"Schwarzer Valentinstag" - читать интересную книгу автора (Bentele Günther)

Für Moritz Herrmann aus Freudental

und seine Familie

Ermordet am 19.05.1944

in Auschwitz

Er wollte nichts sein als

ein jüdischer schwäbischer Bauer


GEWALT

Wie ein schwarzes Auge war das Fenster in Christophs Zimmer. Er wälzte sich im Bett. Auswandern! Nach allem, was er gehört hatte, war es das Beste für alle, auch für ihn. Aber was hätte sein Vater dazu gesagt? Es war doch seine Pflicht, den guten Namen des Vaters und das Geschäft wieder herzustellen, den Tod des Vaters zu rächen! Und es gab ja auch bereits erste Spuren. Sollte man ausgerechnet jetzt aufgeben? Sein Vater war nicht ehrlich begraben worden. Es war Christoph immer, als könne sein Vater nicht in den Himmel kommen, solange sein guter Name nicht wieder hergestellt war. Es war ihm, als schaue sein Vater von irgendwo zu und warte.

Esther! Freilich, alles war sehr schwer, aber leben ohne Esther, die er fühlte, wie er seinen Atem fühlte – unmöglich! Warum wurde sie nicht einfach Christin und ließ sich taufen? Das war doch auch eine Möglichkeit: Juden, die sich taufen ließen, geschah nichts! Sie konnten hier bleiben.

Mehrmals war es ihm, als höre er Schritte auf der Straße, obwohl seine Kammer auf die andere Seite zum Hof und zum Garten hinausging. Aber die Schritte schienen hartnäckig immer vor dem Hause vorbeizugehen. Er hätte schließlich nicht sagen können, was geträumt und was Wirklichkeit war. Irgendwann pochte es an die Türe und er sah wieder, wie sie seinen Vater geholt hatten. Er sah den Vater vor sich, wie er in der Stube in Stuttgart stand und sich einen Umhang überwarf, wie er erhobenen Hauptes gesagt hatte: Ich bin gleich wieder zurück. Wie dann die Türe ins Schloss gefallen war.

Ein Lärm war, ein Rennen die Treppen auf und ab.

Es war hell. Nachum stürmte in seine Kammer: »Das musst du dir anschauen, diese Lumpen, komm sofort mit!«

Esther weinte. Löb ging in der Stube auf und ab. Sonst sah Christoph niemand von der Familie.

Sie gingen durch die Gassen des Judenviertels: An jeder Türe war mit Blut ein großes J gemalt. Über das Portal der Synagoge war ein Schweinekopf genagelt.

Am Tor zur Mikwe stand etwas mit gelber Farbe hingeschmiert. Es war schwer zu lesen:

»Juden Säue Judensäue.«

Die Schrift war eigenartig schief und mit Haken versehen. Es sollte wohl wie hebräische Schrift aussehen.

Christoph erinnerte sich: Sauber ist man vor den Menschen, rein ist man vor Gott.

Das unreinste Tier für die Juden war das Schwein. Das ganze Viertel der Juden war entweiht.

Christoph fühlte sich beschmutzt wie von der Hand des Henkers. Er getraute sich kaum Esther zu berühren.

Da kam ein Mann durch das Viertel der Juden gegangen. Er hatte eine Schrift bei sich und er stellte sich in die beschmierten Gassen und las: »Kund und zu wissen jedermann, besonders aber den ungläubigen Juden: Alle Juden müssen bei Ungnade des Kaisers und der Stadt von diesem Tag an einen gelben Fleck aus Stoff auf die Kleider heften. Er ist anzunähen über dem Herzen. Wird ein Jude ohne diesen Fleck ergriffen, muss er zwölf Gulden Frevel bezahlen und kommt vierzehn Tage in den Turm. Der Fleck muss aus gelbem Stoff geschnitten sein und er muss so angebracht werden, dass er nicht leicht abzureißen ist. Wer aber einen solchen Judenfleck abreißt, wird ebenfalls mit Strafe belegt! Ein ehrbarer Rat der freien Reichsstadt Straßburg. Gegeben am Tag des heiligen Gorgon im Jahre des Herrn 1348.«

Bei Tageslicht unterschied sich das Haus, in dem die Kerzen gebrannt hatten, sehr von den doch auch vornehmen Nachbarhäusern. Es war viel höher und breiter, ein Steinhaus mit einem Ziegeldach und regelmäßig gehauenen Steinen. Das Erdgeschoss hatte einen großen Spitzbogen als Portal, ein Wappen in Stein gehauen stand darüber. Die Steinfenster hatten ebenfalls die Form eines Spitzbogens. Sie waren mit kleinen Rauten verglast, hinter denen erkennbar weiße Tücher vorgezogen waren. Über dem Erdgeschoss bauten sich mächtige Wohngeschosse auf, alle Fensterläden waren geschlossen. In der gepflasterten Auffahrt zum Hof wuchs Gras.

In der Auffahrt war ein schmales Fenster. Ein Blick in die Runde – weit und breit war niemand zu sehen. Philo zog sich am Gesimse hoch. Das Fenster ging in die große Halle, die sie bei Nacht gesehen hatten. Seine Augen mussten sich an das Dämmerlicht gewöhnen. Es war womöglich noch gespenstischer als in der Nacht: Wie Heerscharen standen überall Kerzen, jetzt aber dunkel, halb herabgebrannt.

Das große Tor war verschlossen, aber eine kleine Pforte konnte Philo öffnen.

Er schlenderte hinein. Der Innenhof war ebenfalls gepflastert, aber auch hier wuchs aus allen Ritzen Gras. Den hinteren Hofabschluss bildeten Ställe, aber alle Tore waren geschlossen.

»He, was hast du hier zu suchen?«

Ein Mann in der Kleidung eines Dieners trat aus der Hintertüre des Wohngebäudes.

»Ich suche den Hausherrn«, sagte Philo möglichst unbefangen. Er sah im Augenblick aus wie ein Geselle aus gutem Haus, der nicht seine beste Kleidung anhat.

»Der ist nicht da! Hau ab!«

»Ich kann nicht wieder gehen. Ich muss ihm etwas ausrichten.«

»Dann sag’s mir.«

»Ich darf es nur dem Hausherrn persönlich sagen.«

»Dann lügst du.«

»Was soll das heißen?«

»Bürschlein, wenn dein Herr dir etwas an meinen Herrn aufgetragen hätte, dann hätte er dich nicht hierher geschickt. Jetzt verschwinde! Sonst hole ich den Hund!«

Es gibt ja auch noch Nachbarn, dachte Philo, ich muss morgen wiederkommen.

So war er einen Tag später wieder da, dieses Mal betätigte er den Türklopfer des Nachbarhauses als einäugiger Bettler. Weit und breit war kein Mensch zu sehen.

»Hier gibt es nichts, verschwinde! Sonst hetze ich den Hund.«

Eine unfreundliche Gegend – so viele Hunde!

»Ach, ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen«, weinte er. »Ihr habt doch sicher irgendwelche Abfälle, ich bin mit allem zufrieden.«

»Die Abfälle bekommt der Hund. Hau ab!«

»Meint Ihr, dass ich im Nachbarhaus – «

»Im Nachbarhaus wohnt niemand. Das steht leer.«

Die Türe knallte zu.

Dritter Anlauf am nächsten Tag. Philo sah aus wie der Diener eines sehr reichen Mannes. Er trug ein gesticktes Wappen auf der Brust.

