"Schwarzer Valentinstag" - читать интересную книгу автора (Bentele Günther)

Für Moritz Herrmann aus Freudental

und seine Familie

Ermordet am 19.05.1944

in Auschwitz

Er wollte nichts sein als

ein jüdischer schwäbischer Bauer


ESTHER

Als Christoph an diesem Abend in seine Kammer gehen wollte, wartete Esther im oberen Ern auf ihn. Er sah, dass sie die Haare schon gelöst hatte, und ihr Gesicht schimmerte im Licht einer Kerze, ihre Haare flossen um sie wie ein kostbarer Umhang.

Christoph verschlug es den Atem, als sie plötzlich so vor ihn trat: »Was machst du denn noch hier?« Das gehört sich nicht, wollte er weiter sagen, aber er brachte es nicht heraus. Sie war noch nie so schön gewesen.

»Ich wollte dir sagen, wie froh ich bin – «

Wie konnten dunkle Augen so hell leuchten?

»Du sagst ja gar nichts.«

»Ich bin froh – « Das will ich ja gar nicht sagen. War ich jemals so froh wie jetzt?

Da legte sie sehr sanft den Arm um ihn, er spürte ihren Atem und ihre Lippen drückten sich auf die seinen.

Christoph war benommen, als hätte er von dem Wein aus Spanien getrunken, den Löb an manchen Abenden ausschenkte.

»Du«, sagte er und presste seinen Mund gegen ihren, wobei sich seine Lippen etwas öffneten. Er spürte ihren Körper.

Sie machte ihre Augen weit auf und legte beide Arme um seinen Hals und ließ ihre Augen dabei immer in den seinen. Wie feucht ihre Augen waren, wie lang ihre Wimpern.

Er drückte sie an sich, so fest er konnte.

»Du darfst mich nicht ganz ersticken«, lachte sie und löste ihre Arme.

Dann war sie verschwunden.

Philo schmiedete Pläne, wie sie die Hintermänner finden konnten.

»Wir brauchen den Frosch. Wir müssen ihn finden.«

»Und dann?«, fragte Christoph. »Er wird dir kaum sagen, wer ihm das Geld für meinen Tod bezahlt hat.«

»Richtig – das ist zu gefährlich für ihn.«

»Was dann?«

»Ich bringe ihn zum Reden, auf jeden Fall. Zumindest weiß ich einen Weg, der ist todsicher. Du kannst dich darauf verlassen – er wird reden! Er wird reden, wie er noch nie geredet hat.«

Esther war dazugetreten und legte die Hand auf Christophs Schulter: »Es ist doch nicht gefährlich?«

»Das ganze Leben ist gefährlich«, lachte Philo und warf seine Bälle in die Luft.

»Und wo sollen wir ihn finden?«, fragte Christoph. »Weißt du, wo er in Straßburg untergekommen ist?«

»Ja, das ist die wunde Stelle – er ist wohl nicht mehr in Straßburg. Ich habe vorsichtig nach ihm gefragt. Es war nicht leicht. Niemand hat ihn mehr gesehen.«

»Na, dann bin ich wirklich gespannt, wie du ihn zum Reden bringen wirst.«

Es war, als hätte Löbs Haus Esthers Gesicht und ihre Gestalt angenommen. Wenn sie sich sahen, so lächelten sie einander an, sie hatten sich auch angewöhnt sich an der Hand zu fassen und kurz zu drücken, wenn es niemand sah.

Andererseits war Esther nicht scheu: Für sie schien es selbstverständlich zu sein, dass sie Christoph mochte und er sie. So oft es ging, war sie bei ihm. Wenn sie am Tisch saßen, setzte sie sich ganz selbstverständlich an seine Seite. Ihr Kleid streifte ihn, manchmal glitt ihre Hand kurz über seinen Arm.

Aber einen Kuss hatte er seither nicht mehr bekommen. Der erste Kuss war wie ein festes Versprechen gewesen.

Er konnte das süße Gefühl ihrer Lippen nicht vergessen und er musste sich sehr zusammennehmen, um sie nicht jedes Mal in die Arme zu schließen, wenn er sie sah.

Manchmal, wenn er in der Nacht an sie dachte und sie sich vorstellte; war sie für ihn seltsam fremd wie eine kostbare Blume, die man sich kaum anzufassen traut. Wenn er sie dann morgens sah, hielt dieses Gefühl noch eine ganze Zeit lang an, er konnte kein Auge von ihr lassen, aber jeden Tag war es wie ein Erschrecken – als sehe er sie zum ersten Mal.

Dazu wuchs langsam ein Unbehagen, das stärker wurde und das er sich erst langsam klarmachen musste: Es war ein schlechtes Gewissen Löb gegenüber, dessen Gastrecht er genoss und der ihn trotz der zunehmenden eigenen Gefahr schützte. Es wurde von Tag zu Tag schlimmer, vor allem, als Nachum immer öfter anfing spöttische Bemerkungen zu machen; und er konnte Löb kaum mehr in die Augen sehen, wenn der ganz unbefangen mit ihm über die Kaufleute in Straßburg redete. Auch dieses schale Gefühl der Hilflosigkeit stellte sich wieder ein, das ihn lähmte und gleichzeitig mit Zorn erfüllte.

Schließlich hielt er es nicht mehr aus: »Es kann so nicht mehr weitergehen mit uns, Esther«, sagte er im Garten zu ihr und hielt ihre Hand mit beiden Händen fest.

»Du bist ein Dummkopf«, sagte sie, »was soll denn nicht mehr weitergehen mit uns?«

»Ich kann das nicht. Diese Heimlichtuerei. Ich kann deinen Vater nicht hintergehen – ich verdanke deiner Familie mein Leben, da kann ich doch nicht hinter seinem Rücken heimlich ein Verhältnis mit der Tochter anfangen.«

Ihr Gesicht war noch nie so schön wie in diesem Augenblick. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und schaute ihn von unten an. Ihre Haare fielen über seinen Arm, sie streichelte seine Hand, ihre Stimme war sanft: »Das ist schön, dass du so denkst, und du hättest Recht, wenn wir nicht zusammengehören würden.«

Seine Stimme klang gepresst: »Aber dein Vater – «

Sie richtete sich auf, schaute ihm in die Augen und behielt dabei seine Hand in ihrer: »Wir müssen es ihm natürlich sagen, was denkst denn du?« Sie sprach ganz unbefangen. »Du musst natürlich Jude werden. Du gehörst dann ganz zu uns. Wir werden deine Bar Mizwa feiern. Das gibt ein Fest! Und dann heiraten wir.« Sie drückte sich an ihn.

»Bar Mizwa?«

»Das Fest, mit dem junge Männer in die Gemeinde aufgenommen werden. Sie zeigen, was sie gelernt haben: lesen und schreiben. Sie lesen aus der Thorarolle, sie lernen unsere alte Schrift und die der Christen. Bei uns können alle lesen. Nachum feierte es vor einem Jahr. Du bist so gescheit, du kannst das schnell.«

Sie schlang beide Arme um seinen Hals, presste ihren Körper an seinen und küsste ihn, als würde dieser Kuss nie mehr aufhören.

Er drückte sie fest an sich und schloss die Augen.

Zwei Wochen später fand Philo Regine. Sie stand als Bettlerin im Regen bei der Schindbrücke und musterte jeden scharf, der vorüberging.

