn, die ihn seinem Vater ähnlich machte. Eine Fliege summte durch den Raum. »Er wollte das Blutgeld haben«, sagte Esther in die Stille hinein. »Richtig, Herzensschwester, wenn wir dich nicht hätten, weise wie ein weiblicher Salomon. He, halt! Sie hat Recht! Sie hat Recht! Der Schwindler geht hin und holt sich dennoch das Blutgeld.« »Er sagt zu dem Frosch einfach, er habe Christoph erstochen und in den Rhein geschmissen, da kann er lange suchen.« Philo saß mucksmäuschenstill. »Immer vorausgesetzt, dass er den Frosch kennt.« »Nehmen wir es einfach an, Christoph, und schauen, was sich dann ergibt. Der Frosch ist doch kein wirklicher Herr?«, fragte Löb und sah von seiner Schiefertafel auf. »Ein Fatzke, der zu etwas Geld gekommen ist und sich so anzieht, wie er glaubt, dass sich ein Herr anzieht, einfach ein Bettler, würde ich sagen, oder einer, der sich etwas hat zu Schulden kommen lassen.« »He, nichts gegen Bettler, Christoph, wenn ich bitten darf«, grinste Philo. »Was würde dann gegen die Annahme sprechen«, überlegte Löb, »dass er auch das Blutgeld für sich alleine haben wollte?« »Richtig!«, jubelte Christoph. »Er hatte es auszuzahlen und hat ihn dabei umgebracht.« »Der Alte musste den Frosch kennen, sonst wäre der Stelzenklaus das Opfer.« Es sprudelte nur so heraus aus Philo:. »Zur Geldübergabe bei Nacht eignen sich die Gedeckten Brücken besonders gut, vor allem, wenn man vorhat jemand dabei zu töten. Und der Bettler hauste ja sicher irgendwo an der Ill, er hatte es also nicht weit zu dem Ort, wo er sterben sollte. Wahrscheinlich war der Frosch froh, dass er es nicht mit dem Stelzenklaus zu tun hatte, der wäre nämlich nicht allein gekommen. In dem dunklen Holzgang, hat der Feigling unseren zweiten Bettler ebenfalls von hinten erstochen – das ist ungefährlicher – und hat ihn in die Ill geschmissen, die hat ihn dann an den Fischerpfahl getragen. Vorher hat er ihm das Geld wieder abgenommen, wenn er es ihm überhaupt schon gegeben hatte.« Löb hob die Schiefertafel: »Der Reihe nach. Erstens: Der betrunkene Alte findet heraus, wo Christoph wohnt, und sucht sich den narbigen Bettler als Hilfe womöglich gegen den Stelzenklaus. Zweitens: Der narbige Bettler bringt den betrunkenen Alten um. Drittens: Er beobachtet ganz ungeniert euer Bretterhaus, das ihm in der Mondnacht gezeigt worden ist. Er will Gewissheit und lauert auf eine Gelegenheit – « »Weißt du eigentlich, dass blaue Augen bei den Muslimen ein Unheilszeichen sind?«, warf Nachum ein. »Was soll das jetzt?«, fragte Löb ärgerlich. »Mir kommt das selbst auch so vor«, murmelte Christoph. Löb presste beide Fäuste an die Schläfen: »Viertens: Der Beobachtete entkommt ihm doch.« »Er meint natürlich, das sei nicht schlimm. Denn er hat ja keine Ahnung, dass Christoph einen sicheren Zufluchtsort hat.« Philo hatte schon wieder Bälle in der Hand. »Wahrscheinlich hielt er es auch für harmlos, das Haus zu beobachten, ohne sich zu verstecken«, fuhr Christoph fort. »Denn entweder war er zu dumm«, ergänzte Nachum, »oder er war sich seiner Sache zu sicher.« »Meist ist eines die Folge vom anderen«, fuhr Löb fort. »Er verfolgt euch sogar offen in der Stadt, aber dann ist Christoph spurlos verschwunden. Das Geld ist weg. Aber er hatte vielleicht schon fest mit dem Geld gerechnet, vielleicht schon auf Pump Schnaps gekauft.« »So geht er fünftens hin und sagt dem Frosch, er habe Christoph umgebracht«, Philo hüpfte auf einem Bein herum, »und der sagt es seinem Auftraggeber, der sich vielleicht nicht gleich sprechen lässt, wie das die großen Herren so an sich haben.« »Oder verreist ist – «, schlug Löb vor. »Jedenfalls dauert es fast vier Wochen, bis er ihn trifft, eine Zeit, die dem Bettler schrecklich lang geworden sein muss – « Christophs Augen glänzten. »Sie machen den Ort der Geldübergabe aus«, redete Löb schnell weiter, »die Gedeckten Brücken, nachts, wie gesagt, wo es keiner sieht – « »Und dort wird er sechstens erstochen, weil der Frosch auch nicht gerne teilt – er bekommt das Blutgeld, dreht sich um und geht weg oder er wartet darauf, jedenfalls der Frosch ersticht ihn von hinten«, schloss Christoph. »So, und ich habe jetzt das Beste!«, jubelte Esther. »Jetzt muss der Frosch darauf achten, dass die falsche Beschreibung des zweiten Toten unter die Leute kommt, er hat ja das Geld von seinem Auftraggeber, und da ist es wichtig, dass die Beschreibung des Gesuchten, also Christophs als Opfer, durch Straßburg läuft – « »Genau wie der Stelzenklaus es hätte tun müssen. Rätsel gelöst. Esther, unglaublich, und so einfach!«, sagte Philo voller Respekt. »Es passt alles nahtlos!« Löb starrte auf seine Tafel und schüttelte den Kopf. Philo wanderte auf den Händen in der Stube herum. »Vater, da gibt es aber noch eine Frage«, überlegte Nachum. »Weiß der Frosch, dass Christoph noch lebt? Hat er seinem Opfer geglaubt, dass der Christoph erstochen hat?« »Das ist nicht nur eine sehr gute Frage, Nachum«, lobte ihn Löb, »das ist auch eine sehr wichtige Frage.« »Er glaubt es mit Bestimmtheit. Sonst hätte er nicht die Beschreibung Christophs verbreitet, die Christoph ja schützt!« Philo stand wieder auf zwei Beinen. »Er weiß auf jeden Fall, dass der zweite Ermordete nicht Christoph ist, denn dessen Mörder ist er ja selbst. Mit den Prügeln und der falschen Beschreibung wollte er gleichzeitig den eigenen Mord vertuschen.« »Könnte er den Auftraggeber nicht auch angelogen haben, um endlich das Blutgeld zu bekommen?«, fragte Christoph zornig. »Er kann ja in den vier Wochen zwischen dem ersten und dem zweiten Mord irgendwie herausgefunden haben, dass ich noch lebe. Aber er will endlich das Geld.« »Zu riskant«, erwiderte Philo schnell, »der scheint mir nicht der Mann dafür. Ich halte ihn eher für feige. Denk nur, wie gefährlich das für ihn wäre, wenn du plötzlich wieder auftauchen würdest. Sein Hintermann geht über Leichen! Nein, er glaubt wirklich, dass du tot bist. Wir haben drei Tote und zwei Mörder. Einer der Toten ist selbst ein Mörder. Wer aber war sein Auftraggeber?« »Wenn wir Recht haben«, sagte Christoph verwundert. »Ich meine schon, dass wir Recht haben«, sagte Löb und schloss die Augen. »Wir haben es gefunden wie im Traum: Es passt alles zusammen. Aber wer ist es, der hinter dem Frosch die Drähte zieht?« |
||
|