»Ich komme im Auftrag des Grafen von Löffelstelz« – hoffentlich gibt es den nicht wirklich – »und soll fragen, ob das Nachbarhaus mit den geschlossenen Fensterläden zu vermieten ist. Es ist ja offenbar unbewohnt.«

»Das Nachbarhaus? Ich weiß nicht recht. Man sieht niemand außer einem Diener. Das Haus war früher voller Leben, da gehörte es dem Ritter von Hauenstein, es wurde dann verkauft. Wer es gekauft hat, weiß ich nicht. Seit über zwei Jahren steht es leer. Es ist vielleicht schon zu mieten. Ihr müsstet euch an Herrn Dopfschütz, einen Ratsherrn, wenden.«

»Gehört ihm das Haus?«

»Das weiß ich nicht – eher nicht. Wahrscheinlich verwaltet er es nur. Er verwaltet viele Häuser. Den Herrn Wangenbaum, einen Bäckermeister, der auch im Rat sitzt, habe ich auch schon hier gesehen.«

»Kann es ihm gehören?«

»Jedem kann es gehören – leider, ich weiß es nicht.«

»Wer ist denn dieser Herr Dopfschütz?«

»Das kann dir jeder sagen, er gehört zu den ganz großen Kaufleuten, einer der reichsten Männer von Straßburg. So viel Geld, wie der an einem Tag ausgeben kann, hätte ich gern in einem ganzen Monat.«

»Und ist mit dem Haus alles in Ordnung?«

»Ich denke schon, aber sie tun sehr geheimnisvoll damit. Nun, mich geht es nichts an. Ich will in nichts hineinkommen.«

»Was ist denn damit? – Mein Herr ist sehr streng, wenn ich dem nicht alles sage – au Backe!«

»Irgendetwas Geheimnisvolles ist damit. Das Haus steht immer leer. Aber ein-, zweimal war es diesen Sommer in der Nacht von oben bis unten beleuchtet, vielleicht auch öfter, ich war nicht immer da.«

»Beleuchtet?«

»Ja, alle Fenster waren hell, und das noch spät in der Nacht.«

»Sie werden ein Fest gefeiert haben darin. Da ist doch kein Geheimnis.«

»Dann hätte man irgendetwas gehört – ich bitte dich. Aber alles war völlig stumm, keine Musik, kein Laut zu hören. Nur diese Festbeleuchtung, die ja ganz schön teuer ist.«

»Wie lange ging das?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Ich bin dann ins Bett gegangen, ich kann mich ja nicht die ganze Nacht an das Fenster stellen.«

»Und am anderen Morgen?«

»Alles wie immer. Ein stummer Diener – ich kann dir sagen! Natürlich habe ich ihn gefragt. Aber schön angegangen bin ich da. Kein Sterbenswort. Hinausgeschmissen hat er mich.«

»Man müsste es vielleicht der Obrigkeit sagen.«

»Das habe ich auch schon gedacht. Aber der Herr Dopfschütz, der das Haus ja verwaltet, sitzt im Rat der Stadt. Da käme man schön an!«

In Altkirch zwischen Mühlhausen und Basel kehrten die beiden Viehhändler Mendel und Nathan, beides Juden, in ein Gasthaus ein. Sie hatten einander unterwegs getroffen und wollten das letzte Wegstück gemeinsam gehen.

»Die Zeiten sind unsicher«, stellte Nathan fest. Er war der Ältere von beiden, schon mit grauen Haaren. »Du musst froh sein, wenn du dein Geld kriegst und keine Steine mit auf den Weg. Die Bauern sind kaum mehr zu ertragen.«

»Ungeduldig sind sie und störrisch wie die Ochsen, die ich ihnen verkauft habe.« Mendel war rundlicher und hatte viele Lachfältchen um die Augen.

Man kannte die beiden in der Gegend. Sie hatten gute Waren und vernünftige Preise, wenn sie auch manchmal recht stur sein konnten beim Handel. Aber man wusste, Mendel hatte fünf Kinder zu Hause, Nathan war vor einem Jahr die Frau gestorben und nun warteten vier Kinder zu Hause auf den Vater. Beide verstanden einen Spaß, wenn die Bauern einmal unleidlich waren. Mendel konnte die Bauern besonders gut zum Lachen bringen. Beide hatten einen Bart, wie ihn oft Juden auf dem Land trugen.

»He, Jude, was kostet dein Bart?«, rief ein Halbwüchsiger, als Mendel den Gasthof betreten wollte.

»Vier Jahre«, sagte Mendel augenzwinkernd, »vier Jahre, dann wächst er dir auch, vielleicht nicht so schön wie bei mir, aber – «

»Hört euch das an, Judenbart, Judenbart! He, kommt doch einmal her – abschneiden sollte man denen den Judenbart.«

»Was soll das? Bist du verrückt? Dann erkennt man sie ja nicht mehr, die Judensäue.«

Im Gasthof wurden sie ähnlich empfangen: »Juden können wir hier nicht brauchen. He, Wirt, hast du keine anständigen Gäste?«

»Schmeiß das Pack raus!«

Aber einer der Gäste, ein reicher Weinhändler, flüsterte kurz mit dem Wirt und setzte sich zu den beiden, die ihn anschauten: »Ihr dauert mich, ihr beiden – wieder so wenig Geld verdient bei den bösen Christen«, sagte er. »Ja, da wollen wir euch heute einmal so richtig verwöhnen und satt machen. He, Wirt, her mit dem Braten und nur vom Besten. Alles auf meine Rechnung! Aufgetafelt, Herr Wirt, bringt, was die Küche vermag! Aber wehe, ihr beiden esst nicht, was auf den Tisch kommt.«

In der Gaststube war es still geworden. Alle schauten auf den Weinhändler und auf die Juden.

Da trug der Wirt auf. Er brachte eine große Schüssel mit Kesselfleisch, Grieben, Sauerkraut und Blutwürsten: »So, meine Herren, es kommt von Herzen und vom besten Schwein, das jemals in meinem Stall gelegen hat. Hast du es mir nicht selbst verkauft und dabei gelobt und gepriesen, dass selbst der Kaiser von Rom keine besseren Säue gehabt habe?«

Die Gäste bogen sich vor Lachen.

»Meine Herren«, begannen Mendel und Nathan zugleich, »Ihr wisst, dass wir Juden nichts vom Schwein essen dürfen und kein Blut – «

»Was«, schrie der Weinmichel und seine Augen leuchteten. Das konnte man erzählen, wohin man auch kam. Da würde der Wein nur so fließen. »Was?«, schrie er noch einmal. »Habe ich recht gehört, die Herren Juden wollen das nicht essen, was sie den Christen verkaufen, es wird doch nicht vergiftet sein, was ihr uns da verkauft!«

Die ganze Gaststube trampelte, johlte, grölte und pfiff.

Ein Mordsspaß ist das, dass ich darauf gekommen bin – das glaubt mir keiner in ganz Altkirch. Jetzt aber weiter: »Das wird gefressen! So wahr ich Michel heiße. Und zwar jetzt sofort hier auf der Stelle, was glaubt ihr denn!«

»Meine Herren«, begann Mendel noch einmal. Seine Stimme war leise und gleichzeitig ruhig, ein wenig so, wie wenn einer um Verzeihung bittet, und ein wenig so, wie man mit einem kranken Kind spricht. »Meine Herren, man weiß es doch, dass Juden kein Fleisch vom Schwein und nichts aus Blut Gemachtes essen dürfen, so wenig wie ihr am Freitag Fleisch essen dürft.«

»Ist heute Freitag?«, schrie Michel mit rotem Kopf und leuchtenden Augen. So sollte ihn seine Frau sehen, die ihn immer für einen Duckmäuser hielt, der sich nichts Rechtes traute.

»Ist heute Freitag?«, schrie die ganze Gaststube. »Ist heute Freitag? Die reden immer vom Freitag!« Es war ein herrlicher Spaß. Endlich war einmal etwas los in diesem langweiligen Nest. Da konnte man sogar die Pest für einen Augenblick vergessen. Und hieß es nicht –?

»Heute ist kein Freitag, meine Herren Juden«, fuhr Michel fort. Was sagte man denn nun gleich? Etwas Witziges musste es sein. Die ganze Stube schaute ihn an. Etwas Witziges musste ihm einfallen.