Philo fiel ihr um den Hals: »Endlich! Ich bin so froh, dass du da bist, aber wo ist Balthas?«

Sie berichtete, dass Balthas krank in Offenburg geblieben sei. Es sei nichts Schlimmes. »Er ist in guter Pflege und er kann sie bezahlen. Wir haben sehr viel Geld verdient in diesem Sommer.«

»Warum seid ihr nicht nach Straßburg gekommen?«

Weil auf Schloss Staufen im Breisgau der junge Graf, ein Neffe des Bischofs von Straßburg, eine große Hochzeit gefeiert habe, berichtete Regine, und sie alle drei als Gaukler eingeladen gewesen seien. Nur Philo sei leider nicht dabei gewesen. Sie erzählte, wie sie alleine ein großes Programm geboten hätten, wie Wein und Honig geflossen sei, wie dieses Programm das beste gewesen sei, das sie jemals geboten hätten mit Zaubern, Jonglieren, Seiltanzen, Feuerschlucken.

»Nur du hast gefehlt. Viel Geld haben wir bekommen, wir schwimmen im Geld. Geld vom Grafen, Geld von den Verwandten des Grafen, Geld von den Gästen, Geld von dem Volk, das zugesehen hat. Unsummen hat diese Hochzeit verschlungen. Ein ganz neuer Flügel ist an die Burg angebaut worden. Aus dem Brunnen im Schlosshof ist weißer und roter Wein aus den Röhren geflossen. Jeder konnte trinken, so viel er wollte. Hühner, Gänse, Lämmer, Schweine, ganze Ochsen haben sich an Spießen über wahren Höllenfeuern gedreht.«

»Da hätte ich schon gerne mitgemacht. Und ohne mich war doch kein wirklich guter Jongleur dabei und kein Seiltänzer, der seinen Namen verdient.«

Philo erzählte von den Morden, während sie stadteinwärts gingen.

»Zwei Tote, und Christoph bei den Juden untergekommen!« Regine blieb stehen. Der Regen rann ihr aus den grauen Haaren in das Gesicht.

»Bei den Juden«, fuhr sie ernst fort, »wie sicher ist er da? Überall wird auf die Juden geschimpft. Sie seien schuld an allem Unglück, das hörst du von Basel bis Mainz am ganzen Rhein. Zumindest wird es so erzählt, ich habe es mit eigenen Ohren gehört.«

»Es ist hier dasselbe«, sagte Philo und kickte einen Stein in die Ill, »die einfachen Leute verdächtigen die Juden, sie würden die Brunnen vergiften und Christenkinder entführen. Aber Löb sagt, die Reichen hätten Schulden bei ihnen, die sie nicht zurückzahlen wollten.«

»Ja, nicht wahr! Es heißt, der Bischof von Straßburg habe das Geld für die Hochzeit und den Neubau von Colmarer Juden aufgenommen. Da muss er natürlich Zinsen bezahlen.«

»Ich hatte noch nie mit einem Juden geredet. Jetzt kenne ich die Juden, bei denen Christoph sich verstecken darf. Es sind großzügige, freundliche Leute und wenn sie Schweinefleisch essen, am Samstag arbeiten und am Sonntag in die Kirche gehen würden und ihnen nicht verboten wäre Handwerker oder Bauer zu sein, wäre überhaupt kein Unterschied zu den anderen Bürgern. Nur dass sie reinlicher sind, weil sie sich öfter waschen. Aber die Leute in der Stadt sind verrückt und werden jeden Tag noch verrückter. Sie feiern Feste, als wäre es das letzte Mal, und machen unglaubliche Dinge. Neulich habe ich mit Christoph nachts ein Haus gesehen, da brannten von unten bis oben in allen Räumen die teuersten Kerzen, und das ganze Haus war leer – kein Mensch weit und breit. Ich hatte wegen der Morde völlig vergessen zu fragen, wer dort wohnt.«

Regine schüttelte den Kopf: »Es ist, als wolle jedermann sein Geld fast mit Gewalt loswerden – bei dieser Hochzeit in Staufen wurden Säcke von Geld verschwendet!«

»Die Angst vor der Pest?«

»Man kann jetzt mit dem größten Schwindel Geld machen, wenn man nur sagt, es sei gegen die Pest. Ich habe vor ein paar Tagen einen Kerl gesehen, der hat mit gefälschter Mandragora gehandelt. Ein Betrüger – sie haben ihm ihr ganzes Geld dafür gegeben.«

Philo blieb stehen: »Mandragora? Was ist denn das?«

»Kennst du die Alraune nicht?«

»Alraune habe ich schon gehört.«

»Mandragora – Alraune, das ist dasselbe.« Regine plapperte munter, manchmal blieb sie stehen und schaute Philo an, dann drückte sie wieder seinen Arm. »Die Wurzel gilt als Wundermittel gegen alle Krankheiten und wird deshalb fast mit Gold aufgewogen. Aber die Wurzeln, die dieser Wundermann für ein Vermögen auf dem Markt in Offenburg verkauft hat, die waren nicht echt! Ein gelehrter Arzt des Grafen von der Ortenau hat die Leute gewarnt, aber sie haben dennoch gekauft und gekauft. Wo gehen wir eigentlich hin?«

»Ins Judenviertel. Christoph freut sich, wenn er dich sieht, und den Juden haben wir schon so viel von euch erzählt.«

»Du hast unsere Nachrichten nicht bekommen? Wir haben immer wieder versucht euch nach Staufen zu locken.«

»Nein, keine einzige, und so viel Geld wie ihr habe ich nicht verdient. Es gab keine großen Feste in Straßburg und ich war auch nicht Gaukler, sondern fast immer Bettler.«

Regine fragte: »Hilft die Alraune gegen die Pest? Ich meine, die echte.«

»Ich kenne die Wurzel gut. Ich glaube, sie wird sehr überschätzt. Es gibt so viele Geschichten über sie, dass man fast alles glaubt, was über ihre Wirkungen gesagt wir?«, schmunzelte Löb.

»Geschichten?« Esther rückte neugierig näher.

»Nun, schon ihre Gewinnung ist sehr seltsam: Man gewinnt sie unter dem Galgen, weil sie nur dort wächst, wo ein Mensch aufgehängt worden ist. Es ist aber sehr gefährlich, sie herauszuziehen.«

»Warum?«, fragte Christoph. »Es kann doch nicht gefährlich sein, eine Wurzel aus dem Boden zu reißen.«

»Sie schreit!«

»Wer schreit?« Esther brachte den Mund nicht zu.

»Die Wurzel schreit, sie schreit lauter als ein Tier, wenn man an ihr zieht.«

»Eine Wurzel, die schreit, wenn man sie herauszieht? Wirklich schreit?« Esther, Christoph, Nachum und Philo redeten durcheinander.

»Sie schreit vor Weh, kein Mensch hält das aus.«

»Und wie kann man sie dennoch herausziehen?«

»Man muss sich die Ohren mit Wachs verstopfen wie einst Odysseus bei den Sirenen.«

Christoph kannte diesen Odysseus nicht.

»Wenn man die Wurzel hat, kann man sie teuer verkaufen.«

»Was kann man mit der Wurzel machen, zaubern?«, fragte Christoph und beugte sich vor.

»Manche glauben, sie sei die Springwurz, die alle Schlösser aufmachen können soll, was ich nicht glaube.«

»Das wäre doch nicht schlecht«, meinte Philo.

»Untersteh dich!«, warnte Regine.

»Ob sie gegen die Pest hilft, konnte man bis jetzt sicher noch nicht ausprobieren. Man kennt die Pest ja erst ein oder zwei Jahre. Sie soll aber gegen jede Krankheit helfen.«

»Dann wäre sie ja auch gut gegen die Pest!«

»Und warum haben wir dann diese Wurzel Mandragora noch nicht?« Nachum war aufgeregt, Esther hatte leuchtende Augen.

Christoph fragte: »Sie wächst doch unter dem Galgen. Warum holen wir sie dann nicht heute Nacht?«

»Ich gehe mit«, sagte Esther mutig und hatte den Blick auf Christoph gerichtet.

»Du kannst sie nicht immer holen. Der Mond muss eine bestimmte Phase haben, die Sonne muss in einem bestimmten Haus stehen. Das alles dürfte heute Nacht nicht zutreffen«, schmunzelte Löb.

»Wann dann«, fragte Nachum und hatte den Blick auf Esther gerichtet, »und hilft sie auch gegen Christen?«

»Nachum!«, wies Löb ihn mit scharfer Stimme zurecht.

»Aber irgendwann kann man sie holen. Das machen wir«, sagte Christoph.

Löb war aufgestanden und hatte ein dickes Buch von einem verzierten Bord genommen. Die Seiten waren von hebräischen Schriftzeichen bedeckt.

Christoph staunte: Wie viele Bücher hatte Löb!

Löb las vor: »Dieselbige Wurzel ist feuerfarb und schwer auszugraben. Wenn sie jemand anrührt, so ist er gleich des Todes Eigen. Man muss sie ganz umgraben und nur ein wenig von unten in dem Erdreich stecken lassen. Danach einen Hund daran binden, und wenn der Hund demjenigen, der ihn daran gebunden hat, nachlaufen will, so zieht er die Wurzel heraus, stirbt aber alsbald davon, so wird er für den Menschen, der die Wurzel umgraben hat, ein Opfer. Das hat Josephus Flavius vor zwölfhundert Jahren geschrieben.«

Löb lächelte immer noch: »Wir können sie schon holen. Aber es ist eine weite Reise, viel weiter als zum nächsten Galgen. Ich weiß, wo die Wurzel wächst. Ich habe sie sogar schon oft wachsen sehen.«

»Und nicht geholt?«, schrien Esther, Christoph und Nachum.

»Nicht geholt.«

»Warum denn nicht? Hast du Angst gehabt?«

»Wo habt Ihr sie denn gesehen?«, fragte Regine.

»Nicht unter dem Galgen, sie wächst ganz normal an trockenen Berghängen in Italien. Ihre Blätter erinnern etwas an Rübenkraut. Ich habe zugeschaut, wie die Leute sie herausgemacht haben.«

»Und du bist nicht gestorben?« Esther hatte alle Finger im Mund.

»Ich bin nicht gestorben, du kannst es sehen.«

»Und wie – wie war das Schreien?«, fragte Esther atemlos.

»Es hat nicht geschrien, denk dir. Es war alles ganz still.«

»Vielleicht waren es gar nicht die richtigen Wurzeln – es waren gar keine echten Mandragora.«

»Doch, doch. Jedenfalls wurden sie von den Händlern aufgekauft und weggeschafft. Es waren wirklich Mandragorawurzeln: Ich habe sie in der Hand gehalten und mir genau angeschaut.«

»Es ist alles nur Gerede?« Philo begann einen Ball hochzuwerfen.

Wieder war Löb aufgestanden und hatte ein anderes Buch geholt: »Hier ist sie abgebildet, die Mandragora, euere Wurzel Alraune. Ihr könnt mir schon glauben.«

Sie starrten atemlos hinein: Wieder war die Schrift hebräisch. Ein Kraut war gemalt mit dicken, adrigen Rübenblättern und einer Wurzel, die sich spaltete und aussah, als würde ein Mensch die Beine kreuzen. Aus diesen Beinen wuchsen Haare heraus, die wie Menschenhaare aussahen.

»Ich habe sie bei Padua gesehen, sie wächst aber vor allem in Apulien am Berg Galgano oder Gargano, das mag der Sage vom Galgen Nahrung gegeben haben.«

»Also kein wirkliches Mittel gegen die Pest.« Esther sagte es traurig.

»Ich fürchte, es gibt so leicht kein Mittel gegen die Pest«, antwortete Löb.

»Dann sollte man den Betrügern aber gründlich das Handwerk legen«, sagte Nachum wütend.

»Ob die echte Mandragora gegen die Pest hilft, kann sicher kein Mensch sagen, sie muss ja schon nützlich sein, wenn das Wissen um sie so alt ist«, mahnte Löb, »aber diese nachgemachten, von denen Regine erzählt hat, helfen sicher nichts. Ich weiß übrigens, wie man sie macht: Man schnitzt die Figur, die ihr gesehen habt, aus einer Rohrwurzel, bohrt kleine Löchlein hinein und steckt in diese Löcher Gerstensamen. Das Ganze pflanzt man in heißen Sand, sodass die Gerste schnell keimt und ihre Wurzelfasern zu den Löchern herausstreckt – «

»Und das sind dann die Haare der Mandragora«, ergänzte Philo. »Das hilft freilich gegen keine Krankheit.«

»Nur diesem dicken Herrn mit seinen Knopfaugen. Dem helfen sie schon: Den machen sie reich!«, schloss Regine lachend.

»He, sagtest du dicker Herr und Knopfaugen? Ist das so ein rundlicher, kleinerer Kerl mit aufdringlicher Kleidung?«, fragte Philo aufgeregt.

»Klein, rundlich, würde ich sagen, und mit vorstehenden Augen, fast so wie bei einem Frosch«, nickte Regine.

Philo, Christoph und Esther tanzten in der Stube herum.

Die Tage wurden kürzer. Ein weißes Licht lag in der Luft. Abends verschwammen die Gassen im Dunst. Die Bauern brachten Obst und Nüsse auf die Märkte der Stadt. Ein Geruch nach fauligen Äpfeln und gärendem Saft erfüllte die Gassen. Die Straßen und Plätze wurden schmierig. Der Gestank des Gerberviertels drang zwischen die Häuser. Die ersten Blätter wurden gelb.

Zwei große Feste standen bevor und Esther und Nachum redeten von Rosch ha Schana und Jom Kippur.

»Kennst du nicht«, sagte Nachum, »Rosch ha Schana heißt Neujahr. Das und Jom Kippur sind unsere größten Feste.«

»Das schönste Fest ist aber das Chanukkafest«, Esther lächelte Christoph an, »es ist nicht mehr lange bis dahin, wenn erst einmal Rosch ha Schana und Jom Kippur waren.«

»Erst kommt Rosch ha Schana, das Neujahrsfest«, sagte Nachum streng. »Wir haben jetzt das Jahr fünftausendeinhundertneun und in wenigen Tagen werden wir das Jahr fünftausendeinhundertzehn haben. Es ist die Zahl der Jahre nach der Erschaffung der Welt.«

»Wir rechnen die Zahl der Jahre nach der Geburt des Heilands«, sagte Christoph unbekümmert; »heute ist das Jahr dreizehnhundertachtundvierzig. Nach unserem Neujahrsbeginn am Weihnachtstag wird das Jahr des Heils dreizehnhundertneunundvierzig sein.«

»Die Erschaffung der Welt ist wichtiger als euer Heiland.« Nachum rümpfte die Nase.

Esther sah Christoph lange und flehend an. Dann sagte sie: »An unserem Neujahrsfest tauchen wir Äpfel in Honig und schenken sie einander, damit das neue Jahr süß wird. Und einen Tag nach Jom Kippur bauen wir die Laubhütten für das Laubhüttenfest, darin wohnen wir dann zusammen.« Ihre Stimme zitterte etwas.

Nachum sagte laut und fest: »Rosch ha Schana ist die Zeit des Gerichts. Drei Bücher werden an diesem Tag geöffnet: In das Buch des Lebens werden die Gerechten eingeschrieben, in das Buch des Todes die Gottlosen.« Er verzog den Mund. »In das dritte kommen die Mittelmäßigen.«

»Zehn Tage«, sagte Esther leise, »haben die Ungerechten Zeit durch Reue ihr Schicksal zu wenden. Bis zum Jom Kippur Tag, dem Tag der Versöhnung.«

Sie schaute Christoph eindringlich ins Gesicht, dann ging sie schnell hinaus.