Da war es schon: »Jeder Christ«, sagte er mit einem Glucksen im Hals und sein Mund verzog sich immer breiter, »jeder Christ kann heute Schweinefleisch essen. Vielleicht sind es ja die Bärte, die die Herren hindern. Da können wir doch helfen – «

Jetzt dröhnte die ganze Stube los. Welch ein Einfall! Erst würde man den beiden die Bärte scheren, dann würde man ihnen das Fleisch in das Maul stopfen. Was war das mit dem Vergiften? Was hatte der Michel da gesagt? Vergifteten die Juden nicht die Brunnen, damit die Leute die Pest bekamen?

Man musste es ihnen zeigen, den Juden!

Da rückte Michel auf der Bank zurück wie vor einem Gespenst und streckte eine Hand vor, die andere presste er auf den Mund. Er war der Erste, der ihn sah.

Der Knecht des Wirts war durch die rückwärtige Türe in die Gaststube getreten. Er schritt langsam, fast feierlich. Er ging mit ausgebreiteten Armen und nacktem Oberkörper wie ein Gekreuzigter. Da sahen es alle: Unter seinen Achseln waren dicke Beulen, blauschwarz angelaufen. Sein Gesicht war schweißüberronnen und von einer fürchterlichen Blässe. Er sprach kein Wort und stand nur keuchend da mit seinen ausgebreiteten Armen.

Als Erster rannte Michel davon. Dann gab es kein Halten mehr. Die Gäste schrien und rannten und quetschten sich durch die Türe. Dem Wirt war die Schüssel aus den Händen gefallen und die Scherben und das Essen spritzten durch die Stube und auf die beiden Juden.

Dann war die Stube leer bis auf die Juden, die sich langsam erhoben. Draußen aber wartete die Menge auf sie und schrie auf sie ein: »Schlagt sie tot! Schlagt sie tot!«

Erst wurden sie gestoßen und gepufft, als müssten sich die Leute Mut machen. Die von hinten drückten und drängten. Die beiden Juden wurden eingequetscht; dass sie kaum mehr Luft bekamen, als steckten sie in einem Brei von Leibern.

»Nehmt doch Steine.«

Balthas war wieder da. Er stand mit seinem Prophetenbart plötzlich im schönsten Novembersonnenschein vor Regine, gesund wie immer. Nur der Bart war etwas grauer geworden.

Nach der ersten herzlichen Begrüßung sagte Balthas bedrückt: »Die Pest ist schon in der Gegend von Mühlhausen. Jedenfalls wird gesagt, dort sei der Knecht eines Gastwirts an der Pest gestorben.«

»Wir müssen abwarten. Man kann nur beten.«

»Ich komme eigentlich wegen einer erfreulicheren Sache.« Balthas zog Regine auf die Seite. »Ich meine, das Rätsel der drei Zahlen ist klarer geworden, vielleicht können wir es jetzt sogar lösen.«

Am Abend saßen sie in der Stube bei Löb, der hatte Bücher vor sich auf dem Tisch liegen und fasste zusammen: »Balthas hat herausgefunden, was die Gaukler mit diesen drei Zahlen machen. Die Sache scheint schon recht alt zu sein, ist aber wohl in Vergessenheit geraten. Aus drei Stoffen wird im Verhältnis fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn ein Substrat gemacht, das sehr leicht und hell brennt. Gaukler benutzen es auf Jahrmärkten, weil der Effekt groß ist, wenn man es anzündet. Er erzählt es am besten selbst.«

»Es leuchtet sehr hell und sprüht auf«, sagte Balthas, »ich habe es in Italien gesehen. Ihr müsst wissen«, wandte er sich an Löb, »dass ich in meiner Jugend weit herumgekommen bin, bis nach Apulien, Neapel, Sizilien, Syrakus. Da habe ich vieles gesehen und habe viel gelernt, von dem dieser Nichtsnutz Philo heute profitiert.«

»Verliebt warst du auch«, lachte Regine, »und nicht in mich.«

»Dich kannte ich noch gar nicht. Die Italiener sind sehr gute Gaukler, sie kennen ein Unmenge von Tricks. Jedenfalls, eines Tages habe ich gesehen, wie jemand eine grauschwarze Masse in einen ausgehöhlten Stock gestopft hat. Der Stock war vorne geschnitzt – ein roter Kopf, der grinste. Dann hat er den Stock mit dem Kopf an einen dünnen Stab gebunden und den Stab in den Sand gesteckt. Am Ende des ausgehöhlten Stockes war eine Schnur befestigt und mit Pech bestrichen. Dann hat er die Schnur angezündet. Ich kann euch sagen – das Ding ist losgegangen, hat gezischt und gefaucht, Funken sind herausgesprüht, und dann –, es war unglaublich, hat sich der Stock mitsamt dem roten Kopf in die Luft erhoben, ist sehr hoch aufgestiegen und dann zur Erde gefallen, es hat gestunken, und alle haben geklatscht. Er hat sehr viel Geld eingenommen. Wenn ich herausbekommen hätte, wie das zuging, wäre ich ein reicher Mann geworden. Das alles hatte ich längst vergessen.«

»Und die Zahlen?«

»Leider nur von denen habe ich damals gehört, aber eben nicht, worauf sie sich beziehen: fünfundsiebzig – fünfzehn – zehn! Aber mit den Zahlen allein konnte ich nichts anfangen und so habe ich alles vergessen und es ist mir erst wieder eingefallen, als vor ein paar Tagen in Freiburg einer einen Feuerteufel machte, wie er das nannte. Das war eine Art Springbrunnen mit diesem schwärzlichen Zeug. Der Gestank ist sehr typisch. Da war alles wieder da! Ich habe damals in Italien überall herumgefragt, es war verlockend. Aber entweder wollte man es mir nicht sagen oder die Leute, die ich gefragt habe, wussten es nicht. Nur einer kannte tatsächlich die drei Zahlen, wusste aber nicht, worauf sie sich beziehen, oder sagte es mir nicht.«

»Der in Freiburg hat dir auch nicht gesagt, wie man das grauschwarze Zeug mithilfe der Zahlen herstellt.«

»Nein – ich kann es ihm nicht übel nehmen. Der Trick ist so gut, dass man damit sorglos leben kann bis an das Ende seiner Tage. So etwas sagt man nicht weiter.«

»Aber ich weiß jetzt, wie man es herstellt. Balthas bringt mich darauf.« Löb hatte eines seiner kostbaren Bücher aufgeschlagen. Er las triumphierend: »Die Römer und Griechen hatten von den Ägyptern ein Feuer. Das nannten sie griechisches Feuer oder auch indisches Feuer. Sie warfen es im Krieg auf Dinge, die sie verbrennen wollten. Sie machten dieses Feuer aus Salpeter, Holzkohle und Schwefel. Der Salpeter ist die Luft, also der Atem des Feuers, der Schwefel ist das Feuer selbst und die Kohle ist die Erde, das Wasser ist feindlich, aber ohnmächtig. So steht es in einem Buch über die Kriege der Griechen und Römer. Das Buch ist hebräisch geschrieben und kommt aus Spanien. Schade, dass die Zahlen nicht dabeistehen – was hätten wir Zeit gespart!«

»Und du meinst?«

»Ja, Christoph«, sagte Löb, »es kann nicht anders sein: Balthas weiß die Zahlen, die sind das Mischungsverhältnis. Das Buch gibt die Stoffe, die gemischt werden müssen.«

»Aber«, fragte Esther, »wenn sogar Gaukler das wissen, weshalb dann die Verfolgung, weshalb bringen sie Menschen um, nur weil sie die Zahlen gelesen haben?«

»Das Substrat ist alt, es kann nur so sein, dass sie eine neue Anwendung gefunden haben. Eine ganz andere, neue – es muss etwas Gewaltiges sein«, fuhr Löb fort.

»Etwas viel Größeres, als nur einen geschnitzten Stock in die Luft zu befördern«, sagte die alte Esther leise.

»Etwas, das Macht gibt, und zwar viel Macht! Unendlich viel Macht!«, sagte Löb.