Nachum redete weiter: »Zwei Tage feiern wir Rosch ha Schana. Es beginnt damit, dass in das Schofar, ein Widderhorn, geblasen wird. Damit wird zur Umkehr ermahnt. So etwas gibt es bei euch Christen nicht.«

»Doch«, sagte Christoph, »wir können auch zu Gott umkehren, wenn wir gesündigt haben.«

Es dämmerte Christoph erst langsam, warum Esther so schnell gegangen war. Er lag noch lange wach.

Wir gehören zusammen, etwas anderes wollte er nicht denken. Jude sein. So einfach ist das nicht. Er wälzte sich hin und her. Jeder Mensch hat seinen Glauben! Schon als Kind war ihm der Glaube an Jesus Christus den Erlöser gelehrt worden. Chanukka – im Dezember war Weihnachten. Wie konnte man nicht Weihnachten feiern?

Er wollte nicht daran denken. An Esther wollte er denken. Die Mutter hatte Pfefferkuchen gemacht an Weihnachten. Äpfel und Nüsse gab es und Backpflaumen, der Vater hatte einmal für jeden eine gedörrte Feige gebracht. Er starrte in die Dunkelheit. Wenn er sich bewegte, knisterte das Stroh, auf dem er lag. Die Decken waren weich, mit denen er sich zudeckte, der Strohsack, auf dem er lag, war hart.

Esther. Er wollte sich ihr Gesicht vorstellen, wie sie lachte. Er wollte ihren Kuss auf seinen Lippen spüren, aber er sah nur die Schwärze der Nacht. An Esther denken. Er drückte die Bettdecke an sich. Esther – es gab nur eins: Esther. Nichts denken, nicht daran rühren.

Der alte Abraham strich Esther über die Haare.

»Du hast nicht recht gehandelt, und das weißt du. Sonst wärst du nicht zu mir gekommen.«

»Ich habe doch noch gar nichts gesagt. Woher weißt du?«

»Liebes Kind – ich müsste blind sein. Ich müsste taub sein. Ich müsste ein fühlloser Stein sein, wenn ich nicht schon längst wüsste, was mit meinem liebsten Töchterchen geschehen ist.«

Sie drückte ihr Gesicht in die Falten seines dunklen Samtgewandes und sprach fast unhörbar: »Ich liebe ihn. Ich kann nichts dagegen tun. Was soll ich denn machen, wenn es unrecht ist?«

»Wer sagt denn, dass es unrecht ist?«

»Du, Großväterchen, du hast gerade gesagt, dass ich nicht recht gehandelt habe.«

»Liebes Kind. Liebe kann nie unrecht sein. Das musst du dir merken. Sie kommt von Gott und ist das kostbarste Kleinod, das er den Menschen geschenkt hat. Wie kann sie da unrecht sein?«

»Ach, du weißt doch. Quäl mich doch nicht.«

»Wie kann ich dich quälen? – Es kann doch nicht wehtun, wenn ich meinem Enkelmädchen sage, dass ihre Liebe niemals unrecht ist.«

»Aber etwas ist doch unrecht, du hast es doch gesagt!«

»Es ist unrecht, wie du mit Christoph umgehst.«

»Wieso? Wie gehe ich denn –?«

Abraham strich ihr sanft über das Haar: »Du hast zu Christoph gesagt, er müsse Jude werden, und dann wollt ihr heiraten. Du hast ihm die bevorstehenden Festtage erklärt und von den drei Büchern gesprochen und vom Gericht und von Reue und von Jom Kippur, von Versöhnung und von Chanukka – «

Esther hob den Kopf: »Du hast gelauscht – das tut man nicht.«

»Wie kann ich lauschen, mein liebes Kind, wenn ich mich nicht von der Stelle bewegt habe? – Muss ich dir Zeugen benennen?«

»Aber woher –?«

»Weil ich mein Mädchen kenne. Ich habe ja ein halbes Jahr Zeit gehabt, um mein Enkelkind kennen zu lernen. Und du bist mir das Licht in der Vertreibung geworden, der Honigapfel, den du mir an Rosch ha Schana schenken wirst für die Süße des nächsten Jahres. Aber du musst nicht weinen.«

»Was soll ich denn machen?«, schluchzte sie. »Er ist doch kein Jude. Aber er muss doch einer sein – «

»Und das hast du einfach so zu ihm gesagt? Und alles andere auch?«

»Ja, aber was denn dann?«

»Er ist von unserer Hilfe abhängig. Also ist er nicht frei. Wir retten ihm das Leben, also muss er uns dankbar sein. Er isst unser Brot und schläft in unserem Bett. Er ist in allem nicht frei. Willst du, dass er unter diesem Druck etwas so Wichtiges wie den Glauben wechseln soll, ohne es wirklich zu wollen?« Er hatte ihr gleichmäßig die Wange gestreichelt.

»Nein, das ist unrecht. Du hast Recht.«

»Dabei habe ich den stärksten Zwang noch weggelassen.«

»Was denn?«

»Die Liebe. Er liebt dich nämlich. Ich weiß es.«

»Heute hätte ich fast Zweifel bekommen«, sie redete schnell weiter, »aber nicht wirkliche Zweifel«, sie verbarg ihr Gesicht, »du glaubst mir doch, Seidele! Aber er redete so, als würde es mich gar nicht geben, als er von seinem Heiland sprach und von der christlichen Zeitrechnung.«

»Deine Wangen glühen ja. Willst du, dass dein Geliebter ein Zweig im Wind ist?«

»Aber was denn dann?«

»Was zusammengehört, muss erst zusammenkommen. Dann darf nichts euch trennen – nicht einmal Nachum.« Er lächelte. »Dein Geliebter, mein liebes Kindchen, braucht Zeit. Er muss frei werden von dem fürchterlichen Zwang, der auf ihm liegt, ich meine die Bedrohung durch die Verbrecher. Erst dann kann er frei werden von dem Zwang, den wir auf ihn legen mussten, um ihn zu retten.«

»Und bis dahin?«

»Bis dahin sollte auch der Zwang, den deine Liebe auslöst, ihn nicht zu sehr einengen. Sei lieb zu ihm, das fällt dir leicht. Sei wirklich lieb zu ihm, Kind, und das ist sehr, sehr schwer. Ich weiß, dass es fast unmöglich ist. Aber ich weiß, dass du klug bist und stark im Herzen, wie es Esther war, die wir am Purimfest feiern, an dem dein Christoph zu uns gekommen ist.«

»Ach, Seidele, du bist so gut.«

»Ich werde mit deinem Vater reden. Aber ich bin sicher, dass er schon längst alles weiß und so denkt wie ich. Und du musst mit Christoph reden. Aber so, wie es die wirkliche Liebe verlangt, die freie Menschen will, und nicht so, wie du mit ihm geredet hast.«

Die beiden höchsten jüdischen Festtage waren vorüber.

Löb hatte mit Esther geredet und Esther hatte mit Christoph geredet. Viel Zeit musste ins Land gehen. Das wussten sie. Inzwischen durften sie sich zwar sehen wie sonst, aber nicht allein miteinander sein.

Esther dachte an das, was ihr der alte Abraham gesagt hatte.

Es war schwer für Christoph, aber er fühlte ihre Liebe in jedem Blick.

Philo und Christoph fuhren mit den zwei Fähren über den Rhein und gingen nach Offenburg. Christoph war nicht mehr so gefährdet, seitdem er als tot galt. Dennoch hatte ihm Esther ein Tuch um die Haare gewunden.

Sie gingen als Lehrjungen – nicht als Bettler.

Nachum musste zu Hause bleiben, worüber er schimpfte.

»Zwei fallen weniger auf«, so hatte es Löb bestimmt.