»Die Macht über die Welt!«, stieß Nachum zornig hervor. »Vielleicht vergiften sie damit die Brunnen und machen die Pest wie wir Juden.« Seine Stimme war rau und klang, als würde er gleich weinen, dann stampfte er hinaus.

»Sie machen in Benfeld einen Tag«, sagte Herr Kropfgans bedrückt, »sie wollen die Juden ausrotten. Auch in Straßburg.«

»Was in Straßburg geschieht, wird nicht in Benfeld beschlossen, sondern in Straßburg, Herr Kropfgans, Herr Eisenhut, ich bitte Sie!«

»Aber der Herr Bischof will es so. Er will, dass die Juden aus dem Elsass verschwinden. Er hat es gesagt, er hat es gesagt.«

»Kaltes Blut, Herr Kropfgans, kaltes Blut.«

»Es ist ja nicht nur der Bischof«, warf Herr Eisenhut ein, »der Adel will es im Elsass und drüben im Markgräfler Land, in Freiburg und im Schwarzwald.«

»Wir in Straßburg wollen es nicht!«, sagte Herr Dopfschütz laut. »Der Adel kann uns ganz gleichgültig sein.«

»Das meine ich nicht«, sagte Herr Eisenhut zögernd, »wir brauchen die Juden, wir brauchen das Geld. Aber der Adel hat kein Geld, sondern Schulden, und die hat er bei den Juden. Das wissen wir doch. Es gibt nichts Besseres für den Adel, als dass die Juden umgebracht werden. Also werden sie auch umgebracht. Alle!«

»Nein. Die in Straßburg nicht!« Herr Dopfschütz stampfte auf.

Herr Kropfgans schaute von einem zum anderen: »Denkt denn niemand an die armen Menschen?«

»Doch, wir drei, das wisst Ihr doch, Herr Kropfgans.«

»Kann man überleben?«, fragte Christoph den alten Abraham. »Wie ist das mit der Pest?« Es wurde viel geredet über den verstorbenen Knecht in Altkirch bei Mühlhausen.

»Das kann ich dir ganz gut sagen«, warf die alte Esther ein. »Hannah hat es mir geschildert. Sie war oft dabei und hat es so genau erzählt, dass es fast ist, als wäre ich selbst dabei gewesen: Zuerst bist du gesund, dann fühlst du dich auf einmal elend und bekommst Kopfschmerzen und Fieber. Bis jetzt ist es noch nicht schlimm, es kann auch irgendetwas anderes sein, etwas Harmloses. Aber jetzt pass auf: In den Achselhöhlen und in der Leistengegend fängt es an zu ziehen, zu drücken und wehzutun. Der Schmerz, ein schneidend stechender Schmerz, wird immer stärker, du kannst die Arme schwer bewegen, Schweiß bricht aus und das Fieber steigt, gleichzeitig wirst du schwach. Jetzt schaust du unter deine Achselhöhlen und in deine Leisten, und dort wirst du dann das Schreckliche sehen: Dicke Beulen, blauschwarz und immer noch anschwellend, beginnen die Höhlen auszufüllen und lassen dich bei jeder Bewegung schreien vor Schmerzen. In den nächsten Tagen bekommst du Beulen auch an anderen Stellen. Schneidet man die Beulen auf, so kommt ein stinkender, breiiger Eiter heraus. Das tut zwar sehr weh, aber es kann dir Erleichterung, ja sogar Heilung verschaffen. Nur musst du jemand finden, der diese Schnitte kann und auch macht. Denn die meisten Ärzte liefen davon, wenn sie die Beulen sahen, hat wenigstens Hannah gesagt. Die Krankheit ist überaus ansteckend und kaum einer hält die Angst vor ihr aus, um jemand zu pflegen.«

»Du hast es sehr genau beschrieben«, bestätigte der alte Abraham, »die Angst vor der Pest ist so tödlich wie die Pest selbst.«

Christoph verstand das nicht ganz: »Kann man wieder gesund werden?« Er presste die Hände zusammen.

»Die meisten sterben«, sagte Abraham ruhig, »von hundert Pestkranken sterben wohl siebzig bis über achtzig, so hat es mir ein jüdischer Arzt gesagt. Und er hat selbst die Pest bekommen und ist am Leben geblieben. Es gibt also Hoffnung.«

»Wenn man die Beulen aufschneidet«, sagt Christoph leise.

Abraham legte ihm die Hand auf die Schulter: »Es haben auch Kranke überlebt, denen die Beulen nicht aufgeschnitten worden sind. Sie brechen dann von selbst auf.«

»Und die meisten sterben?«

»Man wird schwächer, Fieber schüttelt einen, die Beulen vermehren sich, an allen Gelenken schwellen sie an, dick und schwarzblau. Die Schmerzen wachsen ins Unerträgliche. Man glüht vor Fieber und fällt in einen schweren Erschöpfungsschlaf, wenn man Glück hat. Manche bleiben qualvoll schlaflos, wälzen sich vor Schmerzen und merken, wie sie immer schwächer werden. Und dann hört das Herz auf zu schlagen.«

»Schrecklich!« Christoph bekreuzigte sich.

»Es gibt einen schlimmeren Verlauf, zum Glück selten. Die Pest beginnt dann in der Brust. Du hast Schmerzen beim Atmen, die ganze Brust tut dir weh und du fängst an zu husten, ein trockener Husten unter Höllenqualen, bei dem du meinst, dass du erstickst. Dann kommen dicke Klumpen von geronnenem Blut aus deinem Mund. Das Atmen fällt dir immer schwerer. Es ist, als liege ein großer Stein in deiner Brust. Das Fieber steigt sehr schnell, es kann einzelne Beulen geben und nach drei Tagen bist du tot, manche sterben sogar schon nach wenigen Stunden.«

»Und gibt es da Hoffnung?«

»Ich kenne niemand, der diese Pest in der Lunge überlebt hat.«

»Und woher kommt die Pest?«

»Von uns Juden!« Nachum war unbemerkt eingetreten und schrie es fast: »Sie sagen immer und immer, sie kommt von uns Juden.« Er weinte fast. »Wisst ihr, dass sie jetzt Prozesse gemacht haben in der Schweiz am Genfer See? Wisst ihr, dass die Juden gestanden haben unter der Folter? Wisst ihr, dass sie jetzt meinen alles beweisen zu können? Wisst ihr, dass sie die angeblichen Beweise nach Bern geschickt haben, damit sie dort auch die Juden umbringen? Wisst ihr, dass sie die Beweise von Bern nach Basel und Freiburg und Straßburg geschickt haben, dass sie unterwegs sind? Es ist wie in Aragon! Sie werden uns alle umbringen! Wir müssen auswandern, wir müssen auswandern!«

Man sah, wie er die Tränen verschluckte, wie es in seinem Gesicht arbeitete, wie sein Blick auf Christoph fiel.

Löb trat ein und hatte das Letzte noch gehört: »Zuerst, was weißt du? Woher weißt du es? Wer hat es dir gesagt?«

Nachum sprudelte los: »Sie sagen es, die ganze Stadt sagt – «

»Was ist das für ein Beweis, von dem sie reden?«

»Gift, sie haben in einem Haus eines Juden bei Lausanne Gift gefunden. Es ist wie in Aragon. Wir haben die Brunnen vergiftet. Sie haben die Juden so lange gefoltert, bis sie gestanden haben. Wir wollen die Christen ausrotten, um die ganze Welt zu beherrschen, deshalb werfen wir die Pest in die Brunnen!« Seine Stimme zitterte.

»Ich habe das alles auch gehört«, warf Löb ein. »Im Rat der Stadt wird es verhandelt. Herr Dopfschütz hat es mir gesagt: Sie haben aus Bern die Prozessakten hierher geschickt, Beweise für die Behauptungen des Herrn Wangenbaum. Es heißt, Ratsherren aus Bern seien auf dem Weg nach Straßburg, sie führten einen geständigen Juden mit sich als Beweis. Aber, Nachum, der Rat in Köln hat Briefe geschickt, in denen er in dieser Sache zur Vorsicht mahnt. Herr Schwarber hat das bestätigt. Herr Schwarber meint auch, dass die Berner im Rat von Straßburg nicht ernst genommen würden. Er selbst wolle sich für die Juden einsetzen, hat er mir versichert.«

»Weißt du auch, was sie in der Schweiz gemacht haben?« Nachums Stimme schlug um. »Heute wurde es gesagt, sie haben Holzhäuser gebaut und haben die Juden gezwungen hineinzugehen. Dann haben sie die Häuser mit Fackeln angezündet!« Er weinte laut: »Vater, ich will nicht verbrannt werden!«

Der Mensch sah elend aus. Er ging taumelnd und eigenartig steif, die Arme an die Seiten gelegt, als er von den Schergen grob vor den Rat der Stadt Straßburg gestoßen wurde.

Ganz im Gegensatz dazu die Herren aus Bern, die den hinfälligen Mann begleiteten. Sie verbeugten sich artig in ihren kostbaren Gewändern. Der liebenswürdige Herr Einschieß aus der guten und befreundeten Stadt Bern nahm das Wort.

»Sehr geehrte Herren«, sprach Herr Einschieß, »es ist einem Rat der Stadt Bern Ehre und Genugtuung, vor einem ehrsamen Rat der Stadt Straßburg erscheinen zu dürfen.«

»Was wird daraus werden?«, flüsterte Herr Kropfgans zu Herrn Eisenhut, der neben ihm stand und angewidert zuhörte.

Herr Dopfschütz spielte mit der goldenen Kette über seiner Brust: »Pst, lasst sie doch reden, meine Herren, ich bitte Sie.«

Einen Täter führe man vor, einen Geständigen, einen klar Überführten, um die Zweifel an der Schuld und Gefahr der Juden, die ein ehrsamer Rat der lieben und guten Stadt Straßburg noch habe, ein für alle Mal zu beseitigen!

Herr Einschieß machte einen Schritt nach vorne, wobei sich sein weiter, pelzverbrämter Mantel entfaltete wie das Rad eines Pfaus: »Hier dieser Mensch ist ein Jude, den wir auf frischer Tat ertappt haben. Er hat die Brunnen vergiftet. Er hat mit dieser schändlichen Tat die Pest in unsere schöne Stadt gelegt. Wir haben ihn mitgebracht, dass ihr ihn selbst befragt und euch von der Bosheit der Juden überzeugt, zum Schutze der lieben Stadt Straßburg.«

Dann holte er mit den Armen weit aus und wandte sich an einen nicht ganz so prächtigen Herrn neben ihm: »Herr Füegli, seid so nett und gebt es mir.«

Worauf Herr Füegli aus einer Tasche umständlich und mit bekümmerter Miene ein walnussgroßes Säckchen hervorbrachte, das er feierlich auf den Tisch vor den Straßburger Ratsherren legte.

Der Sprecher machte eine lange Pause und sagte dann mit gedämpfter Stimme: »Das Gift, meine Herren.«

Totenstille im Saal.

Herr Einschieß machte eine bedeutsame Miene: »Liebe Herren, wir wissen auch, wie das Gift zusammengesetzt ist: Es enthält Menschenblut, Urin, zu Pulver vermahlene geweihte Hostien, die man aus den Sakramentshäusern der Kirchen gestohlen hat, und einige Zauberkräuter – «

Ein Kaufmann der Stadt Straßburg trat vor, er hatte ein schmales Gesicht und war nicht sehr groß: »Ich heiße Peter Schwarber.« Er schaute die beiden Berner scharf an: »Woher kennt man die Zusammensetzung des Gifts?«

»Ein Aussätziger hat es verraten, der den Juden für Geld geholfen hat.«

»Unter der Folter?«

»Ja.«

»Hat man gesehen, wie der Jude das Gift aus diesem Säckchen genommen und in einen Brunnen geschüttet hat?«

»Man hat das Gift ausprobiert an einem Huhn, an einem Hund, an einem Schwein und an einem Juden. Sie sind alle daran eingegangen«, sprach Herr Einschieß und Herr Füegli nickte.

»Hat dieses Gift dem Juden gehört?«

»Man hat es in seinem Hause gefunden.«

»Herr Einschieß, wart Ihr dabei, als man das Gift gefunden hat?«

»Man hat mich geholt und da war das Gift.«

»War einer von den Herren dabei, die vor unseren Rat gekommen sind?«

»Man hat alle geholt. Und alle haben gesehen, dass das Gift in dem Hause war. Wir beschwören das.«

»Habt Ihr gesehen, wie der Jude das Gift in den Brunnen getan hat?«

»Er hat es gestanden.«

Herr Füegli nickte.

»Unter der Folter?«

»Ja.«

»Bald?«

»Nach fünf Stunden. Vierzehn Grade.«

Herr Schwarber trat zu dem Juden: »Ich, Peter Schwarber, Rat und Kaufmann der freien Reichsstadt Straßburg, frage dich: Bei dem Gott deiner Väter, hast du das Gift in die Brunnen der Stadt Bern geworfen?«

»Ich verwahre mich entschieden dagegen, wie hier in unserem ehrsamen Rat mit der Hilfe einer uns befreundeten Stadt umgegangen wird.« Es war ein dicker Mann mit kostbaren Kleidern, dem aber etwas Mehl am Ärmel hing.

»Herr Bäckermeister Wangenbaum, ich möchte in einer so ernsten Sache nicht – «

»Eben, Herr Schwarber, eben, wenn ich auch nur ein einfacher Bäckermeister bin und Ihr ein großmächtiger Kaufmann, so weiß ich doch, was sich gehört. Da machen die verehrten Ratsmitglieder der Stadt Bern, einer befreundeten Stadt, eine so weite Reise, um uns zu helfen, und Ihr – «

»Es geht nicht um eine weite Reise, es geht um die Frage: Ist es wahr?, Herr Wangenbaum. Es geht um das Leben und die Ehre von vielen Menschen, die unserer Fürsorge anvertraut sind.«

»Eben, Herr Schwarber, eben, es sind uns das Leben und die Ehre der Christen in unserer guten Stadt anvertraut. Ihr müsst blind sein, Herr Schwarber, blind!«

»Die Wahrheit, Herr Wangenbaum – «

»Ja, die Wahrheit, Herr Schwarber, da stehen sechs Mitglieder eines ehrsamen Rates der Stadt Bern und stehen für die Wahrheit ein, und was macht Ihr, Herr Schwarber, Ihr fragt einen überführten und geständigen Juden, Herr Schwarber, ich bitte Euch!«

»Meine Herren, meine Herren, kaltes Blut, ich bitte Sie!«, mischte sich jetzt Herr Dopfschütz ein.

Herr Kropfgans atmete auf.

»Was sagen die Statuten unserer Stadt Straßburg, meine Herren?« Herr Dopfschütz drehte sich um sich selbst und schaute jedem der Ratsherren ins Gesicht. »Ich meine gelesen zu haben, aber bitte, ich kann mich täuschen, dann bitte ich Sie um Nachsicht, meine Herren. Und bitte, Herr Wangenbaum, Ihr wisst, dass ich immer Euer Freund gewesen bin – es soll keine Feindschaft geben zwischen dem Handelsmann und dem Handwerksmann, sage ich immer.«

Herr Kropfgans presste die Hände ineinander.

»Zu den Statuten: Die Statuten unserer lieben und freien Stadt Straßburg sagen, dass nur Geständnisse vor dieses Gericht gebracht werden dürfen, die vor dem Gericht und Rat der Stadt Straßburg gemacht worden sind. Es tut mir Leid, Herr Wangenbaum, Eueren Eifer in Ehren, auch Euch, Ihr Herren aus Bern, bitte ich um Nachsicht, besonders Herrn Einschieß und Herrn Füegli nach ihrer langen Reise. Aber ich bin auf die Statuten der Stadt Straßburg vereidigt und nicht auf die Statuten der schönen, guten und befreundeten Stadt Bern! Und ich meine, das seid auch Ihr, Herr Wangenbaum, so wie jedes Mitglied dieses ehrsamen Rates. Ich glaube nicht, dass wir abstimmen müssen, meine Herren.«

Herr Wangenbaum hatte einen hochroten Kopf.