Der alte Abraham hatte sie gesegnet.

Christoph holte tief Luft, als er aus dem Hause in das Viertel der Juden trat.

Aber der Himmel war hell, die Bäume hatten bunte Farben angenommen, als sie aus dem Stadttor traten, und leuchteten unter einem strahlend blauen Himmel, als würden sie ihn besonders festlich wieder in der freien Natur begrüßen. Ein frischer Wind wehte.

»Wenn er überhaupt noch in Offenburg ist – «, begann Christoph.

Philo hatte ein dickes Bündel über der Schulter hängen: »Hoffentlich!«

Sie standen im klaren Wind auf der Fähre über der freien Fläche des Rheins, sahen die gelben Auwälder an beiden Ufern, die weißen Kiesbänke und dahinter die blaue Mauer des Schwarzwaldes. Christoph brauchte alle Kraft, um nicht ständig an seinen Vater zu denken.

»Löb hat mir sechs Schillinge mitgegeben, davon könnten wir das schönste Leben führen.«

»Ja, Löb ist großzügig wie selten einer. Du hast unerhörtes Glück gehabt.«

»Ich weiß«, sagte Christoph leise und dachte an Esther.

»Wenn wir den Kerl haben, wird es nicht ungefährlich.«

Die Fähre war gedrängt voller Menschen. Es wurde über die Pest geredet und über die Judenplage.

»Was soll man denn tun?«, fragte Philo harmlos.

»Fortjagen!«, meinte eine dicke Marktfrau, die mit ihren Röcken breit auf einigen Körben saß, als wolle sie die ausbrüten.

»Verbrennen!«, sagte ein Schmied, der einen Sack Kohlen vor sich hielt. »Bei euch in Straßburg sind ja nur Judenfreunde im Rat. Da ist der Herr Dopfschütz samt seiner Freunde, der holt sich Berge von Geld von den Juden, da muss er ihnen ja schöntun! Kannst du dir denken!«

»Denken, ja, das sollte man wirklich, wenigstens manchmal!«, sagte Philo.

Das Marktweib kicherte: »Erst holen, dann abschaffen. So würde ich es machen. Wer wird denn die teuren Zinsen bezahlen!«

Christoph konnte kaum an sich halten: »Die Zinsen – «, begann er.

Aber Philo hielt ihn zurück. »Bist du verrückt«, flüsterte er, »wir dürfen nicht auffallen.«

»Jemand muss ihnen doch sagen, dass die Juden die zwanzigfache Steuer der Christen bezahlen müssen, da müssen sie doch hohe Zinsen verlangen. Und Christen dürfen keine Zinsen nehmen und sind auf die Juden angewiesen. Es muss ihnen doch jemand sagen!« Christoph flüsterte hastig und erregt.

In Offenburg war kein dicklicher Herr mit Knopfaugen und falschen Mandragorawurzeln.

Sie fragten die Leute: »Weißt du, wo man Alraunenwurzeln kaufen kann? Unsere Eltern haben uns hergeschickt. Gegen die Pest.«

»Ihr habt wohl kaum genügend Gel?«, sagte ein älterer Handwerkermeister, ein Schneider, der sich Äpfel aussuchte. »Aber der Mann mit den Alraunen ist nicht mehr da – schon seit zwei Wochen nicht mehr. Ich habe mich eingedeckt für die ganze Familie. Uns kann nichts mehr geschehen. Aber das war teuer, kann ich euch sagen. Ich würde nach Straßburg oder Speyer gehen oder sonst eine der großen Städte.«

Das Apfelweib mischte sich ein: »Ich bin nur eine einfache Bauersfrau und verstehe nichts von diesen Dingen. Gegen die Pest kann ich mich nur auf mein Gebet verlassen. Aber am besten ist es, wenn ihr euer Geld spart. Da war ein gelehrter Herr, der hat gesagt, dass die Wurzeln falsch sind, und ob die richtigen helfen, weiß man nicht.«

»Ich kaufe meine Äpfel woanders, danke!«, sagte der Schneidermeister und ging rasch weiter.

»Hier, dort drüben hatte er seinen Stand. Er hat Wurzeln verkauft und er hat Geld eingenommen, wie ich es noch nie gesehen habe. Da muss einer jahrelang viele Wagenladungen Äpfel verkaufen, bis er so viel Geld zusammenbringt. Mich wundert nur, dass er nicht nach Straßburg gegangen ist. Da hätte er noch mehr verlangen können.«

»Wie sah er denn aus?«

»Was weiß ich! Klein, dick. Genau genommen sah er aus wie ein Frosch mit breitem Maul. Er hat es sehr geschickt gemacht: Er hatte einen großen Stand mit einem Dudelsackspieler, den er bezahlt hat. Der ganze Stand war bedeckt von Pergamenten – darauf stand angeblich, wie gut die Alraunen gegen die Pest sind. Ich weiß es nicht – ich kann nicht lesen. Aber er hat seine Waren so laut ausgeschrien, dass wir anderen mit unseren Kohlköpfen und Zwiebeln gar nicht mehr da waren.«

»So hat er das Blutgeld also vermehrt, der Mörder«, sagte Christoph leise zu Philo.

Der hatte plötzlich fünf Äpfel in der Hand und wirbelte sie durch die Luft.

Die Apfelfrau hatte große Augen: »Wo hast du denn das gelernt?«

Philo legte die Äpfel in den Korb zurück.

»Du darfst sie behalten. Das war es wert.«

Ein kleines Männlein kaufte Äpfel.

»Er hatte auch eine große, bunt gemalte Tafel, darauf war ein kranker Mann mit lauter Beulen am ganzen Körper, wie er gerade von dieser Wurzel isst, und dann hat er plötzlich keine Beulen mehr und ist ganz gesund. Aber das ist ein Schwindel, hat der vornehme Herr gesagt. Und er ist der Leibarzt des Grafen. Dem glaube ich mehr.«

»Gibt es in Offenburg Juden?«, fragte Philo.

»Es gibt welche, sie haben sogar eine Synagoge. Die armen Menschen! Sie sollen an allem schuld sein. An der Pest und an allem! Es weiß ja niemand, woher die Pest kommt. Woher wollen sie dann wissen, dass sie von den Juden gemacht wird?«

»Aber vergiften sie nicht die Brunnen?« Philo kratzte sich am Kopf.

»Das wird gesagt. Aber ich glaube es nicht. Ich kenne ein paar Juden – die vergiften keine Brunnen, da lege ich die Hand in das Feuer. Man muss nicht jedes Geschwätz glauben. Da gibt es Schlimmere; dieser Mann mit den falschen Wurzeln – der hat mir keinen guten Eindruck gemacht! Unter dem Galgen will er die Wurzeln geholt haben. So viele Galgen gibt es gar nicht, wie der Wurzeln hatte. Wenn er nur nicht selbst an den Galgen gehört. Geschrien haben sollen die Wurzeln. Ich habe noch nie eine Wurzel schreien hören. Aber sein Geschrei! Davon konnte man krank werden.«

Christoph und Philo lachten.

Sie lachte mit: »So, da hat jetzt jeder von euch noch einen Apfel, ihr seid zwei nette Burschen. Werft sie aber nicht in die Luft! Geht nach Hause und sagt eueren Eltern, sie sollen das teure Geld sparen. Äpfel sind gesund und billig, das weiß man gewiss. Ich muss weitermachen.«

»Solche Leute sollte es viel mehr geben«, sagte Philo und biss herzhaft in einen Apfel. »Schmeckt gut.«

»Was jetzt?«, fragte Christoph.