»Die ehrsamen Vertreter der guten und lieben Stadt Bern lade ich auf meine Kosten zum Essen ein. Ich darf mich empfehlen!«

Herr Kropfgans wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Was wollt Ihr, Löb Baruch?«

»Für den Juden Menli aus Bern bitten, Herr Dopfschütz, und Dank sagen im Namen der ganzen jüdischen Gemeinde Straßburgs für die kräftigen Worte, die Ihr gesprochen habt für uns.«

»Das war nicht ich, das waren die Statuten unserer guten Stadt. Jeder weiß, wie wichtig mir Gesetz und Ordnung sind.«

»Seht, Herr, deshalb möchte ich für den Gefolterten bitten. Die weite Reise hat ihn geschwächt. Er ist krank, Ihr habt ihn gesehen. Ich würde ihn in meinem Hause aufnehmen und für ihn sorgen, bis Weiteres beschlossen ist.«

»Ich sage es ungern, Löb Baruch. Aber auch hier müssen Gesetz und Ordnung herrschen. Der Jude Menli untersteht nicht unserer Gerichtsbarkeit, sondern der Gerichtsbarkeit der Stadt Bern. Ich kann nichts für Euch tun.«

»Eine Ausnahme, Herr Dopfschütz, die Menschlichkeit – «

»Keine Ausnahme, die Statuten lassen keine Ausnahmen zu. Wo kämen wir da hin? Das beweist doch gerade die vergangene Ratsversammlung.«

»Aber Ihr könntet doch die Ratsherren aus Bern bitten – «

»Ich bitte Euch, Löb Baruch, wäre das diplomatisch? Ich sage Euch das sehr ungern, Löb Baruch, vor allem, weil ich viel Geld von Euch gewärtige, sehr viel Geld – ich bekomme es doch nächstens?«

»Ich habe es fast zusammen. Es liegt schon großenteils für Euch bereit. Ihr könnt es in meinem Haus holen. Ich lasse Euch Bescheid sagen.«

»Seht Ihr, da fällt es mir doppelt schwer, Eure Bitte abzuschlagen. Aber nur wegen einem Juden einen diplomatischen Konflikt heraufzubeschwören. Ich bitte Euch, das kann doch Euer Ernst nicht sein. Ich bin auf Eurer Seite, Baruch, das wisst Ihr. Ich habe es vor einer halben Stunde bewiesen. Aber: Es geht nicht!«

Nur wegen einem Juden einen diplomatischen Konflikt – Löb presste die Lippen aufeinander.

»Die Levis sind fort und die Menuchims sind fort und die Mendels sind drauf und dran zu gehen. Wir müssen Straßburg verlassen. Dringend! Elieser hat Recht, Vater, du musst es glauben. Es wird den Juden in Straßburg gehen wie den Juden in Bern und Lausanne.« Nachum stampfte mit dem Fuß auf.

»Ich gehe mit«, sagte Christoph zornig, der das Bild des Schweinekopfes an der Türe zur Synagoge vor sich sah.

Esther hatte Tränen in den Augen.

Der alte Abraham richtete sich auf: »Wenn ihr gehen wollt und gehen könnt, so geht. Wir sind ja auch aus Aragon gegangen. Aber ich gehe nicht mehr mit. Esther und ich, wir sind einmal geflohen, zu euch. Wir gehen nicht ins Ungewisse. Wir sind alt. Wir erwarten das, was Gott über uns verhängen wird. Aber das soll und darf euch nicht halten.«

»Wir bleiben da«, sagte Löb entschieden, »wir lassen Abraham und die alte Esther nicht allein. Das ist das Erste. Wir können aber auch gar nicht gehen, weil ich geschäftliche Verpflichtungen habe, aus denen ich nicht so schnell herauskann. Das ist das Zweite. Es sind diese geschäftlichen Verpflichtungen, deretwegen ich glaube, dass den Juden in Straßburg überhaupt nichts geschehen wird, nichts geschehen kann. Gehen wir aber, dann entfällt der Grund dafür, dass sie uns nichts tun können. Wenn wir also gehen, kommt die Blutschuld für den Tod der schwächeren Brüder in der Gemeinde auch über mein Haus, und das ist das Dritte!«

»Wer sich taufen lässt, dem tun sie nichts«, sagte Christoph unsicher.

Esther blickte ihn an.

»Wer sich taufen lässt, ist ein Verräter!«, warf Nachum ein und verzog die Lippen.

»Wenn die Juden sich taufen lassen, so ist es das Ende des Judentums. Es geht nicht«, sagte Löb.

Nachum weinte, dass es ihn schüttelte. Aber als ihm Christoph die Hand tröstend auf die Schulter legen wollte, stieß er sie mit blitzenden Augen zurück.

Der Berner Jude Menli starrte ins Leere des Gefängnisses, in das ihn die Straßburger Schergen geworfen hatten. Weit oben gab es ein Eisengitter, durch das ein Lichtstreifen an der Steinwand herabstrich. Er sah es nicht. Er lag auf einem Bund Stroh, auf das man ihn geworfen hatte. Die Kleider waren nur noch Fetzen. Sein Gesicht war von einem wilden Bart verdeckt.

Seine Knöchel waren so angekettet, dass er auf dem Rücken liegen musste. Das war sehr unbequem, weil die Kette für die Knöchel zu kurz war und er mit dem Kopf nicht zur Wand reichte, so lag sein Kopf im Dreck. Auch an den Händen waren Ketten, die ihn an jeder Bequemlichkeit hinderten. Es war bitterkalt und feucht. Aber er spürte nichts mehr von alledem.

Bilder huschten an ihm vorbei wie die Ratten an seinem Essnapf. Er konnte sie nicht festhalten. Da war eine Frau. Er sah sie vor sich, er kannte sie nicht. Er sah, wie sie die Frau packten und wegschleppten. Er wusste nicht, dass er weinte, wenn er das sah. Dann glitten andere Bilder vorüber, er konnte sie nicht begreifen. Er spürte furchtbare Schmerzen in den Armen und Schultern – sie zogen jemand hoch an den Armen, die Beine mit Steinen beschwert. Aber er wusste nicht, dass er selbst der Gefolterte war.

Kinder sah er immer wieder vor sich, sechs Kinder. Einen Mann sah er an einem Bett. Ein Kind war krank. Er drückte das kleine Gesicht an seine Brust, wiegte es und sang ein leises Lied. Manchmal flüsterte er Namen, sechs Kosenamen. Er kannte sie nicht. Er weinte, ohne es zu merken. Dann sah er, wie die Kinder und die Frau festgebunden wurden. Die Flammen schlugen hoch und er sah sie nicht mehr. Dann kicherte er wieder und wusste nicht, warum. Wenn er kicherte, fror er so sehr, dass es ihn schüttelte. Aber er spürte nicht, dass er fror.

Er spürte die Stöße des Karrens, auf dem er angekettet lag. Er hörte die Rufe Mörder, Brunnenvergifter, und er hörte immer ein Kichern. Auch Vögel sah er, schwarze Vögel –

»Wir müssen ihn befreien.« Esther war Feuer und Flamme.

»Wie soll das gehen? Es ist sowieso alles zu gefährlich. Da können wir doch nicht hingehen und einen Gefangenen aus dem Gefängnis holen. Dazu einen, der nicht einmal der freien Reichsstadt Straßburg gehört, sondern der Stadt Bern!«

Esther hatte die Hände um die Knie verschränkt und wippte auf und ab: »Es wäre toll, wenn wir es könnten. Du und ich! Wir würden – « Sie hatte ihre schwarzen Augen auf Christoph gerichtet.