»Was jetzt? – Er ist in Lahr, in Speyer, in Worms, in Freiburg, in Stauten. Wir können die ganzen Städte am Rhein auf und ab suchen. Und genau das können wir nicht.«

»Vielleicht ist der Frosch ja sogar wieder in Straßburg.«

»Vielleicht auch in Stuttgart – wer weiß?«

Philo ließ drei Äpfel in der Luft tanzen: »Wart mal.«

Er ging wieder zu der Apfelfrau, Christoph folgte ihm zögernd.

»Wie viele Wurzeln hatte dieser Frosch denn noch, als er zusammenräumte?«

»Ausverkauft. Er war ganz ausverkauft. Das sollte mir einmal passieren! Lieber bleibe ich ehrlich. Dudelsackpfeifer!«

»Da haben wir es: Ausverkauft!«, sagte Philo fröhlich. »Der Mann braucht neue Ware. Und die holt er nicht unter dem Galgen und auch nicht aus Italien vom Berg Galgano und einen schwarzen Hund braucht er auch nicht dazu.«

»Rohrwurzeln«, sagte Christoph zögernd, »man schnitzt die falschen aus Rohrwurzeln, das hat Löb gesagt. Dann bohrt man kleine Löcher hinein und lässt Gerstenkörner darin keimen.«

»Richtig. Wenn wir gar nicht mehr weiterwissen, dann fälschen wir Alraunen. Sehr einträglich.«

»Wo gibt es Rohrwurzeln?«, fragte Christoph.

»Überall, wo es Rohr gibt. Das ist fast überall am Rhein.«

»Schade, dann hilft es uns nicht weiter«, meinte Christoph traurig.

»Eben.«

Am nächsten Morgen war kein Markt, dennoch saß ein einäugiger Bettler vor der Kirche und jammerte zum Steinerweichen.

Christoph saß auf einem Mäuerchen bei der Kirche. Die Sonne schien ihm warm auf den Rücken. Die ersten Blätter fielen.

Esther! Er hatte Sehnsucht nach Esther, seit er in Straßburg zum Tor hinausgewandert war. Sie hatten in den Tagen zuvor miteinander geredet. Der alte Abraham hatte zu Esther gesagt, dass man erst zusammenkommen müsse, um zusammenzugehören. Wir gehören einfach zusammen! Schluss.

Christoph wurde aufmerksam. Ein Bettler hatte sich zu Philo gesetzt. Ein halb lahmer, noch recht junger Mensch. Philo winkte Christoph heran. Endlich gehörte er einmal dazu!

Die beiden Bettler kannten sich: »Das ist Matthes, wie du siehst, ist er lahm, auf welchem Bein doch gleich?«, grinste Philo.

»Auf welchem du willst«, lachte Matthes, »es ist wie mit deinen Augen.«

»He, da tust du meinen Augen Unrecht. Ich bin immer auf dem selben Auge blind.«

»Berufsehre!«

»Das ist Christoph.« Sie reichten sich die Hand.

»Matthes weiß interessante Dinge über den Frosch.«

»Wie war das mit dem Frosch? Dem Mörder und Betrüger?«

»Ich weiß, wo er ist«, sagte Matthes schlicht.

Gegen Abend wurde die Luft dunstig, dann war der Nebel dick geworden, als die beiden aus der Stadt hinausschlichen.

»Wir müssen uns ganz auf den Schreck verlassen«, meinte Philo, »sonst werden wir nichts erfahren.«

»Er wird sich hüten seine Hintermänner preiszugeben.«

»Und diesen Schreck müssen wir sorgsam einteilen.«

»Was heißt das?«

»Das heißt, dass ich es zuerst alleine versuchen muss.«

»Nicht daran zu denken!«, erwiderte Christoph.

Schließlich setzte sich aber Philo durch.

So saß Christoph wieder einmal alleine und schaute in die Nacht hinein. Nicht einmal die allernächste Umgebung war erkennbar. Der Nebel hatte alles verschluckt. Er wartete auf Hundegebell. Nichts rührte sich.

Aus dem Nebel schaute ihn Esther an.

Philo schlich durch die Nacht. Er war auf den Hund gespannt. Denn dass der Frosch hier draußen ohne Hund hausen sollte, das war nicht denkbar.

Aber sind Hunde ein Problem?

Nasses Gras, nasse Sträucher, alles nass. Der Weg mit Steinen gepflastert wie die Auffahrt zu einem großen Herrn. Aber er wusste, dass von der ehemaligen Burg nur noch ein Stall übrig war. Es roch nach faulem Obst und nach verdorbenem Gemüse.

Da, ein Licht. Es sickert heraus wie durch Milch. Er schläft also noch nicht. Das Licht fällt durch einen Spalt in der Türe. Vorsichtig hineingeschaut. Da sitzt er und schläft, und – kein Hund, wie leichtsinnig! Der Kienspan ist gleich heruntergebrannt. Da wollen wir den Herrn doch rechtzeitig wecken!

Ist er alleine? Ein Raum ziemlich groß, soweit man das durch den Spalt ahnen kann. Aber auch ziemlich leer. Wenige Möbel, der Herr! Einiges Gerät steht in der Ecke, ein Spaten, einige Messer. Aha!

»Guten Abend, der Herr, darf man eintreten?«

Wie der hochfährt!

»Die Hand lassen wir jetzt schön vom Gürtel, Herr Frosch! Man kann nicht immer mit dem Dolch arbeiten.«

»Was willst du? Wer bist du?«

Herein mit mir in die gute Stube!

Verdammt, jetzt hat der das Licht ausgeblasen! Nicht ungeschickt. Die Schlacht findet also im Dunkeln statt. Hereinspaziert, meine Damen und Herren! Also in die Knie gegangen und seitwärts abgerollt. Ganz still liegen. Dort drüben ist er. Wie laut der sich bewegt, da hätte er gleich das Licht anlassen können. Trotzdem: Vorsicht – er hat einen Dolch und er kann damit umgehen. Näher, noch näher, ganz, ganz nah, und den Atem schön angehalten. Wenn der wüsste, dass ich ihm jetzt jederzeit eine runterhauen könnte! Sein Atem – hat der Angst! Angst ist ein schlechter Ratgeber, Herr Frosch. Da, hab ihn schon. Wie leicht knickt der Mensch in den Kniekehlen ein, wenn einer etwas davon versteht! Wie fett der ist! Und wie schwer! Da ist ja auch das Messer. Man muss nur den Griff können, dann lässt der andere es auch schon fallen. So, jetzt gehört es mir.

»Wenn ich wieder um Beleuchtung bitten dürfte. Dort drüben ist noch etwas Glut und wir wollen nicht sparen. Es sind sicher auch Kerzen in einem so reichen Haushalt. So ist es recht.«

»Was willst du von mir? Ich habe dich noch nie gesehen.«

»Stimmt nicht. Aber das ist unwichtig. Du hast meinen Freund erstochen und bist jetzt dran, du Frosch!«

»Wer soll das sein?«

»Hast du verschiedene zur Auswahl, du Lump?«

»Ich habe niemand erstochen. Ich bin ein ehrlicher Händler.«

»Das sagen alle.«

»Ich habe noch nie einen Menschen erstochen. Ganz bestimmt nicht!«

»Ich will ihn dir beschreiben: ein Junge, nicht ganz so dünn wie ich, dafür etwas kleiner, aber nicht viel, auch etwas jünger, aber auch nicht viel. Er hat schwarze buschige Haare und blaue Augen. Na, kommt er dir bekannt vor?«

Toll, wie ich mit zwei Bällen und einem Dolch gleichzeitig jonglieren kann! Das sollte jetzt Balthas sehen.

»Wird’s bald!«

»Kenn ich nicht!«

Schade, dass das Licht so trübe ist. Aber vielleicht wird er längst nicht mehr rot, wenn er lügt.