Nachum kam zurück, er warf einen schrägen Blick auf Christoph, seine Augen waren wie Kohlen: »Was habt denn ihr für Heimlichkeiten?«

Christoph wollte schnell etwas sagen, aber Esther kam ihm zuvor: »Wir überlegen gerade, wie wir den gefangenen Juden aus Bern aus dem Gefängnis holen können. Es geht ihm so schlecht, hat der Vater gesagt.«

»Es geht nicht. Das geht gar nicht«, sagte Christoph. Dann sah er Nachums Augen und verstummte.

Alle drei schwiegen. Die untergehende Sonne malte hoch auf der Wand des Rückgebäudes ein rötliches Dreieck, von unten kroch die Dunkelheit aus dem Gärtchen.

Nachum pfiff leise durch die Zähne: »Es ist ganz leicht.«

Esther hatte sich ganz zu Christoph gedreht.

Wie schön sie ist, dachte er atemlos.

Sie flüsterte fast, aber ihre Stimme war eindringlich: »Machst du mit? Wir verstecken ihn und pflegen ihn gesund. Nachum macht auch mit. Er sagt, es sei leicht. Bitte!«

Da gab er nach.

Sie schlichen in der Nacht aus dem Haus, was nicht schwer war, da die Kinder das volle Vertrauen der Eltern hatten.

»Das dürfen wir nicht missbrauchen«, hatte Christoph noch gesagt, bevor sie aufgebrochen waren.

»Eben, das rechtfertigen wir ja gerade«, sagte Nachum und seine Stimme klang übermütig. »Vater wollte ja auch, dass der Gefangene zu uns kommt. Er hat es ja erzählt.«

Gewaltig gegen das Licht eines untergehenden Mondes stand schräg vor ihnen die dunkle Masse des Münsters über den Häusern der Juden.

Sie mussten zum Diebsturm, was in der Nacht nicht schwer war. Sie durften sich nur nicht von einer Scharwache oder einem Nachtwächter erwischen lassen.

Nachum schien mehr und mehr von einer übertriebenen Fröhlichkeit und Zuversicht erfüllt? die Christoph nicht verstehen konnte: »Das gibt einen Spaß, wenn wir mit dem befreiten Juden ankommen. Das glaubt uns keiner!«

»Wie stellst du dir das überhaupt vor?«, fragte Christoph, dem es bei jedem Schritt das Herz zusammenzog.

»Lass das meine Sorge sein. Es ist ganz leicht. Was weißt denn du!«

»Du könntest es doch sagen. Wir sind doch alle in derselben Gefahr!«

»Ja, du könntest es uns ruhig sagen.« Die Stimme von Esther klang jetzt doch besorgt, wie sie am Ende einer schwarzen Gasse den Umriss des Diebsturms wie einen dicken Pfahl emporragen sahen.

Das Mondlicht hing noch an den höchsten Giebeln und nur der schwache Schein, der von diesem Licht in die Gasse herabfiel, wies ihnen den Weg. Ab und zu stolperten sie über Abfälle. Vor einigen Tagen hatte es geregnet und in den Gassen, die so eng waren, dass auch am Tag keine Sonne hineinfiel, standen noch Pfützen. Es roch faulig. Christoph spürte, wie Esther zitterte.

»Wir müssen leise sein«, mahnte Christoph.

»I wo, nein, müssen wir nicht!«, sagte Nachum ziemlich laut und kicherte.

Christoph verschlug es den Atem.

Dann rief eine grobe Stimme vor ihnen: »Halt, stehen geblieben! Wer ist da?«

Eine Gestalt mit einem Spieß trat vor die drei.

»Wir wollen den gefangenen Juden befreien«, sagte Nachum hell und deutlich, ja geradezu fröhlich, wie es Christoph schien.

»Was wollt ihr?«

»Den gefangenen Juden befreien.«

»Seid ihr verrückt geworden?«

»Ganz einfach: Wir kaufen dir den gefangenen Juden ab.«

»Was soll das? – Wer bist du überhaupt? – Der Stimme nach bist du doch nur ein Junge. Und die anderen?«

»Bist du allein?«, fragte Nachum.

Der Wächter streckte jetzt seinen Spieß vor. Christoph sah, wie sein Helm schimmerte.

»Wer wir sind, kann dir gleichgültig sein. Für dich ist bloß wichtig, dass wir reich genug sind, um dir hundert gefangene Juden abzukaufen.«

»Bürschlein, Bürschlein, so ein Vögelchen wie dich spieße ich sonst auf und brate es über dem Feuer als Vorspeise.«

»Sonst! Aber heute nicht. Heute bist du viel zu schlau. Heute spießt du niemand auf. Heute hörst du uns gut zu. Denn heute sollst du reich werden!«

Der andere schnaubte verächtlich.

»Die Judenheit der Stadt Straßburg schickt dir durch uns das hier!«

Man sah nicht recht, was Nachum auf der flachen Hand hielt. Es schien, als halte er ein Feuer mit einem bläulichen Schein in der Hand.

»Weißt du, was das ist?«

Christoph und Esther hörten atemlos zu.

»Das ist ein Diamant! So etwas hast du noch nie gesehen oder gar in der Hand gehabt. Mit diesem Stein brauchst du in deinem ganzen Leben nie mehr auch nur einen Handgriff zu arbeiten!«

»Du musst blödsinnig sein!« Der Wächter stampfte mit dem Spieß auf.

Genau das wollte auch Christoph sagen, aber er brachte kein Wort heraus.

»Hör mal, das ist nichts anderes als ein Lösegeld, wenn auch das größte, das in Straßburg jemals bezahlt worden ist. Es werden doch überall Gefangene mit Lösegeld ausgelöst!«

Man konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen. Aber Christoph konnte sich das begehrliche Leuchten der Augen vorstellen.

Der Wächter sagte sehr zögernd: »Er gehört nicht mir. Da kann ich ihn euch auch nicht auslösen.«

»Weshalb nicht?« Die Stimme Nachums wurde ungeduldig. »Du gibst uns den Gefangenen, der ist ja sowieso schon halb tot. Dann nimmst du diesen großen und schweren Diamanten, der vollkommen rein ist und wert in der Krone des Kaisers zu leuchten, und verschwindest aus Straßburg, gehst irgendwohin, nach Speyer, Frankfurt oder Paris oder Rom, verkaufst ihn für hunderttausend Gulden und hast künftig das schönste Leben, das man sich denken kann. Du kaufst dir ein Rittergut, eine Grafschaft, Titel, Ehren, was du willst.«

Es war, als halte der Wächter die Luft an.

Stille.

Dann war es wie ein Ruck: »Nein! Ein für alle Mal: Nein! Ich habe hier Frau und Kinder und will in nichts hineinkommen. Haut schnell ab oder ich rufe die Scharwache, dann könnt ihr dem Berner Juden selbst Gesellschaft leisten!«

Er hielt seinen Spieß gesenkt wie zu einem Angriff und machte einen Schritt vorwärts.

Christoph und Esther zogen Nachum weg, der sich sträubte und nach Christoph stieß.

»Du bist wohl total verrückt geworden: Vaters größten Diamanten. Was glaubst du, was der dir sagen wird!« Esthers Stimme war scharf.

Nachum lachte schon wieder: »Diamant! Der ist nichts mehr wert, sage ich euch. Für uns Juden ist der nichts mehr wert, keinen Heller ist der mehr wert!« Seine Stimme überschlug sich.

Christoph wollte ihn am Arm fassen.

»Und du lass mich los.« Er fasste mit einer Hand nach Christophs Arm und befreite sich mit einem heftigen Ruck.

»Was jetzt?«, fragte Christoph, als sie einige Gassen von dem Turm, dem Gefangenen und dem Wächter entfernt waren.

Der Mond war inzwischen untergegangen.

Esther hielt immer noch Nachums Arm. Sie sagte kein Wort. Sie schlugen nicht die Richtung zum Judenviertel ein.

Das Schweigen war für Christoph unerträglich.

Dann sagte Esther: »Wir sollten heimgehen. Du legst den Diamanten zurück. Vater merkt es nicht. Wenn sie uns erwischen – wir sind Juden!«

»Einer von uns ist kein Jude!« Die Stimme von Nachum wurde wieder laut.

»Er gehört zu uns – er hat sich für uns in Gefahr gebracht.«

»Das ist ganz recht, dass er auch einmal in der Gefahr ist, in der wir Juden sind. Jeden Tag!«

»Er ist auch ohne uns jeden Tag in Gefahr.«

Wieder klang die Stimme von Nachum übermütig: »Jetzt besuchen wir Herrn Dopfschütz – er muss uns den Gefangenen herausgeben. Er sagt doch immer, er sei auf unserer Seite.«

Er sprach viel zu laut. Esther hielt ihm dem Mund zu.

»Der schläft doch längst.« Christoph war besorgt.

»Dann wecken wir ihn.«

»Das ist doch sinnlos«, jetzt wurde auch Esther laut, »wir bringen ihn doch dadurch nur gegen die Juden auf. Glaubst du, er ändert seine Meinung ausgerechnet, weil ein jüdischer Lümmel namens Nachum ihn mitten in der Nacht weckt? Er hat schon Vater jede Hilfe für den Gefangenen abgelehnt!«

Vom Münster kamen drei Schläge.

»In einer Viertelstunde ist Mitternacht.«

Welch ein Gewirr von Gassen. Christoph hätte sich hier nicht zurechtgefunden. Nur die Sterne, die man ab und zu über den ernsten Giebeldreiecken der Häuser schimmern sah, gaben ein sehr schwaches Licht.

Ab und zu huschte eine Ratte über ihre Schuhe und Christoph war froh, dass er nicht mehr barfuß durch diesen Dreck waten musste.

Die Gassen wurden breiter.

Licht. Ein Haus stand in der Nacht, da waren alle Fenster hell wie im Märchen.

»Das ist das Haus, von dem ich euch erzählt habe«, flüsterte Christoph, »jetzt leuchtet es wieder aus allen Fenstern wie zur Krönung des Kaisers. Ich möchte wetten, dass kein Mensch zu sehen ist.«

Kein Laut war zu hören. Die drei waren stumm in eine Nische getreten und beobachteten das Haus mit seinen leuchtenden Fenstern.

»Ein wenig wie beim Chanukkafest, wenn alle Lichter brennen«, flüsterte Esther.

Zwölf Schläge zitterten durch die Luft. Christoph zählte sie unwillkürlich mit angehaltenem Atem. Auch andere Uhrenschläge fielen ein, die Thomaskirche, das Rathaus, die Stephanskirche, in deren Nähe sie wohnten, Alt St. Peter und viele andere Glocken der großen Stadt.

Sie waren nicht lange verklungen und die Gefährten traten gerade aus ihrer Nische, da war es plötzlich, als würde die drei ein kurzer Luftstoß treffen. Fast im gleichen Augenblick gab es einen Knall, wie ihn keiner jemals gehört hatte. Sie waren heftig zusammengefahren. Er war laut wie Donner, aber kurz und dumpf, nah und doch sehr fern. Es schien, als habe sich ein ganzes Gewitter in einen einzigen Punkt zusammengezogen. Es schien noch durch die Gassen zu rauschen und bevor man darüber richtig erschrecken konnte, war es schon vorbei.

Esther drückte sich an Christoph.

Nacheinander wurden in dem erleuchteten Haus alle Fenster dunkel und es stand da so schwarz wie alle Häuser.

»Was war das?«

Die einsame Festbeleuchtung hatte Philo schon mindestens dreimal gesehen, einmal zusammen mit Christoph. Das war im Sommer gewesen. Immer kurz vor Mitternacht wurden die Fenster nach und nach hell. Alle Läden standen dann weit offen.

Heute war er fast zu spät gekommen – die Lichter brannten schon. Kaum steckte er hinter einer Mauer, als die Türe im Hof knarrte und drei Männer, begleitet von einem Knecht, zum Hoftor herauskamen. Der Diener trug einen Sack, der offenbar recht schwer war, aber nicht sehr groß. Er trug ihn sehr behutsam, als wäre in dem Sack ein kostbares Gefäß aus Glas oder Kristall. Die vier schlichen durch die Stadt, als wären sie das schlimmste Diebsgesindel, und drei waren der ganzen Kleidung nach, die im Mondlicht zu erkennen war, eindeutig Herren!

Er musste sich fast das Lachen verbeißen, wie er, der Gaukler ohne Heimat, den drei ehrbaren Bürgern und ihrem Diener nachschlich.

Leider konnte er ihre Gesichter nicht erkennen.

Herren und Diener gingen zu einer Pforte in der Stadtmauer nicht weit vom Kronenburger Tor. Sie ließ sich von innen leicht öffnen, aber nicht von außen.

Dann waren sie im Freien. Ein Baum und noch ein Baum und noch einer, rennen auf den Ballen, damit niemand etwas hört auf dem nassen Gras – ein Vorteil der Barfußgänger!

Herren und Diener gingen jetzt unbekümmerter – schauten sich aber immer wieder um. So ging es lange Zeit.

Sie wurden erwartet! Einige dunkle Gestalten standen bei einer kleinen Kapelle bei dem Dorf Kronenburg. Von da schritten sie zu einem niedrigen Turm, der einige Steinwürfe weiter an der Straße Richtung Zabern stand. Der kleine Turm des Froschs? Der Turm stand völlig frei, kein Baum war in seiner Nähe. Das Gras war zu dieser Jahreszeit zu kurz, um Deckung geben zu können, und Philo überlegte fieberhaft, wie er es schaffen könnte, etwas von dem zu hören, was die Gestalten redeten, und vor allem zu erkennen, wer sie waren! Er kauerte unter dem letzten Baum vor der freien Fläche, die den Turm umgab.

Philo sah sich um. Im Mondlicht ahnte man gegen Abend die schwarze Mauer der Vogesen. Nach Morgen hin hatte man einen überraschend guten Blick nach Straßburg hinein. Da! Fast hätte er geschrien: Klar und deutlich hob sich gegen die Schwärze der Stadt das beleuchtete Haus ab. Es waren einige Lichter zu sehen in der großen Stadt, aber das erleuchtete leere Haus war so vollständig sichtbar bis zum untersten Geschoss, dass der Sinn dieser leuchtenden Fenster es sein musste, von dieser höher gelegenen Stelle bei dem kleinen Turm gesehen zu werden. Philo glaubte sich zu erinnern: Waren nicht alle Nächte, in denen das Haus erleuchtet war, solche stillen, klaren Nächte gewesen?

Alle rannten plötzlich auseinander, aber da, wo sie gestanden hatten, sah er einen seltsamen Feuerschein durch das Gras auf den Turm zulaufen. Er richtete sich halb auf, um das Wunder genauer zu sehen.

Dann – eine Säule aus Feuer stieg vor ihm auf.

Eine Welle aus Luft stieß ihn, hart wie Stein – ein Knall, der ihn bis in den Bauch traf. Er spürte den Stamm zittern, an dem er sich festhielt. Steine fielen vom Himmel, als ginge die Welt unter! Am Arm streifte ihn einer. Er war völlig taub, hatte aber einen schrillen Ton in den Ohren.

Der Turm, der gerade noch am Nachthimmel gestanden hatte, war verschwunden. Weg, einfach weg! Er war in die Luft geflogen und dann waren die Steine heruntergefallen, als fiele einem der Himmel auf den Kopf!

Philo zitterte und wartete hinter seinem Baum. Das Schrillen in seinen Ohren ebbte langsam ab. Nach einiger Zeit kamen die Gestalten, die er vor dem Knall gesehen hatte, wieder zum Vorschein. Sie gingen aufgeregt um die Reste des Turms herum.

Er konnte jetzt wieder besser hören, aber er verstand kaum etwas. »Besser als erwartet«, rief jemand.

Einmal hörte er eine dunkle Stimme: »Eindeutig bis in die Stadt – «

Die Lichter in dem leeren Haus waren verschwunden!