»Kennst du nicht? Was könnte denn jetzt dein Dolch aus dir machen? Soll ich dich zur Alraune zerschneiden, du fetter Zwerg?«

»Leute wie du erstechen niemand.«

Leider ein guter Menschenkenner.

»Und jetzt verschwinde. Ich habe mächtige Verbündete. Wenn du mich auch nur anrührst, wirst du es bitter bereuen.«

»Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Was würdest du davon halten, wenn morgen ganz Offenburg wüsste, wie du hier Alraunen aus – lass mal sehen – Rübenwurzeln schneidest und sie mit Dudelsackmusik teuer verkaufst? – Junge, der Galgen wartet schon.«

Macht er ganz geschickt, diese Alraunen aus Rüben.

»Morgen kann ich weit sein.«

»Ich reise dir nach. Mein Freund ist mir das wert. Ich lasse dir keine Ruhe mehr. Ich erzähle jedem, was du für ein Betrüger bist. Schließlich sorge ich dafür, dass du an den Galgen kommst.«

»Das war nicht ich.«

»Nicht du? – Du hast doch dafür kassiert!«

»Es war ein anderer. Er wurde dafür bezahlt.«

»Nicht du wurdest bezahlt? Woher weißt du denn dann das alles?«

»Ich – «

»Du hast den getötet, dem du das Blutgeld hättest geben müssen. Du hast ihn in der Nacht in Straßburg auf den Gedeckten Brücken erstochen und in die Ill geschmissen.«

»Woher weißt du –? Glaubst wohl – «

»Ich glaube nicht – ich weiß! Ich weiß, dass alles wahr ist, was ich gesagt habe. Und du weißt es auch. Ich will das auch gar nicht von dir wissen, das musst du mit dir selbst ausmachen. Ich will bloß wissen, wo der Junge hingeworfen worden ist. Und ich will wissen, von wem du das Blutgeld hast!«

»Das Erste weiß ich nicht. Er wird ihn auch in die Ill geschmissen haben. Das Zweite kann ich dir nicht sagen.«

»Warum nicht? Du weißt, was ich mit dir mache, wenn du es mir nicht sagst.«

»Ich sage es dir nicht. Du kannst machen, was du willst.«

»Ich bringe dich an den Galgen, wie ich gesagt habe.«

»Wenn es so ist, dann hängst du zuerst dran.«

Der Mann schien verändert, er schien auf einmal sehr sicher zu sein, ein hässliches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Philo überlegte. Da stand auf einmal das nächtlich beleuchtete Haus vor seinen Augen.

»Was weißt du über ein Haus, das nachts beleuchtet ist, als stünde die Ankunft des Herrn bevor – in dem aber kein Mensch zu sehen ist?«

»Wa-was weißt du über den kleinen Turm?«

Mehr war nicht zu erfahren. Philo stand wie vor einer Wand.

Später sagte er zu Christoph: »Das nächste Mal kommt es allein auf dich an. Dann kommt dein großer Auftritt, das kann ich dir fest versprechen!«

Das Haus Löbs war in heller Aufregung. Ein Brief von Elieser war angekommen. Jüdische Kaufleute hatten ihn aus Prag mitgebracht.

Esther weinte, als Christoph sie sah, gab ihm aber einen Kuss auf die Wange, was sie noch nie getan hatte: »Ich freue mich so, dass du wieder da bist.« Sie griff nach seiner Hand und ließ sie lange nicht los. »Hier ist es sehr schlimm. Hannah ist schon abgereist!«

Gegen Abend traf sich die ganze Familie in der Stube, Christoph wurde von einem sehr finsteren Nachum dazugeholt.

Löb begann: »Wie wir anderen bereits wissen, gibt es Schwierigkeiten mit dem Straßburger Bürgerrecht Eliesers. Der kaiserliche Hof hat ihn zuerst lange hingehalten, der Bürgerbrief wird immer teuerer. Kaiser Karl braucht Geld, dazu noch ist er sehr verschuldet bei den Juden in Nürnberg und in anderen Städten. Ich weiß das und Elieser deutet es an. Er schreibt weiter, ein Brief an den Rat der Stadt Nürnberg werde vorbereitet, in dem der Stadt bedeutet werde, sie sei straffrei, wenn es zu Übergriffen gegen die Juden komme! Das ist eine direkte Aufforderung zum Mord an den Juden. Der Kaiser will von seinen Schulden weg! Und das ist so gut wie eine Aufforderung an alle Städte im Reich!«

»Dabei ist der Kaiser zu unserem Schutz verpflichtet. Der Kaiser als Mörder!« Nachums Augen sprühten vor Zorn.

»Woher weiß Elieser von dem Brief an die Stadt Nürnberg?« Christoph war rot geworden.

Nachum funkelte ihn an: »Glaubst du Elieser etwa nicht?«

»Das hat nichts mit Glauben zu tun. Mein Vater hat einmal gesagt, nirgends gebe es mehr Gerüchte als am kaiserlichen Hof. Deshalb – «

»Du brauchst nur mit offenen Augen und Ohren durch Straßburg zu gehen, dann weißt du schnell, was wahr ist!« Nachum warf den Kopf in den Nacken.

»Leider, Christoph. Wir müssen es glauben: Elieser schreibt, er habe es aus einer zuverlässigen Quelle, von einem Juden, der bei Hofe ein und aus gehe und die kaiserliche Kasse mitverwalte.«

Vor allem enthielt Eliesers Brief die dringende Aufforderung an die Familie Straßburg zu verlassen.

Löb las vor: »Der König von Polen bietet den Juden eine Vielzahl von Privilegien. Man weiß in Prag, dass aus dem ganzen Reich schon viele Juden in den Osten fliehen, in die Hauptstadt Krakau, wo das Schloss des Königs steht, und dann noch weiter in den Osten, wo die Menschen bereits russisch sprechen.«

Löb unterbrach sich, dann berichtete er weiter: »Elieser bittet also die ganze Familie dringend Straßburg zu verlassen: Man könne sich in Prag treffen, wo es eine sehr große und reiche jüdische Gemeinde gebe, die aber bei der Einstellung des Kaisers zu den Juden auch bereits gefährdet sei. Dann könne man gemeinsam in den Osten gehen und das Geschäft neu aufbauen, das Kapital könne man durch Briefe nach Prag in Sicherheit bringen, er habe alles vorbereitet. Der König von Polen biete Handelsprivilegien, von denen man im Reich nur träumen könne.«

Löb schwieg.

Nachum war sofort Feuer und Flamme: »Gut so – nach Polen, weg von den Christen!«

»In Polen gibt es genauso Christen wie hier im Reich.« Ein Lächeln huschte über Löbs Gesicht.

Esther schaute Christoph an. Man sah, wie sie dagegen ankämpfte, etwas zu sagen.

Christoph empfand eine eigenartige Unruhe: War das die Lösung? Im Osten war nicht nur die Familie Löbs sicher, dort war auch er sicher. Dort kannte ihn niemand.

Ganz neu anfangen und mit Esther!

Der alte Abraham erhob sich: »Christoph hat uns noch gar nicht berichtet, was die beiden in Offenburg ausgerichtet haben.«

Damit war das Thema Auswandern vorerst beendet.

Christoph begann sehr unsicher: Wie unwichtig erschien das alles auf einmal.

»Leider gibt es nicht viel zu sagen: Er ist wirklich der zweite Mörder, das steht fest.«

»Und – habt ihr herausbekommen, wer hinter den Morden und deiner Verfolgung steht?« Löb hatte sich nach vorne gebeugt.

»Das hätte ich gleich gesagt«, fuhr Christoph fort. »Als Philo ihn zum Geständnis des Mordes gebracht hatte und nun weiterfragte – da war auf einmal eine Mauer. Der Frosch wurde sehr sicher, frech und übermütig und keine Drohung half mehr. Plötzlich war es, als hätte er mächtige Helfer, sodass er vor uns keine Angst zu haben brauche.«

»Was genau hatte denn Philo gefragt, als der auf einmal so sicher wurde?«, fragte Löb gespannt.

»Ich war ja nicht dabei, schade, dass Philo nicht da ist, ihr könnt ihn ja noch selbst fragen. Aber ich habe es so verstanden, dass der Kerl wirklich Angst hatte, als Philo ihm drohte, dass wir sein Geschäft mit den Alraunen zerstören würden. Auch die Drohung, ihn an den Galgen zu bringen, hatte anfänglich offenbar noch Wirkung gezeigt. Aber als Philo nach dem Auftraggeber fragte, schien er wie verwandelt, herausfordernd und selbstsicher.«

»Was heißt das?«

»Vater, haben wir nicht wichtigere Dinge zu besprechen?«, unterbrach Nachum finster.

»Die Jugend kann noch nicht erkennen, was wichtig ist, lieber Nachum. Du musst dich noch ein klein wenig gedulden«, sagte Abraham müde.

»Ich kann es sagen«, antwortete Esther. »Als er persönlich bedroht war, bekam er es mit der Angst zu tun. Als aber der Auftraggeber hineingezogen wurde, da wusste er, dass der ihm helfen würde, weil sich dann der Auftraggeber selbst verteidigt.«

»Und das wohl mit Macht, ich meine mit wirklicher Macht«, sagte Löb, »auch hier ist wieder diese Macht spürbar, vor der wir immer wieder stehen und die so undurchschaubar ist.«

»Man rennt dagegen an wie gegen eine Mauer, von den Zahlen ganz zu schweigen.«

»Hat der Frosch sonst nichts gesagt?«

»Er hat noch etwas von einem kleinen Turm gesagt.«

»Kleinen Turm?«

»Als Philo ihn nach dem leeren Haus gefragt hat, das in der Nacht so erleuchtet war, ist er erschrocken: ›Was weißt du vom kleinen Turm?‹«

»Woraus wir schließen können, dass diese Nachricht mit dem Auftraggeber zu tun hat. Das ist nicht viel, aber es ist das Allererste, das sich mit einiger Sicherheit auf den Auftraggeber bezieht. Was für einen kleinen Turm kann er gemeint haben?«

»Einen Turm in der Befestigung vielleicht«, meinte Christoph, »sagt man zu einem der Türme Kleiner Turm?«

»Ich kenne keinen«, sagte Löb.

»Es kann sich auch um den Turm einer Kirche handeln«, überlegte Nachum.

»Ist an dem einsamen Haus mit den Kerzen so etwas wie ein kleiner Turm?«

»Wenn ich es mir genau überlege, so wissen wir wieder einmal gar nichts.« Christoph schüttelte traurig den Kopf.

»Doch, etwas ist deutlich geworden«, sagte Esther, »wir wissen ganz bestimmt, dass das leere Haus mit den brennenden Kerzen in der Nacht etwas mit dem Auftraggeber zu tun hat.«

Später, als der alte Abraham und die alte Esther zu Bett gegangen waren, bestürmte Nachum Löb: »Wir müssen darüber reden.«

»Es gehört sich nicht, Nachum, der Rat der Alten ist uns heilig!«

»Unsere Zukunft muss uns auch heilig sein.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll: Ich meine nicht, dass die Lage der Straßburger Juden so schlimm ist, wie Elieser in seinem Brief meint.« Löb blickte vor sich auf den Tisch.

Esther begann unsicher: »Wäre es nicht auch für Christoph besser, wenn wir alle zusammen auswandern würden?«

Nachum fuhr auf: »Das kann aber doch nicht für uns maßgeblich sein.«

»Ich meine, du wolltest auswandern?«, fragte Esther etwas lauter.

»So kommen wir nicht weiter. Da steht Christoph, und ich verstehe gut, dass er dazu nichts sagen kann«, sagte Löb mit scharfer Stimme.

»Ich bin müde und gehe hinauf.«

»Bleib da, Christoph, wenn wir schon darüber reden – und ich möchte meinen Kindern nicht das Reden verbieten – dann solltest du wissen, was gesagt wird, es betrifft ja auch dich.«

»Ich kann dazu nichts sagen.« Christoph mied den Blick von Esther.

»Du sollst auch nichts sagen. Aber du sollst hören, wie ich darüber denke. Ich meine, dass es aus der Entfernung schlimmer aussieht, als es ist. Auf der Straße ist es schlimm wie überall, aber ich habe Zugang zur Kaufmannsgilde, wenn ich auch nicht mehr Mitglied sein darf.«

»Siehst du, Vater!«

»Aber ich habe gute Kontakte zu allen Mitgliedern. Wir machen Geschäfte miteinander wie immer und ich weiß, dass sehr viele und sehr einträgliche Geschäfte ohne uns Juden nicht laufen könnten. Wir können Geld aufbringen, das sie nicht aufbringen können, weil sie keine Zinsen nehmen dürfen; wir haben Verbindungen, die sie nicht haben. Sie sind gescheit genug uns zu schonen.«

»Ich habe so etwas auf der Fähre gehört«, sagte Christoph, »ein Schmied hat gesagt, dass der Rat in Straßburg von den Juden abhängig sei oder so ähnlich.«

»Da seht ihr es. Ich täusche mich da nicht.«

»Vater, du weißt, was für schreckliche Verfolgungen es schon gegeben hat. In anderen Städten sind sie auch vom Handel mit uns Juden abhängig!« Nachum war aufgestanden. »Aus England hat man schon vor hundert Jahren alle Juden vertrieben. Ebenso aus Frankreich, wo sie unsere heiligen Bücher in riesigen Wagenladungen öffentlich verbrannt haben, allein in Paris fast fünfzig Karren voll! Jeder Jude weiß das. Und wie viel Juden wurden seit mehr als dreihundert Jahren in allen Ländern umgebracht, Vater!« Er stampfte mit dem Fuß auf.

»Setz dich wieder, Nachum, du siehst immer alles gleich zu schwarz! Du bist noch zu jung und zu hitzig und du weißt selbst, wie rasch du dich zu etwas hinreißen lässt.«

Esther runzelte die Stirn: »Sind auf der Fähre Namen genannt worden?«

»Nur einer, soweit ich mich erinnere. Dieser Dopfschütz, von dem einmal gesprochen wurde. Jetzt fällt es mir wieder ein: Er bekomme von den Juden sehr viel Geld.«

Löb lachte befreit: »Das Geld bekommt er ja von mir. Es ist wirklich sehr, sehr viel, mehr als ich jemals jemand geliehen habe. Gerade Herr Dopfschütz ist mir der wichtigste Garant, dass den Juden in Straßburg nichts geschieht. Er wäre strohdumm, wenn er anders handeln würde.«

Christoph wurde es wind und weh: »Da war eine Frau auf der Fähre, die hat gesagt – «, er zögerte, »›Und dann abschaffen!‹ Damit man keine Zinsen bezahlen muss, so würde sie es machen. Wenn schon der Kaiser in Prag – «

»Nur keine Panik«, lachte Löb nun ganz sorglos. »Ich kenne Herrn Dopfschütz schon sehr lange sehr gut, ich habe ihn euch ja schon beschrieben. Er ist ein Mensch, der, wie gesagt, streng rechtlich denkt. Ich muss fast lachen: ausgerechnet Herr Dopfschütz, der nur aus Verordnungen und Vorschriften besteht, die er alle auswendig hersagen kann – ich wiederhole es: Wir sind immer sehr gut miteinander ausgekommen. Herr Dopfschütz kann keiner Fliege etwas zuleide tun.«